Modersohn, Ernst - Jesus - der gute Hirte

Modersohn, Ernst - Jesus - der gute Hirte

Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte läßt sein Leben für die Schafe. Der Mietling aber, der nicht Hirte ist, des die Schafe nicht eigen sind, sieht den Wolf kommen und verläßt die Schafe und flieht, und der Wolf erhascht und zerstreut die Schafe. Der Mietling aber flieht, denn er ist ein Mietling und achtet der Schafe nicht. Ich bin der gute Hirte und erkenne die Meinen und bin bekannt den Meinen, wie mich mein Vater kennt und ich kenne den Vater. Und ich lasse mein Leben für die Schafe.
Joh. 10, 11—15

Von allen Bildern, in denen Jesus von sich selber spricht, um uns sein Wesen und seine Art zu schildern, ist das Bild vom guten Hirten wohl das bekannteste. Wie haben sich die Maler dieses Bildes bedient, um den Heiland uns vor die Seele zu stellen — bald, wie er der Herde vorangeht, bald, wie er das verlorene und verirrte Schaf aus den Dornhecken herausrettet, bald, wie er das gefundene Lamm auf seiner Achsel heimträgt.

Wie haben auch die Dichter dieses Bild vom guten Hirten verwendet in ihren Liedern! Paul Gerhardt singt von ihm: „Herr, mein Hirt, Brunn aller Freuden. Du bist mein, ich bin dein, niemand kann uns scheiden. Ich bin dein, weil du dein Leben und dein Blut mir zugut in den Tod gegeben.„ Von Karl Bernhard Garve haben wir das schöne Lied: „Wie ein Hirt, dein Volk zu weiden, ließest du dich mild herab, reich an Segen, reich an Freuden weidet uns dein Hirtenstab.“ Erdmann Neumeister besingt den guten Hirten: „Wenn ein Schaf verloren ist, suchet es ein treuer Hirte: Jesus, der uns nie vergißt, suchet treulich das Verirrte, daß es nicht verderben kann: Jesus nimmt die Sünder an.„ Und wer kennt nicht das schöne Kinderlied: „Weil ich Jesu Schäflein bin, freu ich mich nur immerhin über meinen guten Hirten, der mich wohl weiß zu bewirten, der mich liebet, der mich kennt und bei meinem Namen nennt“? Der Heilige Geist hat schon von alten Zeiten an auf den Herrn als den guten Hirten hingewiesen. In prophetischen und poetischen Worten hat er von ihm gesprochen, in allerlei Vorbildern von ihm geredet. Ich erinnere nur an Worte wie Jesaja 40, 11: „Er wird seine Herde weiden wie ein Hirte j er wird die Lämmer in seine Arme sammeln und in seinem Busen tragen und die Schafmütter führen.„ Oder an Hesekiel 34, V. 11 ff.: „So spricht der Herr; ich will mich meiner Herde selbst annehmen und sie suchen. Wie ein Hirte seine Schafe sucht, wenn sie von seiner Herde verirrt sind, also will ich meine Schafe suchen und will sie erretten von allen Örtern, dahin sie zerstreut waren … Ich will das Verlorene wieder suchen und das Verirrte wiederbringen und das Verwundete verbinden und des Schwachen warten.“ Im 95. Psalm heißt es: „Er ist unser Gott und wir das Volk seiner Weide und Schafe seiner Hand.„ Und im 100. Psalm: „Erkennet, daß der Herr Gott ist. Er hat uns gemacht — und nicht wir selbst — zu seinem Volk und zu Schafen seiner Weide.“

Und am bekanntesten von allen poetischen Worten über den guten Hirten ist der 23. Psalm: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.„

Aber auch in allerlei Vorbildern hat der Heilige Geist auf den kommenden guten Hirten hingewiesen. Der erste Hirte, von dem uns die Heilige Schrift erzählt, war Abel. Er weidete seine Herde und brachte das erste blutige Opfer in der Welt dar, um zu bekunden: den Tod, den dies Lamm erleidet, den habe ich verdient. Und wie er dies Opfer dargebracht hatte, so wurde er bald selber geopfert, als Kain ihn erschlug. So hat auch Jesus ein Opfer dargebracht, so ist er selber das Opfer geworden, dessen Blut beständig schreit: „Barmherzigkeit, Barmherzigkeit!“

