Quandt, Emil - Die Ruhestätten des Menschensohnes - 1. Das Vaterhaus in Nazareth.

Quandt, Emil - Die Ruhestätten des Menschensohnes - 1. Das Vaterhaus in Nazareth.

Ev. Lukas 2,39.40.
Und da sie Alles vollendet hatten nach dem Gesetz des Herrn, kehrten sie wieder in Galiläa zu ihrer Stadt Nazareth. Aber das Kind wuchs und ward stark im Geist voller Weisheit, und Gottes Gnade war bei ihm.

Nach Nazareth wandern wir zuerst, in dasjenige Haus, in welchem unser Heiland nach seiner Geburt in Bethlehem und nach seiner Flucht gen Ägypten die erste und die längste gastliche Aufnahme gefunden hat. Es ist das Haus Josephs, des frommen Zimmermanns. Es bedarf vielleicht vorweg der Verteidigung, wenn wir das Haus Josephs in Nazareth das Vaterhaus des Menschensohnes nennen; es könnte scheinen, als ob dieser Name zu hoch gegriffen sei. Denn wenn der Heiland selbst von seinem Vaterhaus spricht, so hat er gar andre Stätten im Sinne als das Häuslein des Zimmermanns in Nazareth. Von dem Himmel spricht er, wenn er sagt: „In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen“; und auf Erden hat nur der Tempel zu Jerusalem, dem unsere nächstfolgende Betrachtung gelten soll, die große Ehre, von ihm ausgezeichnet zu werden durch das Wort: „Muss ich nicht sein in dem, das meines Vaters ist?“ Allein so wahr es ist, dass Jesus Christus wahrhaftiger Gott ist, vom Vater in Ewigkeit geboren, von dem Vater geboren, dessen Thron im Himmel ist und dessen Tempel in Jerusalem stand; so hat doch nicht bloß die blinde, ungläubige Welt den Herrn der Herrlichkeit als einen Sohn Josephs von Nazareth bezeichnet und darum dem Mittler noch über sein Kreuz auf Golgatha geschrieben: Jesus Nazarenus; sondern es ist auch für gläubige Gottesmenschen unverfänglich, dem Gatten der Gebenedeiten unter den Weibern, dem männlichen Pfleger des göttlichen Kindes, den Ehrennamen eines Vaters des Menschensohnes zu geben. Denn Maria selbst spricht zu ihrem Kind: „Mein Sohn, warum hast Du uns das getan? Siehe Dein Vater - damit meint sie Joseph und ich haben Dich mit Schmerzen gesucht!“ Das Geheimnis der göttlichen Geburt des Menschensohnes war Maria und Joseph bekannt, aber dem Knaben blieb es verborgen in heiliger Zartheit, bis es sich selber ihm offenbarte beim Tempelgang. Bis dahin wuchs er auf als Josephs und Mariens Sohn, und Josephs Haus war ihm das Vaterhaus.

Es ist nicht viel, was uns die Heilige Schrift über dasjenige Haus mitteilt, in welchem des Menschen Sohn die längste Zeit seiner irdischen Wallfahrt hindurch gewohnt und geweilt hat. Menschlicher Vorwitz hat mit allerlei Legenden den geheimnisvollen Zeitraum der Kindheits- und Jugendgeschichte des Herrn ausgefüllt. Die Schrift aber führt uns diese Zeit fast wie einen verschlossenen Garten vor, und es sind nur wenige und kleine Öffnungen, die die Evangelisten brechen. Der Evangelist Lukas berichtet verhältnismäßig noch das Meiste über Nazareth, die andern Evangelisten ergänzen ihn nur hie und da. Es wird zu den Beschäftigungen der Heiligen im Lichte gehören, das ganze reiche Gewebe des Lebens des Sohnes Gottes im Fleisch auch in seinen ersten, zartesten Goldfäden anzuschauen, bewundernd zu betrachten, ehrfurchtsvoll anzubeten; so lange wir unter dieser Sonne wallen, ist alle unsere Erkenntnis Stückwerk, auch unsre Erkenntnis von dem Leben Jesu Christi auf Erden und sonderlich die von seinem jugendlichen Leben. Immerhin aber erfahren wir durch die beiden an die Spitze dieser Betrachtung gestellten Lukasverse und durch die wenigen andern zerstreuten Nachrichten der Evangelisten über das Vaterhaus des Menschensohnes in Nazareth genug, um in der andächtigen Betrachtung desselben Erbauung für unsere inwendigen Menschen unter Gottes Gnade zu gewinnen. Sowohl das Haus des Kindes als auch das Kind im Hause gibt uns mancherlei zu denken und zu bedenken.

