Rauschenbusch, August - Die Bedeutung des Fußwaschens Christi
Kommt und seht des Heilands Scheidescenen,
Wie Sein Herz voll Inbrunst wallt!
Seht Ihn an! der Liebe stilles Sehnen
Hüllt den Herrn in Knechtsgestalt.
Ihn, den ehrfurchtsvoll die Himmel grüßen,
Beugt die Liebe zu der Jünger Füßen.
Sinkt mit tiefgerührtem Sinn,
Sinkt vor Seiner Liebe hin!
Ja, Er liebt die Seinen bis ans Ende,
Wäscht sie gerne alle rein,
Streckt zu ihnen aus die heil'gen Hände
Reinigt sie, Sein Volk zu sein.
Herr und Meister, Du an den ich glaube!
Wasch' auch mich von jedem Erdenstaube;
Und an Lieb' und Demuth reich,
Mach' mein Herz dem Deinen gleich!
Durch die ganze heilige Schrift finden wir nicht nur sinnbildliche Reden, oder, wie man sie gewöhnlich nennt, Gleichnisse, sondern auch sinnbildliche Handlungen. Als der Heiland auf einem Esel in Jerusalem einritt, und das Volk Ihm als seinem Könige zujauchzte, Kleider über den Weg breitete und Palmzweige streute, sprachen die Pharisäer unter einander: Ihr sehet, daß ihr nichts ausrichtet; siehe, alle Welt läuft ihm nach. Sie nahmen die Sache so, wie sie von außen her sich ansah, als wolle Jesus sofort als Beherrscher des Landes auftreten. Allein so war's nicht gemeint; Er stellte bloß äußerlich das geistige Reich, das Friedensreich, dar, das er in den Herzen aufrichten wollte. Ebenso war die Verfluchung des unfruchtbaren Feigenbaumes eine sinnbildliche Handlung. (Matth. 21, 19.) Wer wird dem sanftmüthigen Heilande wohl Zorn, oder auch nur Unmuth gegen den unschuldigen Baum zur Last legen? Nicht dem Baume zürnte Er, sondern dem ungläubigen, verstockten Volke, das ungeachtet aller von Ihm, dem treuen Gärtner, angewandten Pflege keine rechtschaffene Früchte der Buße bringen wollte. Den verblendeten Leitern des Volks vor Allem zürnte Er, den Pharisäern, und das furchtbare Wehe, das Er kurz nachher in Worten über sie aussprach (Matth. 23.), zeigt Er hier, um seine Jünger darauf vorzubereiten, durch die That an. Des Feigenbaums Verdorren sollte den Jüngern zugleich Zeichen und Zeugniß davon sein, wie auch die Drohung wider Jerusalem: Siehe, euer Haus soll euch wüste gelassen werden!(Matth. 23,38.) gewißlich in Erfüllung gehen werde.
Daß in gleicher Weise die Fußwaschung, die der Heiland an seinen Jüngern verrichtete, eine sinnbildliche Handlung war, kann gar nicht bezweifelt werden. Die äußere Handlung und der dadurch geschaffte Nutzen, nämlich das Reinwerden ihrer Füße, hatte ja für die Jünger nur geringen Werth; es war ein Dienst, den irgend einer von ihnen seinen Mitjüngern hätte erweisen können. Die geistliche Wohlthat dagegen, die der Heiland durch den äußerlichen Dienst versinnbilden wollte, war von unendlichem Werthe, und Niemand, als nur der Heiland, konnte diesen Dienst allererst erweisen.
