Parry, William Edward - Der Vatersinn Gottes - Erstes Kapitel
Unser Vater, der Du bist im Himmel; Geheiligt werde Dein Name.
Matth. 6,9.
Unter den zahllosen Zeugnissen, die uns von der Gnade und Herablassung Gottes gegeben sind, ist die Weise wie sich die Sprache der Offenbarung sowohl der Auffassungskraft und den Gefühlen als auch den Bedürfnissen des Menschen und seiner Schwäche anpasst, besonders merkwürdig. Zwar gibt es in unsern heiligen Urkunden „etliche Dinge,“ welche wir auf mehr als menschliches Ansehen gestützt - als „schwer zu verstehen“ bezeichnen müssen (2 Pet. 3,16.). Noch andere Teile derselben, namentlich in den prophetischen Büchern, können auch von dem tiefsten menschlichen Forschungsgeist nimmer gänzlich ergründet und vollständig erklärt werden; so dass deren wahrer und umfassender Sinn uns vielleicht ein verhülltes Buch bleiben dürfte, bis einst die erfüllte Weissagung denselben klar und herrlich vor unsern staunenden Augen entfalten, und uns in freudige Anbetung versenken wird.
Doch, was auch der demütige Forscher sowohl als der eingebildete Zweifler über die dunklen Stellen der Bibel, und über diejenigen, deren Deutung einstweilen noch ganz verschleiert bleibt zu sagen vermag, so darf doch zuversichtlich behauptet werden, dass Alles, was die Seligkeit bedingt, so klar in derselben ausgedrückt sei, dass „es lesen kann, wer vorüber läuft“1); ja, dass eine Bahn sei und ein heiliger Weg darauf zu gehen, also, dass auch die Toren nicht irren mögen“2); Allein nur dann findet dieses Wort seine Anwendung, wenn mit Aufrichtigkeit, mit uns befangener Lernbegierde, vor allem aber mit Gebet gelesen wird.
In keiner Hinsicht verdient aber jenes herablassende Anpassen unsere anbetende Beachtung und unsern heißesten Dank in höherem Grad als dadurch, dass es Gott gefallen hat, sich uns zu häufig wiederholten Malen unter dem süßen Vaternamen zu offenbaren. Sehr merkwürdig ist es, wie in dem einzigen uns vom Herrn Jesus vorgeschriebenen Gebet Gott auf eine Weise angeredet wird, die unsere blöden Herzen besonders ermutigen soll, da wir dadurch gleichsam unmittelbar als Kinder vor den Gnadenthron und in die Gegenwart unsers himmlischen Vaters versetzt werden.
Dieses ist ein auch dem beschränktesten Geist verständliches Verhältnis, das zugleich unmittelbar den innigsten Bedürfnissen unserer gefallenen Natur entspricht, ja die besten Gefühle selbst des am meisten verhärteten Gemütes erweckt und für sich gewinnt. Der bloße ,Vatername“ ist in jedem Herzen eng verknüpft mit einem der mächtigsten und innigsten, jener geheimnisvollen Bande, welche den Menschen an den Menschen fesseln; Bande, welche der Schöpfer in Seiner Weisheit und Güte allen Menschen so tief eingepflanzt hat, dass Ausnahmen hierin einstimmig als unnatürlich und empörend gebrandmarkt werden. Es dürfte also von hohem Interesse und mit Gottes Hilfe auch reich gesegnet sein, einige Züge der auffallenden Übereinstimmung zwischen den gnädigen Führungen Gottes als Vater Seiner Kinder und dem Verfahren irdischer Eltern gegen die ihrigen nachzuweisen. Die Vergleichungspunkte sind merkwürdig und zahlreich; und auch der allerschwächste Versuch, einige der auffallendsten dieser Momente herauszuheben, wird er anders in dem kindlich, empfänglichen Geist gewagt, dem allein die Verheißung des Segens gilt, muss unsere Erkenntnis der göttlichen Vollkommenheit verklären und erhöhen. Sollte aber das durch in unsern Herzen nicht auch das Feuer kindlicher Liebe gegen den Hochgelobten, welcher „Selbst die Liebe ist“3), entzündet, und wir in eine innigere Gemeinschaft mit Demjenigen gebracht werden, „Den zu erkennen, das ewige Leben ist?“4).