So ein Hirte war Jakob. Als Esau ihm das Geleit geben wollte, mit seinen vierhundert Mann, da antwortete ihm Jakob: „Du erkennst, daß ich zarte Kinder bei mir habe, dazu säugende Schafe und Kühe, wenn sie einen Tag übertrieben würden, würde mir die ganze Herde sterben.„ Was für ein guter Hirte, der so besorgt ist für seine Herde! Was für ein Vorbild darin auf den guten Hirten Jesus!

Auch Joseph war ein Hirte wie seine Brüder. Einmal sandte ihn der Vater aus, um seine Brüder zu suchen — gerade wie der Vater im Himmel den Herrn Jesus aussandte, um seine Brüder zu suchen. Und wie Joseph verkauft wurde, so wurde auch Jesus verkauft um schnöden Lohn. Wie Joseph durch die tiefste Erniedrigung hindurchmußte, um zur höchsten Würde emporzusteigen, bis zum ersten Mann nach dem König, so ist auch Jesus durch die tiefste Erniedrigung hindurchgegangen, bis er sich gesetzt hat zur Rechten der Kraft Gottes im Himmel.

Wie vorbildlich ist auch das Leben des Mose! Wie der König von Ägypten ihm nach dem Leben trachtete, so schickte der König Herodes seine Soldaten, um das Jesuskind umzubringen. Und wie Mose auf die glänzende Laufbahn verzichtete, die vor ihm lag als dem Pflegesohn der Königstochter, so gab Jesus seine Herrlichkeit beim Vater daran und kam zu uns auf unsere arme Erde, um unser guter Hirte zu werden, um das Volk aus der Knechtschaft des Fürsten der Welt zu erretten.

Endlich erinnere ich noch an David, der die Schafe seines Vaters auf den Fluren von Bethlehem hütete. Und als ein Löwe und ein Bär über die Herde herfallen wollten, da tritt David den Untieren in der Kraft Gottes entgegen und erwürgte sie. So ist auch Jesus dem brüllenden Löwen entgegengetreten, wie Petrus den Teufel nennt, und hat ihn überwunden und besiegt. So ist die, Schrift voll von Hinweisen auf den Hirten Jesus in Wort und Bild. Daran denkt nun Jesus, wenn er sagt: Der gute Hirte, von dem die Propheten und Psalmisten geredet haben, den die Vorbilder aus alter Zeit abgeschattet haben, der bin ich — ich bin der gute Hirte.

Wenn wir uns nun der Betrachtung dieses Bildes vom guten Hirten zuwenden, dann wollen wir auf dreierlei achten: auf seine Hirtentreue, auf seine Hirtenliebe, auf seine Hirtensorge.

Auf seine Hirtentreue achten wir zuerst. Wie treulich geht Jesus dem Verlorenen nach! Darum verließ er seine Herrlichkeit beim Vater, weil er nicht mitansehen konnte, daß die Menschen dahinlebten und dahinstarben in ihren Sünden. Ihn jammerte des Volkes, denn sie waren wie Schafe, die keinen Hirten haben.

Und wenn man ihn irgendwo abwies, dann kam er wieder und wiederholte seinen Besuch. So wollte er einmal in das Gebiet der Zehn Städte. Er kam aber nicht so weit. Denn als er eben ans Land getreten war im Gebiet der Gadarener, da trat ihm alsbald ein Besessener entgegen, der da in den Grabhöhlen hauste und eine Landplage für die Bevölkerung bildete. Aber Jesus gebot den bösen Geistern, die von dem Manne Besitz ergriffen hatten, daß sie von ihm ausführen. Sie fuhren aber in eine Herde Schweine, die dort weideten und wühlten. Die gerieten in Verwirrung und stürzten vom Abhang ins Meer. Das verkündeten die Schweinehirten den Herdenbesitzern: „Der Nazarener ist gekommen und hat den Besessenen geheilt; aber seine Heilung hat einen hohen Preis gekostet: die sämtlichen Schweine sind umgekommen!“ Da erschraken die Herren und dachten: „Wenn Jesus auf alles, was bei uns gegen das väterliche Gesetz verstößt, so unbarmherzig den Finger legt, das kommt uns teuer zu stehen.„ Wir dürfen dabei nicht vergessen, daß es den Juden ja verboten war, Schweine zu züchten, weil das Schwein als unrein galt. Aber in der Nähe war eine römische Kolonie, mit der man ein gutes Geschäft machen konnte, wenn man ihnen die Schweine lieferte, und darum setzte man sich über das Gesetz hinweg. Und sie schickten dem Herrn eine Botschaft: Er möchte doch so gut sein und das Land wieder verlassen! Ihre Schweine waren ihnen lieber als der Heiland.