Da Maria und Joseph Alles vollendet hatten nach dem Gesetz des Herrn, das heißt, da sie als fromme und gottesfürchtige Israeliten das wunderbare Kind am achten Tage beschnitten und am vierzigsten dem Herrn, der es gegeben, geweiht hatten; und da so ergänzen wir aus dem Evangelium Matthäi sie mit dem Kinde um Herodis willen nach Ägyptenland entwichen und als Herodes gestorben war, auf Gottes Befehl wieder in das Land Israel gekommen waren, da kehrten sie wieder in Galiläa zu ihrer Stadt Nazareth, auf dass, so lesen wir wieder bei Matthäus, erfüllt würde, das da gesagt ist durch die Propheten: Er soll Nazarenus heißen. „Er soll Nazarenus heißen“ so hatten die heiligen Seher Israels, die Aussager der göttlichen Ratschlüsse, geweissagt von dem, der da kommen sollte ein Licht zu erleuchten die Heiden und zum Preise seines Volkes Israel. Aber das steht gar nicht im Alten Testament, so witzelt frech und spöttisch der gelehrte Unglaube; wohl redet Micha von Bethlehem Ephrata, dass dort geboren werden sollte der Christus seines Volks; aber dass er dreißig Jahre lang sein irdisches Vaterhaus in Nazareth haben sollte, davon redet auch nicht ein einziger der Propheten. O was muss doch die Heilige Schrift sich für Unbilden gefallen lassen von den klugen Söhnen dieser Zeit, die statt der Besserung zu Gott im Glauben allerlei törichte Fragen aufbringen, wollen der Schrift Meister sein und wissen nicht, was sie sagen oder was sie sehen. Allerdings der Name des Städtleins Nazareth wird im Alten Testament an keiner einzigen Stelle genannt; das Städtlein hieß mit Recht Nazareth d. i. schwaches Reislein, denn es war ganz klein und namenlos und unbedeutend, so tief verachtet bei den Juden, dass auch ein Nathanael fragen konnte: Was kann von Nazareth Gutes kommen? Aber eben das hatten alle Propheten geweissagt, dass das Leben des Messias auf Erden von Anfang an in die tiefste Niedrigkeit werde gehüllt sein. Davon hatte Jeremias gezeugt, dass der große Davidssohn als ein armes Gewächs aufsprießen werde; so hatte auch Sacharia gesprochen: „Siehe, der Mann, der des Herrn Tempel bauen wird, heißt Zemah, das ist, ein armes Reislein; und der Prophet Jesaias Kap. 11,1. hatte verkündigt, dass der Messias als ein kleiner Wurzelsprössling hebräisch Nezer, dasselbe Wort wie Nazareth, als ein Nezer aus dem abgehauenen Stamme Isais aufschießen würde. So hatten ja denn die Propheten allerdings nach Geist und Buchstaben geweissagt: „Er soll Nazarenus heißen;“ und der unscheinbare Lebenslauf des Menschensohnes in dem verborgenen Zimmermannshaus in seiner verachteten Vaterstadt Nazareth war die wunderbare Erfüllung dieser uralten Weissagungen.