Um nun die Beschaffenheit und Art dieses Dienstes recht zu verstehn, wollen wir ohne Umschweif den Kern und Mittelpunkt der schönen Erzählung des Evangelisten Johannes in's Auge fassen. Wir lesen nämlich in seinem Evangelium (Joh. 13,6.), daß, als Jesus mit dem Wasserbecken zu Petrus kam, derselbe sprach: Herr, solltest Du mir die Füße waschen? Es dünkte ihn, dem Meister komme ein solcher Knechtesdienst, und dem Jünger die Annahme desselben nicht zu. Wie die Pharisäer beim Einzug Jesu in Jerusalem, so schaute er beim Fußwaschen nicht in die geistliche Bedeutung, die unter der äußern Hülle verborgen lag. Da war es denn ganz natürlich, daß dieselbe ihn befremdete. Der Heiland aber sprach zu ihm: Was Ich thue, das weißt du jetzt nicht; du wirst es aber hernach erfahren. Schon aus diesem einen Wort kann, wer es recht betrachtet, bald ersehen, daß es nicht bloß Selbsterniedrigung und dienende Liebe war, was der Heiland hier an den Tag legen wollte. Denn daß Er dies Beides übte, sah und wußte ja Petrus deutlich genug. Nein! etwas Andres lag zu Grunde, das Petrus noch nicht wußte, und jetzt auch noch nicht völlig wissen konnte, sondern erst späterhin. Was war dies Andere? Wir kommen dem Verständniß desselben näher durch das folgende Wort Jesu. Als Petrus, in sündlichem Eigenwillen, fortfährt: Nimmermehr sollst Du mir die Füße waschen! gibt ihm der Heiland die ernste, feierliche Erklärung: Werde Ich dich nicht waschen, so hast du kein Theil mit Mir! Da sehn wir also, dies Fußwaschen Jesu war dem Petrus nöthig, um selig zu werden, und nicht nur dem Petrus, sondern auch den andern Jüngern, und nicht nur jenen ersten Jüngern, sondern Allen zu jeder Zeit und an jedem Ort, die an Jesu Theil haben wollen. Wie das? Wir können uns doch nicht vom Heiland die Füße waschen lassen? Ja, wir können es, und wir müssen es, sonst haben wir kein Theil mit Ihm. Wer du auch sein magst, lieber Leser, wende nur das Wort, das der Heiland zu Petrus sprach, auch auf dich an. Laß dir's gesagt sein: Wird Jesus dich nicht waschen, so hast du kein Theil mit Ihm!
Petrus fühlte das große Gewicht, das in Jesu Worte lag. Aber vorschnell, wie er war, warf er sich auf einmal auf das Gegentheil seines vorigen Einwandes, und sagte: Herr, nicht die Füße allein, sondern auch die Bände und das Haupt! Da ertheilte ihm der Heiland die Antwort, die uns den Schlüssel zum Verständniß des Ganzen gibt, nämlich: Wer gebadet ist1), der bedarf nichts, als die Füße zu waschen, sondern er ist ganz rein; und ihr seid rein, aber nicht Alle. Es war also ein Unterschied zwischen dem Baden des ganzen Leibes und dem Waschen der Füße. Das Baden war den Jüngern schon früher zu Theil geworden; das Waschen sollte ihnen erst jetzt widerfahren.
Wann aber waren die Jünger gebadet worden? Etwa bei ihrer Taufe? Antwort: gebadet waren sie dabei allerdings, aber dies Bad hat Jesus hier nicht im Auge. Denn getauft war auch Judas, aber rein war er nicht; eben mit Beziehung auf ihn sprach ja Jesus: „Ihr seid nicht alle rein.“ (Joh. 13,11.) Nein, das Bad, das Jesus hier im Auge hat, das nicht die Zwölfe, sondern nur die Elfe empfangen hatten, das Bad, das allein rein macht, ist mit den äußern Sinnen nicht wahrzunehmen, sondern geschieht auf verborgene, wunderbare Weise am inwendigen Menschen. Wer empfängt denn dies Bad? Jeder, der da glaubet. Was für ein Wasser wird aber dabei gebraucht? oder was ist's sonst, das bei diesem Bade wirksam ist zur Reinigung? Das Wort ist's, das lebendige Wort des Heilandes, wie Er bald nachher zu den elf Jüngern sagt: „Ihr seid jetzt rein um des Wortes willen, das ich zu euch geredet habe.“ (Joh. 15,3.) Sein Gnadenwort war zu ihnen ergangen, Er hatte ihnen ihre Sünden vergeben, Er hatte sie als seine Jünger auf- und angenommen. Dadurch waren sie rein geworden, dadurch wird noch jetzt jeder rein, wer irgend rein wird. Prüfe dich, lieber Leser, ob auch du also rein geworden bist, ob auch an dir Jesu Gnadenwort kräftig geworden ist zur Reinigung deiner Seele. (Hebr. 9,14.)