Aber der Herr Jesus ließ einen Zeugen zurück, den geheilten Besessenen, dem er den Auftrag gab, zu verkündigen, wie große Wohltat der Herr an ihm getan habe. Und er hat seinen Auftrag treulich erfüllt. Als Jesus wieder kam, um das Gebiet der Zehn Städte zu besuchen, diesmal auf dem Landwege, da hatte das Zeugnis des Geheilten für einen solchen Zulauf gesorgt, daß der Heiland von Tausenden umgeben wurde. In dem Kreise dieser Tausende vollbrachte Jesus dann das Wunder der großen Speisung.

So macht es der Herr noch immer. Wenn man ihm beim ersten Anklopfen nicht auftut, er kommt wieder. Es geht nach dem Wort im Buche Hiob: „Solches tut der Herr an einem jeglichen zweimal oder dreimal, daß er seine Seele herumhole vom Verderben.“ Wer müßte nicht dem Liederdichter zustimmen, wenn er sagt: „Bald mit Lieben, bald mit Leiden kamst du, Herr, mein Gott zu mir, um mein Herze zu bereiten, sich ganz zu ergeben dir.„ Wenn wir zurückschauen, dann finden wir, wie treu uns der gute Hirte Jesus nachgegangen ist in unserem Leben. Schon in frühester Kindheit, als die Mutter uns auf den Schoß nahm und uns beten lehrte: „Ich bin klein, mein Herz mach rein, soll niemand drin wohnen als Jesus allein“, da suchte uns der gute Hirte. Und wenn die Mutter uns die lieben alten biblischen Geschichten erzählte, wie Jesus durchs Land zog und Kranke heilte und Tote erweckte, da hat er wieder um uns geworben. Und er kam wieder in der Zeit vor unserer Konfirmation. Durch all die Stunden der Vorbereitung darauf hörten wir den Ruf des Herrn: „Gib mir, mein Sohn, dein Herz, und laß deinen Augen meine Wege Wohlgefallen!„

Und wieder kam er, immer wieder. Er kam in den Tagen der Krankheit, er kam in den Tagen des Glücks und der Freude, er kam an Särgen und Gräbern, an die wir im Leben gestellt wurden. Er kam in der Predigt, als wir dasaßen und mit einem Male spürten, daß der Herr mit uns redete, mit uns ganz persönlich.

Aber wie manchmal haben wir ihn abgespeist mit Versprechungen, wo er eine Tat von uns erwartete. Wir taten Gelübde, wenn wir in Not und Gefahr kamen, aber wir haben sie hinterher nicht gehalten. War es nicht so? Wie ernst mahnte uns Gottes Wort: „Opfere Gott Dank und bezahle dem Höchsten deine Gelübde!“ — aber wir setzten uns darüber hinweg. Und wie steht es heute? Hast du dich nun endlich dem guten Hirten ergeben und dich von ihm finden lassen? Oder war seine Hirtentreue bei dir bisher vergeblich? Hast du dich ihm entzogen? Bist du ihm immer wieder aus dem Wege gegangen?

Dann laß dir heute sagen, wie der gute Hirte die Menschen liebt, wie wunderbar seine Hirtenliebe ist!