Ein Trost und eine Weisung in Beziehung auf die unscheinbaren Existenzen auf Erden. Wohl mögen die Sprossen hochadliger Geschlechter es als eine Gnade preisen, wenn sich mit ihren Jugenderinnerungen das Andenken an hohe väterliche Hallen und der Rückblick auf eine glorreiche Ahnenreihe verwebt; und wenn die Gewaltigen und gnädigen Herren dieser Welt mit solchen Erinnerungen im Herzen denken und sprechen, wie jener deutsche Kaiser Maximilian, so ist es wohlgetan. Demselben schrieb nämlich einst ein Spötter an eine Wand seines Schlosses: Als Adam hackt' und Eva spann, wo war damals der Edelmann?“ Der Kaiser las es und schrieb darunter: „Ich bin ein Mann wie ein andrer Mann, nur dass mir Gott der Ehren gann1).“ Aber so unverwehrt es ist, sich dankbar zu freuen hohen und edlen Ursprungs, so widerchristlich und widerwärtig ist jede hoffärtige Erhebung über Menschen dunkler und niedriger Existenz. Seitdem der Sohn Gottes, der Herr aller Herren, ein Nazarener geworden ist, ist auch die Armut geweiht, auch die Niedrigkeit geadelt. Hast du deine Kinderträume nicht im Ahnensaale eines väterlichen Schlosses geträumt, sondern in einem Bürgerhaus oder in einer Tagelöhnerhütte; hast du deine Jugendspiele nicht im Schatten uralter Stammbäume gespielt, sondern im namenlosen Gärtlein unbekannter Eltern: auch du bist ein Mann, wie ein andrer Mann, und wenn du an das Kind von Nazareth glaubst, bist du vor Gott und seinen Engeln sogar ein sehr vornehmer Mann, ein Heiliger und Geliebter Gottes, ein Auserwählter des Herrn. Es hatte vor Menschen nicht großen Glanz das schwache Reislein Nezer in dem verachteten Nazareth, der Reisleinstadt und doch war dieses Reislein das Kind, dem alle Engel dienen, der Sohn, der alle Dinge trägt mit seinem kräftigen Wort. So leben Manche ihre Jugendzeit, ihre Lebenszeit dahin, ungenannt und unbekannt, ohne Glanz und ohne Schein; und doch wenn sie durch das Blut des Nazareners mit dem großen Gott versöhnt und in einfältigem Glauben an seinen Namen Kinder des Höchsten geworden sind, dann sind sie Adlige der Ewigkeit, auf denen das Wohlgefallen des Allmächtigen ruht, an denen die Engel Gottes ihre Lust und Freude haben. Nazarener wohl ist das ein Name der Niedrigkeit auf Erden, aber es ist zugleich ein Name der Herrlichkeit im Himmel. In den Himmel kommen nur solche Erdensöhne, die Nazarener sind, voran der große Nazarener Jesus Christ, Ihm nach die an ihn glauben und in aller seiner Niedrigkeit seine Herrlichkeit erkennen. Auch die Fürsten und Gewaltigen dieser Erde, wenn sie an die Himmelstür klopfen, erhalten nur dann Einlass, wenn sie alle ihre menschliche Herrlichkeit draußen lassen und als arme Nazarener kommen. Was kann aus Nazareth Gutes kommen? Der ewig gute Sohn Gottes und die Schar der durch sein Blut Erlösten.

In Nazareth stand Jesu Elternhaus. Es war ein armes Haus, das ist wahr, aber nimmermehr ein Bettlerhaus; es ist ebenso unschicklich, als unbiblisch, wenn man des Menschen Sohn einen Bettler nennt. Es ist unschicklich; hatte Gott selbst den Israeliten durch das Gesetz Mosis geboten: „Es soll allerdings kein Bettler unter euch sein“ 5 Mose 15,7., so wäre es gegen alle göttliche Würde gewesen, wenn Gott seinen eigenen eingeborenen Sohn als Bettler unter Israel hätte auftreten und wandeln lassen; wir aber dürfen Christum nicht ärmer machen, als Gott selbst ihn gemacht hat. Es ist unbiblisch; denn Joseph war ein Zimmermann, also ein ehrsamer Handwerker, der mit der Arbeit seiner Hände sich und seine Hausgenossen redlich ernährte und versorgte. Der Betrieb eines Handwerks aber war unter Israel nicht einmal etwas Erniedrigendes; die angesehensten Schriftgelehrten trieben damals zu ihrem Lebensunterhalt ein Handwerk. dass Alle, denen von der Stirne heiß rinnen muss der Schweiß, die mit ihrer Hände Arbeit sich und die Ihrigen durch die Welt bringen, bedächten, welche Glorie Gott der Herr über den ganzen Handwerkerstand ausgegossen hat, da er seinen eingeborenen Sohn im Fleisch für die Zeit seiner Zurüstung zu seinem Mittleramt gerade einem Handwerkerhaus anvertraut hat! Wie wunderbar ist das doch: gerade an demselben Stand, an welchem sich das bittere Wort von 1 Mose 3 am buchstäblichsten erfüllt hat: „Im Schweiß deines Angesichtes sollst du dein Brot essen!“ gerade an diesem Stande hat sich auch das süße Wort von 1 Mose 3, das Wort vom Weibessamen, der der Schlange den Kopf zertreten sollte, am buchstäblichsten erfüllt; von einem Weib aus dem Handwerkerstande ist Christus geboren, und in einem Handwerkerhaus ist der erhabene Zögling Gottes auferzogen, ja wohl selbst zum Handwerk angehalten worden. Wahrlich es ist wahr, was einmal ein alter Gottesgelehrter gesagt hat: Es gibt keinen besseren Beweis für die Göttlichkeit der Heiligen Schrift als den, dass Alles so schön zusammenstimmt.