Wenn also das Blut Christi auf eine Seele Gnade herabruft, und wenn die Seele die Kraft desselben im Worte sich durch den Glauben aneignet, so ist sie gebadet.
Die Hauptsache ist geschehen; nichts Andres bedarf sie hinfort, als sich die Füße waschen zu lassen. Denn hat Jemand gestern seinen ganzen Körper gebadet, so wird er es nicht der Reinlichkeit wegen für nöthig halten, sich heute wieder zu baden. Nur das Waschen der Füße wird er schon heute wieder bedürfen, im Fall er, (wie im Morgenlande geschah und zum Theil noch geschieht,) nicht Schuhe, sondern Sandalen an den Füßen trägt. So auch, wenn du gestern Vergebung der Sünden erlangtest und somit an der Seele rein wurdest, wirst du doch heute schon, zwar nicht Vergebung der vorigen Sünden, (denn die hast du schon erlangt, und die bleibt dir,) aber wohl Vergebung der heute wieder, sei's auch aus bloßer Unbedachtsamkeit, begangnen Sünden bedürfen. Die Wüste dieser Welt, durch welche nach Gottes Rath unser Pilgerlauf zum himmlischen Kanaan geht, ist allezeit staubig, und manchmal sehr schmutzig. Da werden denn, wenn nicht unser ganzer Mensch, so doch die Füße, das ist: derjenige Theil unsres Lebens und Wesens, der zunächst mit der Außenwelt in Berührung kommt, stets aufs Neue wieder uns rein. Der Heiland aber ist so überaus freundlich, daß, wie Er zuvor uns badete und von der Befleckung des früheren eiteln Wandelns nach väterlicher Weise reinigte, Er jetzt uns waschen will von den, durch Mangel an Vorsicht und Ernst auf's Neue geschehenen Befleckungen. Ein gottinniger Dichter sagt hievon:
Er wusch den Leib mir reine,
Am Abend dann alleine
Wäscht Er die Füße mir.
Zwar kann ich nur mich schämen,
Doch darf ich mich nicht grämen;
Mit Freuden, spricht Er, thu' Ich's dir!
Wie steht's mit dir, lieber Leser? Kennst du aus innerer Erfahrung diese tägliche Fußwaschung? Prüfest und erforschest du jeden Abend, wo und wie der Staub und Schmutz der Sünde den Tag über an dich gekommen sei? Und wenn du dich davon befleckt siehst, eilst du alsbald zu Jesus, daß er dir die Füße wasche? Wisse, es wird dir nichts helfen, wenn du denkst: ich bin einmal gebadet, ich habe Vergebung meiner Sünden empfangen, also bedarf ich nichts mehr. Freilich, nochmals gebadet zu werden bedarfst du nicht; aber daß du dir die Füße waschen, die täglich geschehenden Sünden täglich vom Heiland dir vergeben lässest, das ist unumgänglich nöthig. Denn „werde Ich dich nicht waschen,“ spricht Er, „so hast du kein Theil mit Mir.“
Wir gehen nun weiter. Nachdem der Heiland die bedeutungsvolle Handlung des Fußwaschens vollendet hat, gebietet Er seinen Jüngern, daß, wie Er ihnen die Füße gewaschen habe, so sollen sie sich unter einander die Füße waschen. Was will Er denn damit? Wir antworten: zunächst und vornehmlich eben dasselbe, was Paulus von uns fordert, da er sagt: Vergebet Einer dem andern, gleich wie Gott euch vergeben hat in Christo! (Ephes. 4,32.) Bedürfen wir selber täglich Vergebung vom Heilande, so sollen wir bereit sein, unsern Brüdern ebenfalls täglich, ja, in vorkommenden Fällen an Einem Tage siebenmal, zu vergeben. (Luk. 17,4.) Solches wiederholte Vergeben däuchte dem Petrus schwer (Matth. 18,21.), und ist auch heutzutage in gar manchen Fällen eine der schwersten Aufgaben und Proben, die ein Christ zu bestehn hat. Daher war es wohl der Mühe werth, daß der Heiland und die Wichtigkeit davon vor Augen stellte und zugleich uns dazu ermunterte, indem er seinen Jüngern die Füße wusch. Siehe, ruft Er dir damit zu, Ich muß dir so oft den Staub und Schmutz von deiner Seele abwaschen, und scheue das Lästige und Unangenehme dieser Arbeit nicht; willst du denn da dich nicht auch erbarmen über deine Mitsünder, wie ich mich über dich erbarmt habe? Ach, weise ihnen nicht ihrer beschmutzten Füße wegen die Thür, sondern bring' reines Wasser her und wasche ihren Schmutz hinweg!
