Luthardt, Christoph Ernst - 4. Am Sonntag Reminiscere
Geliebte in dem Herrn! Dort, wo der Jabbock in den Jordan fließt, lag einst ein Mann vor Gott im Gebet. Er war lange in der Fremde gewesen, bei seinem Schwäher Laban in Mesopotamien. Nichts als den Stab, den er in der Hand führte, hatte er, als er über den Jordan ging; nun ist er zu zweien Heeren geworden. Damals war er vor dem Drohen seines Bruders Esau geflohen; nun zagte Jakobs Herz, da er ihm wieder begegnen sollte. Denn jetzt reichte die Verschlagenheit seines Geistes nicht mehr aus, darauf er sich sonst verlassen hatte. Jakob war eine reichbegabte Natur; er hatte ein weiches Gemüt und ein empfängliches Herz für das Höhere, Göttliche, Ewige. Aber in die edleren Regungen seines Wesens mischte sich stets die Unlauterkeit seines Sinns. Durch trügliche List wollte er die Güter der Erde, wollte er die Gnaden des Himmels sich erwerben. Sein ganzes Leben bis dahin, in Sorgen und Arbeit, in Segen und Anfechtung, war eine von Gott bereitete Schule gewesen, in welcher er von seinem unlauteren Wesen und der falschen Zuversicht auf den Witz seines Verstandes gereinigt werden sollte. Nun, da er das Pilgerland seiner Väter und das Erbe der Zukunft wieder betrat, drang Gottes Geist mit der Erinnerung aller seiner Gnaden und Wohltaten mächtig auf ihn ein. Es war Nacht, da es in seinem Herzen voll Trotz und Verzagtheit so heftig auf und niederwogte, zwischen Selbstvertrauen und demütiger Buße, zwischen Bangigkeit und Glaube hin und her. Da stand er auf und führte seine Weiber und Kinder, seine Herden und sein Gesinde über die Furt; er blieb allein. Was er hier getan, was in seiner Seele vorgegangen, davon berichtet die Schrift uns nichts; aber ihr Schweigen ist beredter als Worte sein könnten, und das verborgene Ringen und Kämpfen seiner Seele ist uns abgebildet in jenem wundersamen Vorgang, den die Schrift erzählt. Ein Mann trat zu ihm und rang mit ihm, und da er ihn nicht übermochte, verrenkte er ihm sein Hüftgelenke. Über solchem Ringen brach die Morgenröte an und jener Mann wollte von ihm scheiden; aber Jakob hielt ihn fest und ließ ihn nicht, er segne ihn denn, Da änderte der Engel Gottes seinen Namen Jakob in Israel d. h. Gottesstreiter; denn sprach er - du hast mit Gott und Menschen gekämpft und bist obgelegen. Und er segnete ihn daselbst. Und Jakob nannte die Stätte Pniel d. h. Angesicht Gottes; denn sprach er ich habe Gott von Angesicht gesehen und meine Seele ist genesen. Und als er vor Pniel überkam, ging ihm die Sonne auf und er hinkte an seiner Hüfte.
So hatte Gott ihn einst zu überwinden gesucht auf allerlei Wegen, wie hier sein Engel, und war ihm nicht eher gelungen, als bis er seine Zuversicht ihm brach, wie hier der Engel seine Manneskraft. Da, als er schwach geworden war und nur Gotte noch betend am Halse hängen konnte, da hat die beharrliche Bitte seines Glaubens obgesiegt und seine Seele genas.
Geliebte! Israels Söhne sind auch wir und unser Leben ist Streit. Unter allen Kämpfen aber, die wir kämpfen müssen, ist der schwerste der Kampf mit Gott. Gott zu überwinden, dass er nicht anders kann, als uns segnen, unsere Seele genesen und unseren Augen die Morgenröte seines Lichtes aufgehn lassen das soll das ernsteste Ringen unseres Innern sein. Wie uns dieser Kampf gelinge, das lehrt uns Jakobs Vorbild, das lehrt im Einklange hiermit unser heutiges Evangelium.
Matth. 15,21-28.