Wir gedachten der Stadt, in der das Vaterhaus des Menschensohnes stand, und des Standes, in dem seine Eltern lebten; aber wie sehr Umgebung und Lebensverhältnisse für die Entwicklung des Kindes von Einfluss sind, so ist doch das, was im Wesentlichen das Vaterhaus zum Vaterhaus macht, nicht die Lage, weder die äußere, noch die innere, sondern das sind die Eltern selbst, das sind Vater und Mutter nach ihren persönlichen Eigentümlichkeiten, vor Allem nach ihrer persönlichen Stellung zum ewigen Gott. Ob Vater und Mutter Glauben haben oder Unglauben, Liebe oder gleichgültiges Wesen, Hoffnung oder Resignation; ob sie nach den Geboten Gottes oder nur nach den Geboten des Anstandes leben, das gibt dem Vaterhaus seine besonderste Eigentümlichkeit, die sich dem Kinde als Erbteil aufprägt. Das ist die ärmste Armut auf Erden, und ich weiß kein schmerzlicheres Leid, als wenn ein Menschenkind ein Vaterhaus hat, in dem das Heilige verleugnet oder gar verlästert wird, in dem niemals die Bibel gelesen, in dem niemals ein Psalm gesungen wird, in dem sich nie die Knie beugen zum Gebet und nie die Hände sich falten zum Dank. Solch ein Vaterhaus ist, wenn es auch eine noch so lächelnde Außenseite hätte, ein Räuberhaus, in dem das arme junge Blut bestohlen wird, betrogen wird um Gefühle und Eindrücke von unersetzlichem Werte. Verheiratet zu sein, eine Familie zu haben, ist eine sehr ernste und heilige Sache, und es ruht auf denen, die den Vater- und Mutternamen führen, eine Verantwortung von ewiger Bedeutung. Die es nicht um ihrer selbst willen wähnen nötig zu haben, sollten um ihrer Kinder willen die Bibel, den Heiland, die Frömmigkeit ins Hauswesen aufnehmen; sonst möchten einst ihre Kinder im Gefühl ihres Elends ihnen über ihrem Grab fluchen und sprechen: Man hat mich in meinem Vaterhaus viel Dinge gelehrt, aber nicht das Eine, was not ist; man hat mir Gold und Silber mitgegeben, eine Hand voller Sand, Kummer der Gemüter, aber nicht den Schatz der Gottseligkeit; man hat mich schon in den Morgenstunden meines Lebens um meinen Glauben gebracht, wo soll ich ihn nun finden? Allen christlichen Eltern zum leuchtenden Vorbild steht das Haus Josephs und Marias da. Das Vaterhaus des Menschensohnes war ein frommes Haus. Es hat ja, ganz abgesehen von biblischen Nachrichten über Joseph und Maria, der Schluss seine gute Berechtigung: Das Haus, dem Gott der Herr seinen Sohn anvertraute, muss das gottseligste und gottvertrauendste Haus gewesen sein von allen Häusern in der weiten Welt; die Hütte, in welcher die Knospe des Messias sich zur Blume entfaltete, muss diejenige Hütte gewesen sein, in der sich alle messianische Sehnsucht und Ahnung, die je durch israelitische Herzen rauschte, wie in ihren Brennpunkt zusammenfasste. Aber wir haben auch das unmittelbare Zeugnis der Schrift für die Frömmigkeit Josephs und Marias. Dass sie Alles nach dem Gesetz vollendeten, ist ein Lob, jenem ähnlich klingend, das die Schrift über das priesterliche Ehepaar Zacharias und Elisabeth ausspricht, wenn sie von demselben sagt: Sie wandelten in allen Geboten und Satzungen, nämlich der alttestamentlichen Gerechtigkeit, untadelig. Joseph gehört zu denjenigen Gestalten der heiligen Geschichte, die etwas Henochartiges haben: geräuschlos treten sie auf, führen ein gottseliges Leben in aller Stille und Ehrbarkeit und geräuschlos verschwinden sie wieder. Wie jener berühmtere Joseph des Alten Testamentes, so erhält auch dieser neutestamentliche Joseph seine Offenbarungen durchweg in Träumen, ein Zeichen eines in Einfalt, Demut und Lauterkeit zu Gott gewandten Gemüts. Was in den Träumen ihm durch Gott und seinen Engel gesagt wird, das führt er aus mit hohem Glaubensmut; der Grundsatz seines Lebens war: Was Gott gebeut, das muss geschehn; das Andre wird der Herr versehn. Die Hochachtung und zarte Fürsorge für den Ruf seiner Verlobten, die heilige Schonung des Weibes, die er übte, kennzeichnen ihn nicht nur als einen gerechten, sondern auch als einen milden Mann. Dass er später in Jerusalem den Jesusknaben mit Schmerzen sucht, beweist große Liebe und herzliche Sorge, die er für das wunderbare Kind seines Hauses hatte: Wollte Gott, die christlichen Männer unserer Tage wandelten in den Fußtapfen dieses gerechten, dieses milden, dieses zärtlich liebenden Mannes! Wir haben in der heutigen Christenheit genug berühmte Männer, genug gelehrte Männer, mehr als genug geistreiche Männer; aber der Männer, die voll heiliger Ehrfurcht vor dem allmächtigen Gott, voll geweihter Milde gegen ihre Gattinnen, voll echter Liebe zu ihren Kindern ihre Tage verleben, sind nicht allzu viele und doch gibt der eigne Weinstock und Feigenbaum, so klein er auch fein mag, dem Mann viel labenderen Schatten, als die vielgerühmten Lorbeerbäume der Außenwelt.