Fragst du noch, was denn dies reine Wasser sei? Reinigende Worte sind's, Worte des Ernstes und doch zugleich Worte der Liebe, geschöpft aus dem reinen Borne des Wortes Gottes. Dem Vergeben muß aber das Ermahnen und Strafen vorangehn, wie der Heiland sagt: „So dein Bruder an dir sündiget, so strafe ihn, und so er sich bessert, vergib ihm.“ (Luk. 17,3.) Ach, wie ganz anders würde es unter den Christen stehn, wie viel mehr Liebe würde unter ihnen herrschen, wenn dies brüderliche Ermahnen und Strafen so treulich geübt würde, wie vor Zeiten im Morgenlande an werthen Gästen die Fußwaschung! Wohlan, lieber Leser, kommt ein Bruder zu dir und du findest Staub und Schmutz an seinen Füßen, du hast etwa von ihm etwas Schlechtes gehört, oder hast sonst etwas gegen ihn, so sag's ihm freimüthig, doch freundlich in's Angesicht, und versuch's, ob du ihn nicht rein waschest. Kommt dein Bruder aber nicht zu dir, ei so gehe du zu ihm, und sag' ihm ohne Umschweif: Lieber Bruder, mich däucht es nöthig zu sein, daß ich dir einmal die Füße wasche; bist du's zufrieden, so will ich gleich an's Werk gehn! Lächelt er dann und sagt: Nun ja, mach' nur! so holst du das reine Wasser der Wahrheit herbei, bückst dich in Demuth als Einer, der auch noch Fehler an sich hat, und richtest in liebe deine Sache aus. Nimmt er's an, so bist du und er rein, wie geschrieben steht: „Hört er dich, so hast du deinen Bruder gewonnen.“ (Matth. 18,15.) Nimmt er's nicht an, so befiehl ihn dem Heilande. Vielleicht gelingt Dem noch, was dir nicht gelang. Denn kann Er es mit dem Wasser allein nicht ausrichten, so nimmt er noch die ätzende Seife der Leiden und Trübsale hinzu, und so kommt doch endlich das Reinigungswerk zu Stande. (Mal. 3,2.)
Aber, fragst du, sollen wir nicht auch buchstäblich und leiblich den Brüdern die Füße waschen? Versteht sich! Thu's ja mit allem Fleiß, so oft und wann irgend dein Bruder es bedarf! Und begnüge dich nicht bloß mit dem Waschen; sondern wenn er es bedarf und du es kannst, so kleide ihn, speise ihn, tränke ihn, beherberge ihn, besuche ihn, so wird der Heiland einst zu dir sagen: Was du gethan hast einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das hast du Mir gethan! (Matth. 25,40.) Nur sei viel mehr darauf beflissen, der Seelennoth Anderer abzuhelfen, als ihrer leiblichen Noth. Denn Seelennoth ist die schwerste Noth, und Seelenliebe ist die Seele der Liebe, das ist: der edelste und werthvollste Theil der Liebe. Sodann gedenke, wenn du andern leibliche Hülfe erzeigst, daß der Heiland kein Gepränge liebt und kein öffentliches zur Schau tragen deines Gehorsams gegen Ihn. Die Posaune vor sich her blasen zu lassen und öffentlich in der Schule, (das ist: im Versammlungshaus) sich der muthig und dienstfertig zu beweisen, dazu waren die Pharisäer auch bereit. Aber daheim im Stillen, bei allerlei Vorkommenheiten des täglichen Lebens, dienende Liebe zu üben nach Christi Vorbild, das können nur die, welche Christi Geist erfüllt. Gott gebe, lieber Leser, daß du und ich aus Gnade zu dieser kleinen Zahl gehören mögen! Amen.