Wie sagt doch hier der Herr Jesus? „Der gute Hirte läßt sein Leben für die Schafe.„

Komm einmal mit in den Garten Gethsemane! Da liegt der Heiland auf seinem Angesicht und schreit einmal über das andere in die Nacht hinein: „Vater, ist es möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber!“ Da trat er in Beziehung zu unsrer Sünde, als hätte er selber sie getan. Da erfüllte sich das Wort des Paulus: „Gott hat den, der von keiner Sünde wußte, für uns zur Sünde gemacht!„ Wer kann die furchtbare Bedeutung dieses Wortes ausdenken? Der da auf seinem Angesicht ringt, das ist nicht mehr der Reine, Heilige, das ist die fleischgewordene Sünde! O, da schauen wir in einen Abgrund der Hirtenliebe Jesu hinein. Was ist das für ein Opfer, das er da für uns bringt!

Und nun kommt der Fürst der Finsternis und versucht, seinen Gehorsam zu erschüttern. Aber Jesus hat an dem, was er litt, Gehorsam gelernt, wie der Hebräerbrief sagt. Er hat sich durchgerungen bis zur vollen Bereitwilligkeit: „Ich trinke den Kelch, und es geschehe dein Wille!“

Da schickt ihm der Teufel den Tod, der ihn umbringen soll. Er will unter allen Umständen verhindern, daß Jesus die Erlösung der Welt vollbringt. Gewiß wäre es für den Heiland sehr viel leichter gewesen, wenn er jetzt hier unter den leise rauschenden Ölbäumen hätte sein Leben hingeben dürfen, anstatt am ändern Tag nackt und bloß am Schandpfahl des Kreuzes zu hängen, ein Gespött der Leute. Aber wie sollte dann die Erlösung vollbracht werden? Und darum „hat er Gebet und Flehen mit starkem Geschrei und Tränen geopfert zu dem, der ihm von dem Tode konnte aushelfen; und er ist auch erhört, darum, daß er Gott in Ehren hatte.„ Es kam, daß er mit dem Tode rang — und e r bezwang ihn. Warum denn? Er wollte ans Kreuz. Seine Liebe trieb ihn dazu, die Erlösung der Welt zu vollbringen.

Als der Kampf ausgekämpft ist bis zum Siege, da kommen die Soldaten und Häscher, um ihn gefangen zu nehmen. Er tritt ihnen entgegen und fragt sie: „Wen sucht ihr?“ Sie antworten: „Jesus von Nazareth!„ Da spricht er nur zwei Worte: „Ich bin's!“ Aber in diesen beiden Worten offenbart sich eine solche Majestät, daß sie zu Boden sinken. Merkwürdig: krieg- und sieggewohnte römische Soldaten stürzen zu Boden, solch ein Eindruck geht von der Persönlichkeit Jesu aus nach seinem Sieg über den Tod! Wenn Jesus gewollt hätte, hätte er jetzt zwischen ihnen hindurchgehen können und niemand hätte Hand an ihn gelegt. Warum tat er das denn nicht? Weil seine Liebe ihn trieb, ans Kreuz zu gehen.

Als dann Petrus das Schwert nahm und dreinschlug, da gebot der Herr: „Steck dein Schwert in die Scheide! Meinst du nicht, daß ich den Vater bitten könnte, daß er mir zusende mehr denn zwölf Legionen Engel? Aber wie würde dann die Schrift erfüllt?„

So erfüllte sich sein Wort: „Der gute Hirte läßt sein Leben für die Schafe.“ Es ist so, wie er einmal sagte: „Niemand nimmt mein Leben von mir, ich lasse es von mir selber.„

So hat Jesus seine Hirtenliebe bewiesen bis zum Tode, ja, bis zum Tode am Kreuz.

Und wie er in den Tagen seines Erdenlebens seine Hirtenliebe bewiesen hat, so beweist er sie noch heute. Wer dieser Liebe des Herrn sich hingibt, wer zu ihm sagt: „Liebe, dir ergeb ich mich, dein zu bleiben ewiglich!“ der erfährt es auch, was der Herr hier weiter spricht: „Ich erkenne die Meinen und bin bekannt den Meinen, wie mich mein Vater kennt und ich kenne den Vater.„ Wie wunderbar ist dies „Erkennen“! Es bedeutet soviel wie: Er tritt in Lebensgemeinschaft und Liebesgemeinschaft mit den Seinen und er erlaubt es ihnen, in solche Gemeinschaft mit ihm zu treten.