Von größerem Einfluss noch auf das kindliche Herz, als der Vater, ist die Mutter. Wir kennen die Frömmigkeit der Mutter Immanuels aus ihren eigenen Herzensergießungen. Und wenn sie weiter nichts gesagt hätte und wir weiter nichts von ihr wüssten als jenes Wort, das sie zu dem Engel sprach: „Ich bin des Herrn Magd; mir geschehe, wie du gesagt hast“, wir würden genug von ihr kennen, um sie als eine fromme, Gott fürchtende und gottinnige Seele zu preisen; dies Eine Wort aus ihrem Mund: „Ich bin des Herrn Magd“, es kennzeichnet sie hinlänglich als Protestantin gegen all die römische Vergötterung, die mit ihr getrieben wird. Es ist ihr nicht im Traume eingefallen, dass man sie je im Wahne zu einer Königin des Himmels, zu einer gefeierten Gnadenspenderin machen. könnte; sie ist des Herrn arme, demütige Magd. Aber wir haben außer diesem Wort noch ihren herrlichen Lobgesang, in den sich auf den Gruß ihrer Freundin Elisabeth ihr volles Herz ergoss; er zeigt uns in ihr eine hochbegabte Dichterin und Prophetin, die den Sehern und Psalmensängern des alten Bundes ebenbürtig zur Seite steht, zeigt uns zugleich, dass sie die goldne Kunst, den Herrn der Herrlichkeit auf Psalter und Harfe zu preisen, aus der andächtigen Versenkung in die Heilige Schrift gelernt hat. Noch größer aber als dieser ihr volltönender Lobgesang ist ihr Schweigen in der Heiligen Nacht; während die Engel jauchzen und die Hirten jubeln, behält und bewegt die Mutter des Welterlösers schweigend, was von ihm gesagt wird. Wir werden ihr im Tempel von Jerusalem und im Hochzeitshaus von Cana wieder begegnen und sie dort auch als eine arme Sünderin voller Gebrechen und Schwächen kennen lernen, aber wir werden ihr auch nach Allem, was die Schrift von ihr berichtet, das Zeugnis nimmermehr verwehren können, dass unter allen Sünderinnen dieser armen Erde keine aufgekommen, die so fromm und gottinnig gewesen ist, als Maria von Nazareth. Ach, dass die Mütter in der Christenheit unsrer Tage sich so in die Bibel hineinlesen und hineinleben möchten, wie Maria; dass sie sich bei Gnadenerweisungen in ihrem Familienleben so tief unter die Hand des Allbarmherzigen beugen möchten, wie Maria; dass sie dem Herrn singen und spielen möchten, wie Maria, und es, auch wenn sie hochgeborne Frauen find, wie sie ihren höchsten Ehrentitel sein ließen: „Ich bin des Herrn Magd“, so würden von ihnen Ströme des lebendigen Wassers fließen auf ihre Kinderstube und damit auf die Welt; denn aus der Kinderstube wird die Welt regiert, und gläubige Mütter sind die Fürstinnen der Erde! ein seliges Haus, das Zimmermannshaus von Nazareth, das unter allen Häusern des gelobten Landes als das erste des Menschen Sohn aufgenommen hat! Wo das Evangelium von Christo in aller Welt gepredigt wird, da soll man auch predigen von dem Vaterhause Jesu Christi, von dem Hause des frommen Joseph und der gottinnigen Maria.