Wir haben jedoch gleich Anfangs wohl ins Auge zu fassen, wie jede Vergleichung zwischen dem Walten des allmächtigen und heiligen Schöpfers und dem Benehmen Seiner schwachen und sündlichen Geschöpfe nur unter dem vorherrschenden Gefühl und der feierlich tiefen Überzeugung von dem unermesslichen moralischen Abstand, welcher Gott von dem Menschen trennt, gewagt werden darf. „Denn Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und Meine Wege sind nicht eure Wege, spricht der Herr. Denn so viel der Himmel höher ist, als die Erde, so sind Meine Wege höher denn eure Wege, und Meine Gedanken höher denn eure Gedanken“5). Und wirklich sind es, selbst bei den besten und weisesten irdischen Eltern, eher die Grundsätze, welche sie als diejenigen anerkennen, die sie bei der Erziehung ihrer Kinder leiten sollten, als ihre wirkliche Anwendung derselben, welche auch die leiseste Vergleichung dieser Art vertragen. Jeder richtige Grundsatz bei der Erziehung unserer Kinder muss auf Heiligkeit, Gerechtigkeit, Weisheit, Liebe und Wahrheit bestehen; Alles Eigenschaften, die im Wesen der Gottheit vollkommen und unveränderlich liegen, und sich, durch keine moralische Störung unterbrochen, nach Außen hin offenbaren. Und bloß in soweit als sich der Mensch befähigen lässt, dadurch dem göttlichen Vorbild - wenn auch in unendlicher Entfernung - sich zu nähern, dass er in Übereinstimmung mit diesen himmlischen Grundsätzen zu handeln sucht, wird ihm sogar nur von seinen fehlbaren Mitmenschen der Name eines weisen und guten Vaters beigelegt. Hier aber geht die Vergleichung zu Ende. Hinsichtlich des Grades, in welchem jene Grundsätze ausgeübt werden, muss die Analogie völlig aufgegeben werden. Es hat dem Allmächtigen gefallen, Sich selbst als Vater, uns aber als Kinder zu bezeichnen, weil wir unsere Begriffe über seinen Vatersinn am leichtesten von den Gefühlen und dem Verfahren irdischer Eltern abzuleiten vermögen. So passte sich auch der Vatername dem Lallen unserer armen Sprache am Besten an, um uns einen schwachen Begriff von dem göttlichen Liebeserbarmen zum Menschen zu geben; nicht aber dass dieser Name den vollkommen erschöpfenden Ausdruck der grundlosen Tiefen und unendlichen Größe seines Wesens enthielte; denn hierfür gibt es kein Wort menschlicher Zunge. Während wir also Gottes herablassende Güte dankbar anbeten, die uns den süßen Kindesnamen und mit ihm das erstaunliche Vorrecht schenkt, uns mit freimütiger Zuversicht an Ihn, als unsern Vater zu wenden, so haben wir uns doch mit heiliger Scheu zu verwahren, dass die Innigkeit, ja die Zärtlichkeit dieses Verhältnisses uns nicht zu unwürdigen und erniedrigenden Vorstellungen über den väterlichen Charakter Gottes missleite. Möchte uns ja der Allmächtige sonst mit dem Wort strafen: „Du meinst, Ich werde sein gleich wie du“6).
Bei der Behandlung dieses Gegenstandes haben wir überdies einen Umstand noch besonders zu berücksichtigen, der nicht einen Zug der von uns nachzuweisenden Analogie bildet, sondern vielmehr als Ausnahme derselben sich darstellt. Fest nämlich ist im Auge zu behalten, wie während der ganzen Dauer unserer Erdenwallfahrt wir in den Augen des allwissenden Gottes nur als in der Kindheit, ja als in der Wiege unsers Daseins erscheinen.
Zwar werden innerhalb der kurzen Spanne eines einzigen Menschenlebens sowie unter den zahllosen Schattierungen menschlicher Charaktere sehr verschiedene Entwicklungsgrade des Guten, mannigfaltige Abstufungen und Fortschritte sittlicher Trefflichkeit und was noch viel wichtiger ist, ein schnellerer, oder langsameres Wachstum in jener Heiligung beobachtet, ohne welche „Niemand den Herrn sehen wird“7). Ja, es ist gerade dieses fortschreitende Wachstum um dessen willen - erkennen wir anders unserer Kinder wahres Wohl - wir beständig an ihnen arbeiten. Er ist das Ergebnis, auf das wir als die Frucht einer frühen Erziehung und einer weisen, gottseligen Zucht zu hoffen ermuntert werden, und worauf wir ängstlich harren. Selig aber die Eltern, welche bei zunehmendem Alter ihrer Kinder an denselben nicht bloß eine entsprechende Entwicklung ihrer geistigen Fähigkeiten, sondern gleichmäßig jene bessern „Früchte des Geistes“8) wahrnehmen dürfen, die für der heilige Geist erzeugen kann, und durch welche allein sie tüchtig gemacht werden, zu jenem herrlichen, unverwelklichen und unbefleckten Erbe, das im Himmel ist.