Wie hat er die Seinen erkannt! Da bringt Philippus seinen Freund Nathanael zu Jesus. Eben hat Nathanael zweifelnd gesagt: „Was kann aus Nazareth Gutes kommen?„ Philippus antwortet nur: „Komm und sieh!“ Und als Nathanael zu Jesus kommt, spricht der Herr: „Siehe, ein rechter Israeliter, in dem kein Falsch ist.„ Verwundert fragt Nathanael: „Herr, woher kennst du mich?“ Und Jesus antwortet: „Ehe dich Philippus rief, da du unter dem Feigenbaum warst, sah ich dich!„ Da bricht Nathanael zu seinen Füßen nieder: „Rabbi, du bist Gottes Sohn, du bist der König von Israel!“ So wie Jesus den Nathanael kannte, so kannte er auch den Simeon, den Andreas ihm zuführte: „Du bist Simon, Jonas Sohn, du sollst Kephas heißen, das wird verdolmetscht: ein Fels.„ So kannte er auch die Samariterin und ihre ganze Sündengeschichte. So kannte er auch den Oberzöllner Zachäus, der da auf den Baum gestiegen war, um ihn zu sehen. „Zachäus, steig eilend hernieder, denn ich muß heute in deinem Hause einkehren!“

Aber er kennt nicht nur die Seinen damals, er kennt die Seinen auch heute und er tritt in eine solche Liebesgemeinschaft mit ihnen, wie der Vater mit ihm und er mit dem Vater. Ja, wahrlich, er ist bekannt den Seinen. Mit was für einer rührenden Liebe kümmert er sich um die Seinen. Wie dürfen wir das erfahren bis in die kleinsten Kleinigkeiten unseres Lebens hinein! Nichts ist ihm | unwesentlich, was seine Jünger und Jüngerinnen angeht. Wir dürfen ihm alles sagen, was uns bewegt. Ob es sich j dabei um kleine Dinge handelt oder um große und wichtige Angelegenheiten — das macht gar keinen Unterschied. Jede Gebetserhörung macht uns ihn lieber, jede Gnadenerfahrung macht uns ihn vertrauter. Und wenn wir seine Wege und seine Führungen auch nicht immer gleich verstehen, wir wissen doch, daß er keine Fehler macht, daß er die Liebe ist, daß er nur Liebesgedanken mit den Seinen hat.

So wird ein Leben reich und selig, das unter dem Hirtenstabe des guten Hirten verläuft. Es sind nun über fünfzig Jahre her, daß ich den Herrn Jesus als meinen Herrn habe kennenlernen und erfahren dürfen. Mein Weg ging über Höhen und durch Tiefen, an Särgen und Gräbern vorbei und an fröhlichen Wiegen, durch glückliche Tage und durch Kummernächte, aber immer habe ich den Herrn treu erprobt und seine Liebe reichlich erfahren dürfen. Wenn ich auf alle Führungen meines langen Lebens zurückblicke, dann kann ich nur mit den Worten Woltersdorfs bekennen: „Mein Herr ist unbeschreiblich gut, und was er täglich an mir tut, kann niemand besser machen.„

O, daß du es auch erfahren möchtest, wenn du es noch nicht erfahren hast, daß ein Leben in der Gemeinschaft mit Jesus eine überaus köstliche und herrliche Sache ist! Wahrlich, er ist gekommen, daß wir das Leben und volle Genüge haben sollen. Das dürfen wir erfahren und bezeugen.