Aber das Kind - so fährt der Evangelist Lukas fort, nachdem er von Nazareth geredet hat. Wir haben das Haus des Kindes betrachtet, betrachten wir nun das Kind des Hauses. Gilt es schon von den Kindern im Allgemeinen, dass sie kleine Majestäten sind, nun was sollen wir von dem Kind des Hauses in Nazareth sagen, von dem Kind, zu dem wir sprechen: Du bist ja nicht ein Sünder, wie wir und unsre Kinder, von Missetaten weißt Du nicht!? Wahrlich dieses Kind in Nazareth ist nicht eine kleine, sondern eine große Majestät; und ehe wir die Majestät dieses Kindes mit unserm andächtigen Geist näher betrachten, wird es geboten sein, vor derselben im Staub anzubeten und zu sprechen: O Majestät, wir fallen nieder; zwar Du bedarfst nicht unsrer. Lieder, uns ziemt und nutzt Dein Lob so sehr. Zu Deinem Lob sind wir geboren, so teu'r erkauft, so hoch erkoren, o Seligkeit, Dir geben Ehr'! Zu Deinem Lobe nur ist alle Kreatur. Seligs Wesen, wir kommen dann und beten an, in Geist und Wahrheit sei's getan!

Aber das Kind - so sagt Lukas. Alle andern Kinder, wie und wo auch immer sie aufwachsen mögen, sei es als Rosen in berühmten Gärten, sei es als Veilchen in unbeachteten Tälern, entwickeln sich nach Leib und Seele von Stufe zu Stufe, in allmähligem Fortschritt; da ich ein Kind war, sagt Paulus, und es gilt für Alle, redete ich wie ein Kind und war klug wie ein Kind und machte mir Gedanken wie ein Kind; da ich aber ein Mann ward, tat ich ab, was eines Kindes war. Aber dies Kind!? Dürfen wir auch dieses einzigartige Kind, das wir bekennen als das Ebenbild des göttlichen Wesens und den Abglanz ewiger Herrlichkeit, dürfen wir auch dieses Kind uns denken als ein wahres Kind nach Kinderart? Gewiss wir dürfen es, wir müssen es, nur dass wir alle Hemmungen der Sünde von diesem Kindesleben meilenweit wegzudenken haben; denn die Schrift schreibt nicht nur von dem Leben Christi im Allgemeinen, dass er gleichwie ein andrer Mensch ward und an Gebärden d. i. an seiner ganzen äußeren Erscheinung als ein Mensch erfunden ward, sondern auch insbesondere von seinem Kindheitsleben, dass das heilige Kind wuchs, stark im Geiste ward voller Weisheit, den Eltern untertan war und Gottes Gnade bei sich hatte.

Das Kindlein, das empfangen war von dem heiligen Geist und geboren von der Jungfrau Maria, wuchs. Der unmündige Säugling, in dem die Fülle der Gottheit leibhaftig wohnte, nahm zu an Größe und Kräften des Leibes; aus dem Säugling wurde ein Knabe, aus dem Knaben ein Jüngling, bis dann aus dem Jüngling der Mann wurde, der da auftrat und predigte: Kommt her zu mir Alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken. Als wahrhaftiger Mensch vom Weib geboren ist er nicht bloß unter das Gesetz Mosis, sondern auch unter das Gesetz des leiblichen Werdens und Wachsens getan, nach dem aus den Keimen, die in der kindlichen Hilflosigkeit verborgen liegen, in stetiger Zunahme die Jünglingsstärke und Manneskraft hervorblüht. In solche Tiefe stieg der Sohn, Gott Lob, wir leben jetzt davon. Wir sollen aber also davon leben, dass, so wenig der Herr Jesus ein Kind geblieben ist, so wenig wir selber Kinder bleiben, sondern vielmehr wachsen im Glauben, bis wir mit allen Heiligen ein vollkommener Mann werden, der da sei in dem Maß des vollkommenen Alters unsers Heilandes Jesus Christus.