Aber dennoch bleibt selbst das Beste, das Weiseste und das Heiligste unter den Menschenkindern bis zu seinem letzten Hauch der Leitung des Geistes Gottes eben so bedürftig und von seinem Gnadenbeistand eben so abhängig, als da es zum ersten Mal den schwachen Odem schöpfte, der sein aufkeimendes Leben betätigte. Es ist eben stets nur ein nach dem Vaterhaus wallendes Kind, und als solches fortwährend so unfähig als je, das wachsame Auge, die festhaltende Hand, die untrügliche Führung oder die liebreiche Vorsorge seines allmächtigen Vaters zu entbehren. Wir betrachten diese Welt aus einem unrichtigen Gesichtspunkt, wenn wir sie für etwas Anderes ansehen, als eine Kinderstube oder Vorschule der Ewigkeit. Für dieses Leben und dessen ausschließliche Angelegenheiten zwar bedürfen wir keines langen Zeitraumes um eine gewisse Reife zu erlangen, so weit einmal dieselbe mit unseren gegenwärtigen so sehr beschränkten und unvollkommenen Fähigkeiten vereinbar ist; eine Reife, die uns wenigstens zur Lösung der uns für dieses kurze und vorbereitende Dasein vorgezeichneten Aufgabe befähigt. Ausschließlich hierzu genügt freilich die Lehre und Erfahrung einiger kurzer Jahre, „um die kindischen Anschläge abzulegen“9). Aber im Hinblick auf die Ewigkeit gibt es keine Periode unseres irdischen Daseins, in welcher wir uns rühmen dürften, aus der Kindheit unseres Wesens getreten zu sein, und gefahrlos unserer eigenen Sorge überlassen werden zu können. Bis zum Schluss seiner Wallfahrt kann auch der älteste Erdenpilgrim hienieden, rücksichtlich seiner unendlichen Bestimmung und der ewigen Dauer seines Daseins nur als in einem Stand fortwährender Vormundschaft und Abhängigkeit befindlich betrachtet werden.
Es genügt indessen nicht, diese Welt bloß als eine Kinderstube oder Vorschule für die Ewigkeit anzusehen. Höchst wichtig ist noch, dass uns die unendliche Überlegenheit des Lehrers und Führers über diejenigen feierlich vorschwebe, welche belehrt und geführt werden sollen; eine Überlegenheit in Weisheit sowohl als in Güte und Wahrheit, mit einem Wort in allem demjenigen, welches ein vernünftiges Wesen befähigt, das Schicksal eines andern zu leiten. Denn wir stellen es als einen Satz auf, dessen Wahrheit kein verständiger Mensch bestreiten, und kein erleuchteter Christ bezweifeln wird, dass, rücksichtlich der Hilflosigkeit und des Mangels an selbstständigen Fähigkeiten, der Unterschied zwischen einem neugeborenen Kindlein und dein weisesten aller irdischen Väter unaussprechlich viel geringer ist als zwischen diesem Vater selbst und dem höchsten Wesen. Es wird uns für die Betrachtung des Vatersinnes Gottes und Seiner väterlichen Führung des Menschen von großem Nutzen sein, wenn wir jene Wahrheit nicht als eine trockene, zwar unleugbare, aber nur in der Theorie anzuerkennende Tatsache, sondern als einen lebendig wirksamen Grundsatz fest im Auge behalten, der einen täglichen und stündlichen Einfluss auf alle unsere Begriffe über die Gottheit ausüben soll. Wie demütigend dieses auch immer für den stolzen und eingebildeten Geist des natürlichen Menschen, und wie geneigt er auch sei, zu wähnen, ein moralisches oder geistiges Babel rage bereits bis nahe an den Himmel, wo nicht gar schon bis in denselben hinein, so stellt doch das Wort der Wahrheit die Kraft des Menschen als bloße Ohnmacht, und seine Weisheit als bloße „Torheit“10) dar; und warum? Weil es von diesen Eigenschaften in Beziehung auf denjenigen spricht, der Allmächtig und Allweise heißt; so dass diese Benennung unrichtig und der Ausdruck unangemessen gewesen wäre, hätte es zugleich dem Menschen irgend einen Grad von eigener Kraft oder Weisheit zugeschrieben, sobald er mit Demjenigen verglichen wird, Der im Himmel thront, und „Alles in Allem erfüllt“11).