Und Jesus ging aus von dannen, und entwich in die Gegend von Tyrus und Sidon. Und siehe, ein kanaanäisches Weib ging aus derselbigen Grenze, und schrie ihm nach, und sprach: Ach Herr, du Sohn Davids, erbarme dich meiner; meine Tochter wird vom Teufel übel geplagt. Und er antwortete ihr kein Wort. Da traten zu ihm seine Jünger, baten ihn, und sprachen: Lass sie doch von dir, denn sie schreiet uns nach. Er antwortete aber, und sprach: Ich bin nicht gesandt, denn nur zu den verlorenen Schafen von dem Haus Israel. Sie kam aber, und fiel vor ihm nieder, und sprach: Herr, hilf mir. Aber er antwortete, und sprach: Es ist nicht sein, dass man den Kindern ihr Brot nehme, und werfe es vor die Hunde. Sie sprach: Ja, Herr; aber doch essen die Hündlein von den Brosamlein, die von ihrer Herren Tische fallen. Da antwortete Jesus, und sprach zu ihr: O Weib, dein Glaube ist groß! dir geschehe, wie du willst. Und ihre Tochter ward gesund zu derselbigen Stunde.
Jesus hat die Grenzen Israels verlassen und ist auf heidnisches Gebiet gewichen. So ist später um des Unglaubens Israels willen das Evangelium in die Völkerwelt der Heiden gewandert. Darum stellt uns diese Geschichte das kanaanäische Weib als Vorbild hin. Sie ist uns Vorbild in dem Gefühl ihrer Not, in der Aufnahme der Kunde von Jesu, in der Beharrlichkeit ihres ringenden Glaubens, in der Erfüllung, die ihre Bitte findet.
1.
Wir sehen eine Mutter in unserer Erzählung, welche für ihre Tochter Hilfe sucht; ihrer Tochter Not ist ihre eigene. Und wie sollte sie nicht? Denn, Geliebte, so sehr die Sünde den Menschen verderbt hat und die Selbstsucht ihn beherrscht, wie am Tage liegt, so hat doch der Geist Gottes des Schöpfers sich der Natur des Menschen und ihren Regungen so wundersam einverwoben und eingeflochten, dass seinen Antrieben der Mensch sich nicht zu entziehen vermag. Es macht Gottes Geist, dass des sündigen Menschen Herz Liebe hegt, und, dass es ihm natürlich ist, sich seines Fleisches und Blutes zu erbarmen. Wir achten den Menschen doppelt und dreifach verderbt, der die Naturstimme Gottes nicht mehr vernimmt. Und wie sollte es diese Mutter nicht erbarmen, wenn sie ihre Tochter so furchtbar leiden sieht, wie wir es ihrer Bitte entnehmen müssen: „meine Tochter wird vom Teufel übel geplagt“; wie sollte es ihr nicht das Herz brechen, wenn sie den schrecklichen Anfall über sie kommen sieht, sieht wie ihre Lippen zucken, die Augen rollen, der Schaum vor den Mund tritt und eine fremde dämonische Gewalt im ganzen Leibe haust? Sie nennt es eine Plage vom Teufel. Um so zu sprechen, braucht sie nicht erst sonderlichen Unterricht vom Teufel, ob es einen gebe, ob er persönlich sei, wie man sein Verhältnis zu Gott zu denken habe, und was solcher Fragen mehr sind. Sie hielt sich einfach an das, was sie vor Augen sah, und das Nachdenken sie lehrte. Dass dies nicht Gottes Ordnung, nicht Gottes Schöpfungswille sein könne, war ihr gewiss. Hat Gott den Menschen nicht geschaffen, dass er seine Lust an ihm habe und sich wiederspiegle in diesem kreatürlichen Abbild seiner selbst? Muss das nicht eine widergöttliche Gewalt sein, die dies edle Gebilde Gottes so schändet und verdirbt, Gottes Freude so zunichte zu machen, sein Werk so zu stören sucht? Das war ihr genug, um sich zu sagen: das hat der Feind getan. Und, dass sie das sich sagen musste, das war ihre größte Not.