Das heilige Kind wuchs nicht nur, es ward auch stark im Geist, voller Weisheit. Es ist eine unklare und unbiblische Frömmigkeit, die den Herrn Jesum zwar dem Leib nach, aber nicht dem Geist nach das Kindes- und Knabenalter durchleben lässt. Es ist ja wahr, in ihm lagen verborgen alle Schätze der Weisheit und Erkenntnis; er hatte sie mitgebracht aus jener Herrlichkeit, die er bei dem Vater hatte, ehe denn die Welt war. Dennoch hat Er sich also entäußert und erniedrigt, dass er in wahrhaftiger Wirklichkeit den Traum der ersten schlummernden Kindheit auch geträumt hat und aus diesem zarten Schlummer des Geistes nach aller Menschen Weise langsam und allmählig erwacht ist. Der Glanz der Herrlichkeit Gottes verlor sich in das geheimnisvolle Dunkel der Keime des menschlichen Geisteslebens, um aus diesem Dunkel schrittweise herauszuknospen, hinanzublühen zu gottmenschlicher Geistesklarheit. Das Kind des Hauses von Nazareth hat auch das „Abba, lieber Vater“, müssen stammeln lernen, wie wir und unsre Kinder; es hat auch müssen auf seiner Mutter Schoß sitzen und ihren Erzählungen lauschen von alle dem, was Gott im Alten Testament manchmal und mancherlei Weise geredet hat zu den Vätern durch die Propheten. Und vielleicht - wenn die Mutter einmal dem heiligen Kind erzählte von dem Opfer Isaaks, wie sie den Berg Morija hinaufstiegen, der Erzvater und sein einiger Sohn, den er lieb hatte, und wie Abraham das Holz auf den Altar legte und seinen Sohn Isaak band und denselben oben auf das Holz legte; und wenn dann die Stimme der Mutter etwa mitten im Erzählen stockte, und sie ihren einigen Sohn, den sie lieb hatte, mit tränenumflortem Auge wie forschend anschaute: dann hat das wunderbare Kind etwa mit seinem quellenklaren, himmelstiefen Auge die Mutter wieder angeschaut und in heiliger Einfalt gesprochen: Mutter, ich würde dem Vater auch zum Opfer stille halten! Oder das Kind ist mit seiner Mutter auch am Sabbat Nachmittag durch die sprossenden Gefilde Nazareths gewandelt, und wenn Maria ihm dann etwa die schönen Lilien auf dem Feld zeigte, dann hat das Kind vielleicht seine Hände gefaltet und gesprochen: Meine Mutter, auch Salomo, von dem du mir so viel erzählt hast, auch Salomo in aller seiner Herrlichkeit kann nicht bekleidet gewesen sein, wie dieser Lilien eine. Doch wer will das kündlich große Geheimnis des geistigen Wachsens und Reifens des Menschensohnes ausreden? So viel lehrt der bedeutungsvolle Ausdruck der Schrift: „Das Kind ward voll Weisheit“ allerdings, dass aus dem heiligen Kind ein ganz besonderes Sinnen und Ahnen hervorgeleuchtet hat. Spricht doch auch schon aus frommen Kindern sündiger Abstammung eine Stimme der Wahrheit und der Klarheit, dass es uns berührt wie der Klang einer anderen Welt und die tiefsten Seiten unserer inwendigen Menschen unter solchem Kindeswort erzittern. Denn es gibt noch heute Inspirationen des Heiligen Geistes, nicht zwar bei sogenannten neuen Aposteln, wohl aber bei frommen, evangelischen Kindern; was nicht der Verstand der Verständigen sieht, das ahnt in Einfalt ein kindlich Gemüt. Wie mag doch nun in der Seele des Kindes von Nazareth das Ahnen des Höchsten und Tiefsten in Wort und Wandel hindurchgeklungen sein! Vor allem und in Allem musste aus seinem kindlichen Wesen hervorblitzen, dass er ohne Sünde war; ach trägt bei uns Sündern durch die Sünde auch der Himmel der Kindheit ein nächtliches Gewand, so erhebt sich das Kind Jesus an diesem nächtlichen Himmel wie eine stille Leuchtkugel in lichter Pracht.