Und auch das letzte erfahren wir, was ich noch zu sagen habe, seine Hirtensorge. Ich kann darüber nicht besser sprechen, als so, daß ich an den 23. Psalm erinnere. Der handelt von der wunderbaren Sorge, mit der der Herr sich der Seinen mit Leib und Seele annimmt. „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.“ So wie ein Hirt für seine Schafe sorgt, wie er sie auf die rechte Weide führt und zum frischen Wasser und dann in den schützenden Stall oder in die bergende Hürde, so sorgt der gute Hirte für die Seinen. Alle unsere Bedürfnisse sind ihm bekannt. Er kennt unsere leiblichen Bedürfnisse, wie die Bedürfnisse unserer Seele. Darum hat der Apostel Petrus uns geschrieben: „Alle eure Sorge werfet auf ihn, er sorgt für euch!„ Ja, das tut er. Wir haben einen Hirten und sprechen vertrauensvoll: „Mir wird nichts mangeln.“ Und nicht nur für das leibliche Leben sorgt er, er erquickt auch unsere Seele. Er weiß, wann wir einen Zuspruch brauchen, da schickt er zur rechten Zeit uns einen Besuch, mit dem wir uns aussprechen und zusammen beten können, oder es kommt ein Brief — oder es ist ein Wort Gottes, das wir lesen oder das wir hören — in jedem Falle tut er unserer Seele wohl und richtet uns auf, wenn wir am Boden liegen.

So führt er uns auf rechter Straße um seines Namens willen. Weil er ein Jesus ist, ein Seligmacher, darum führt er uns auf der Straße, die uns an dies selige Ziel bringt, ob es nun über sonnige Höhen geht oder durch dunkle Täler.

Und wenn der Weg durchs finstre Tal führt, so sind wir auch dann getrost, denn wir wissen, daß der Herr auch im finstern Tal ist. Ja, wir treten zu ihm im finstern Tal in eine noch engere Verbindung als vorher. Hat der Psalmist erst von dem Herrn immer in der dritten Person geredet, so redet er nun von ihm in der zweiten Person: Du bist bei mir! Ja, gerade im finsteren Tal können wir besonders erfahren, was wir an ihm haben, wie zart und treu er sich der Seinen annimmt. Es geht dann so, wie es im Liede heißt: „Doch wenn die Wunden brennen, der Pfad voll Dornen ist, dann lernt man erst erkennen, wie zart und treu du bist.„

Und wenn wir es mit Menschen zu tun bekommen, die uns um Jesu willen schmähen, dann sagt der Herr: Fürchte dich nicht, mit deinen Feinden nehme ich es auf, denn deine Feinde sind ja meine Feinde. Und er bereitet vor uns einen Tisch im Angesicht unserer Feinde, er salbt unser Haupt mit öl und schenkt uns voll ein. Das soll heißen: Das Leben wird geradezu ein Fest in der Gemeinschaft mit dem Herrn. Denn beim Feste salbt man sich mit öl, und beim Feste wird voll eingeschenkt. Eigentlich heißt es: Mein Becher fließt über. Eine überströmende Gnade läßt der Herr den Seinen zuteil werden, daß wir mit Paulus sprechen können: „In dem allen überwinden wir weit um deswillen, der uns geliebt hat.“ Kein Gedanke an Verleugnung kommt uns, kein Gedanke, den Dienst des Herrn aufzugeben, o nein, man erfährt vielmehr: Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang. Gutes brauchen wir für unser leibliches Leben, Barmherzigkeit für das Leben unsrer Seele. Aber beides begleitet uns bis ans Ende. Und dann ist es nicht etwa aus, o nein, dann fängt es erst recht an, wenn wir bleiben dürfen im Hause des Herrn immerdar, wenn wir daheim sein dürfen bei ihm in der Herrlichkeit.

So übernimmt er die ganze Sorge für uns, bis er uns durchgebracht hat bis ans Ziel, ja bis in die herrliche, selige Ewigkeit.

Wahrlich, er ist ein guter Hirt, der treu sein Schäflein führt. Lern' ihn kennen als deinen guten Hirten und dein Leben wird selig, und dein Sterben wird fröhlich! Du kannst dann mit den Kindern singen und sagen: „Sollt1 ich nun nicht fröhlich sein, ich beglücktes Schäfelein? Denn nach diesen schönen Tagen werd' ich endlich heimgetragen in des Hirten Arm und Schoß — Amen ja, mein Glück ist groß!„

Quelle: Modersohn, Ernst - Was ist mir Jesus?

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