Geliebte! Wir fühlen sie mit, diese Not, und begreifen den Jammer der Mutter. Aber leiden wir nicht unter ähnlichem Druck? und wenn das, sollten wir dann nicht vor Allem Mitleiden mit uns selber haben? Zwar die allgemeine Not des Lebens, von welcher schon Noahs Vater Erlösung begehrte und hoffte, dünkt uns zumeist nichts Sonderliches zu sein. Wir sind ihrer so gewohnt worden, dass wir meinen, es müsse so sein; es sei niemals anders gewesen, es werde und könne nie anders werden. Darum schickt uns denn Gott zu weilen ein besonderes schweres Geschick, in welchem die Not des Lebens uns fühlbar werden soll. Aber dies will dann auch nach Gottes Willen aufgenommen sein. Es pflegt wohl so zu sein, Geliebte, dass jeder Druck Widerstand hervorruft; und so liegt es auch dem Menschen von Natur nahe, gegen das schwere Geschick, das über ihn kommt, sich zu erheben, sich dagegen zu wehren und zu sträuben. Die erste Gestalt dieses Sträubens aber ist dann gerne die Frage: warum mir das? diese Frage des Widerstrebens, des Unmuts, des Murrens. Aber Gott will beugen durch die Last der Not, und so lange der Mensch sich dagegen sträubt, weicht das Gefühl von der Härte des Druckes nicht. Die Not will vor Allem mit Beugung getragen sein; vor Allem will Gott die Hand auf dem Mund schauen und die Klage des Unmuts auf den Lippen ersterben sehen, ehe sein Geist im Herzen die Bitte der Klage erweckt: ach Herr wie lange! und ehe seine Hand dann den Gebeugten weiter führt auf den Wegen seiner Liebe dem Lichte entgegen.
Aber, Geliebte, was ist die Not des leiblichen Lebens gegen die Not der Seele! Über jene klagt man oft und viel, aber selten recht; über diese klagt man wenig, und sollte sie doch allezeit fühlen. Es ist etwas Großes, etwas Göttliches um des Menschen Seele, darin ein so reiches wunderbares Leben webt und Gottes Angesicht selber wie in einem lichten Spiegel wiederleuchten und daraus entgegenstrahlen will. Nie hat man zu hoch vom Menschen, wie ihn Gott geschaffen und begnadet hat, geredet und gerühmt. Und selbst diejenigen, welche Gott selbst verloren hatten, wussten und sagten doch noch: wir sind göttlichen Geschlechts. Und wie, Geliebte, ist dies edle Gotteswerk geschändet, verderbt! wie ist dieser Spiegel Gottes befleckt, besudelt! Wie sich der klare, reine, lichte Wasserspiegel, darein die liebe Sonne ihr leuchtendes Angesicht taucht, von dem trüben Sumpfe unterscheidet, auf dessen Boden zwar eine lebendige Quelle sprudelt, dessen reichlicher Schmutz aber das lautere, köstliche Wasser stets verderbt, so unterscheidet sich - das Bild ist wahrlich nicht zu stark - des Menschen Seele, wie sie Gott geschaffen und gewollt, von ihrer verderbten Wirklichkeit. Oder wer von uns, der aufrichtig gegen sich selbst ist, müsste nicht bekennen, dass die Sünde sich bis in das Innerste seiner Gedanken und Regungen, bis in die verborgensten Pfade seines Seelenlebens erstrecke und es Alles verderbe und beflecke? Es findet sich zwar nicht bei Jedem jede Sünde in ausgebildeter Gestalt; aber der böse Same, daraus sie sich erzeugen könnte, ist überall vorhanden. Das Ärgste, das wir schaudernd betrachten, es ist aus derselben Wurzel entsprungen, deren Fäden und Fasern auch unser Herz durchziehen. Und kämpfen wir nicht Alle, in so Vielen nur überhaupt der Streit von Geist und Fleisch erwacht ist, mit Sünden, Neigungen, Begierden, oder auch Leidenschaften, deren wir uns im Grunde der Seele schämen? Dass wir aber lieben, wessen wir uns doch schämen; dass wir tun, das wir doch hassen; dass wir uns gefangen nehmen lassen von dem, das wir doch bestreiten; dass wir unsere Seele so verderbt und beschmutzt sehen müssen, darin doch Gottes Wille allein sich vollziehen und sein Angesicht sich spiegeln sollte ist das nicht eine Not, wert darüber zu seufzen und zu klagen? Wer aber hat dies edle Gottesbild so geschändet und verderbt? Das hat der Feind getan. So lautet und ist unsere Not wie jene, darüber das kanaanäische Weib klagt. Und ich schweige von jenen besonderen Anfechtungen, von welchen mehr oder weniger alle ernsteren Christen zu reden wissen, die nicht bloß ein Hiob oder Paulus oder Luther erfahren haben. Jene düstern Wolken des Trübsinns, welche um das Haupt des Angefochtenen sich legen und ihm den Blick zur Sonne der Gnade entziehen, um die nächtlichen Tiefen des Todes vor ihm zu öffnen und mit Gewalt ihn hinabzuziehn; oder jene sündhaften Regungen, die aus dem gottergebenen Willen plötzlich aufsteigen und uns in die Wirbel gottvergessener Lust zu reißen suchen; oder jene gotteslästerlichen Gedanken, die wie ein Hohnlachen durch die andächtige Stimmung fahren und die erschrockene Seele im tiefsten Grunde erzittern machen woher diese dämonische Gewalt, die so feindselig in unserem Innern haust?