Das Kind war den Eltern untertan, so berichtet uns die Heilige Schrift weiter von dem Jesusknaben. Die Demut des kindlichen Gehorsams, hat Einer irgendwo gesagt, war der Boden, aus dem die Himmelsblüte dieses einzigen Lebens erwuchs. Trotz aller seiner Ahnungen, trotz aller seiner Sehnsucht bewegte sich das Kind von Nazareth in den gemessenen Schranken demütiger Kindespflicht und ließ darin allen Kindern der Christenheit ein Vorbild, dass sie sollen nachfolgen seinen Fußtapfen und das große Gebot lieben und üben lernen, das so selige Verheißung hat: Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren. Es sollen aber nicht bloß die kleinen Kinder von dem Jesuskind lernen, sondern auch die großen Kinder: erwachsene Söhne und Töchter, die das Glück genießen, noch ein Vaterhaus zu haben, wenn sie auch in der Welt schon Männer wären und Frauen, im Vaterhaus dürfen sie doch nichts als Kinder sein. Denn im Vaterhaus darf es nur Eltern geben und Kinder; im himmlischen Vaterhaus wird es ebenso sein, Ein Vater über Alles, was da Kinder heißt, und um seinen Thron geschart Alle, die da Kinder sind durch Jesum Christ.

Gottes Gnade war bei dem Kind Jesus; so bezeugt endlich noch die Schrift. Was Gott der Herr später in wunderbarer Weise vom Himmel herab zu dreien Malen über seinen Sohn ausgesprochen hat: „Das ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe,“ das offenbarte sich schon zuvor in stillerer Weise im Vaterhaus an dem Herrn Jesu. Es ruhte auf dem Haupte des Kindes von Nazareth Gottes Wohlgefallen und Gottes Segen von Tag zu Tage in immer herrlicherer Entfaltung. Es steht auch geschrieben, dass der holde Knabe Gnade bei den Menschen fand; er war in ihren Augen lieblich anzuschauen, und sie freuten sich an ihm. Es wird uns von alten Schriftstellern berichtet, und es klingt sehr glaubwürdig, dass die Einwohner von Nazareth, wenn sie gegangen wären, das Kind Marias zu besuchen, die Rede geführt hätten: „Lasst uns zur Freundlichkeit gehn!“ Im Abbild wiederholt sich das noch heute; jedes Haus, in welchem Jesus Christus wohnt, wird durchweht von Gnade und Friede, Freude und Freundlichkeit. dass es alle Menschen wüssten, wie unzertrennlich Jesus und die Gnade, die Gnade und der Herr Jesus sind! Vielen unsrer Häuser fehlt der Herr Jesus, und darum fehlt ihnen auch die Gnade; in andern Häusern ist er zwar ein Gast, aber ein seltner, darum kann auch die Gnade in ihnen nicht festen Fuß fassen; Jesus muss in unsern Häusern wohnen, wohnen und wachsen, dann wird in ihnen, gleichwie in jenem Zimmermannshaus in Nazareth auch die Gnade wohnen und wachsen und mit der Gnade der Friede und die Freude. Ach bleib mit Deiner Gnade bei uns, Herr Jesu Christ, dass uns hinfort nicht schade des bösen Feindes List!

Längst ist das Haus des Kindes dahin. Wohl ist das Städtlein Nazareth noch vorhanden, ein von Türken2) und Christen bewohnter Flecken, Juden gibt es keinen einzigen in Nazareth; und wo sich jetzt dort eine sehr ärmliche, zwischen Türkenhäusern liegende Kapelle befindet, da, so sagt man, soll einst Josephs Wohnhaus gestanden haben. Aber eben es steht nicht mehr, das Haus des Kindes ist dahin. Aber das Kind des Hauses lebt noch heute. Denn Jesus Christus gestern und heute und derselbe in Ewigkeit, und Niemand kann seines Lebens Länge ausreden. Und wo man das Christkind aufnimmt in aller Stille einfältigen Glaubens ins Haus hinein und ins Herz hinein, da erblüht aufs Neue ein Nazareth für Christen und Türken und auch für Juden, für Alle, die sich bekehren von dem eitlen Wandel nach väterlicher Weise und die Herrlichkeit des Nazareners anbeten, eine Herrlichkeit als des eingebornen Sohnes vom Vater voller Gnade und Wahrheit. „Jesus ein Nazarener“, so schrieb die Welt am Todestag des Heilandes ihm über sein Kreuz. Möchten einst Gottes Engel auf unsern Leichenstein die Inschrift graben können: „Hier ruht ein Nazarener.“

1)
gab
2)
Israel und Palästina gehörten zur Zeit Quandts zum osmanischen Reich
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