Doch lasst mich den Schleier über dieses Nachtgebiet des Seelenlebens wieder breiten. Ist nicht jene Not der Sünde überhaupt, die wir Alle fühlen, ist nicht die Last jenes allgemeinen Druckes, darunter wir Alle seufzen, groß und schmerzlich genug, um mit jenem Weibe zu klagen: „Herr meine Seele wird vom Teufel übel geplagt“ -?
2.
In solcher Not hört das kanaanäische Weib von Jesu.
Es ist gewiss nur wenig und Dürftiges gewesen, was sie über ihn vernahm: das ihm voraneilende Gerücht von seinem untadeligen Wandel, seiner großen Liebe und den Taten, seines wunderbaren Vermögens. Das genügte ihr. Und eine innere Stimme hieß sie Glauben und Vertrauen fassen zu diesem Manne mit dem weiten, reichen Herzen und wunderbaren Wesen.
Geliebte! Wie viel haben wir vor jenem Weibe voraus. Uns hat die Kunde von Jesu dem Heiland empfangen, gleich da wir in das Leben eingetreten, und auf allen unseren Wegen hat sie uns begleitet; allenthalben ist ihre Mahnung uns zur Seite getreten, ihr Trost uns nahe gewesen. Und wie genau, wie ausführlich, wie eindringlich, wie überzeugend ist uns die Botschaft von Jesu geworden! Warum sind wir nicht williger, uns an ihn zu wenden? Sein Bild ist uns so licht und klar vor die Augen gemalt! Aus dem Dunkel der Menschengeschichte hebt diese heilige Gestalt vor allen anderen sich heraus. Auf allen Übrigen, welche der Ruhm verherrlicht hat, weilen wir mit gemischter Empfindung. Denn überall sehen wir Edles mit Unedlem vereinigt. Wenn aber etwa ein Poet einen Menschen dichtet, an dem kein Flecken noch Makel sein soll, so fühlen und sagen wir Alle sofort: das ist ein unwahres Bild. Hier aber ist uns ein Bild von solcher Wahrheit beschrieben, dass wir es fühlen: das kann nicht erdichtet, das muss wahr sein. Und ein Bild von solcher lauteren Reinheit und stillen Größe, dass heilige Ehrfurcht uns in seiner Nähe anwandelt und auch der frechste Spötter erblasst, wenn ihn sein Auge trifft. Diese Heiligkeit aber ist von einer solchen Fülle von Liebe beseelt und getragen, aus jedem Zug seines Antlitzes, aus jedem Worte seines Mundes, aus jedem Werk seiner Hände leuchtet eine so gewinnende Freundlichkeit, eine so wunderbare Liebe heraus, dass sie uns unwillkürlich zu Boden beugt und wir die Knie ihm umfassen, die Hände ihm küssen möchten. So wahr, so heilig, so mächtig, so lockend steht er vor uns wie ganz anders als jenem heidnischen Weibe Phöniziens! Warum kommen wir nicht williger zu ihm, bei ihm Hilfe zu suchen?
Jenem kanaanäischen Weibe musste es einen nicht geringen Entschluss kosten, diesen Schritt zu tun, mit welchem sie aus dem Kreise ihrer Volksanschauungen und religiösen Überlieferungen ganz heraus trat. Denn als Davids Sohn redet sie Jesum an, gibt also damit wohl zu erkennen, dass sie von der Hoffnung Israels vernommen und Glaube daran gewonnen habe. Was hat das Heidentum von Tyrus und Sidon mit der Hoffnung Israels gemein? Es steht ihr stracks entgegen. Aber das Weib wagt es, sich zu trennen von den Gedanken, Überzeugungen und Einbildungen ihrer Volksgenossenschaft, und das Heil Israels höher zu achten als die religiösen Güter und Gewohnheiten ihrer Väter. Was hat der geringen Tochter Kanaans solchen Mut und solchen Verstand gegeben? Es war ihr Herz und ihr Gewissen, welches sie nach Hilfe trieb, und das Wort von Jesu, welches ihr Hilfe verhieß. Das machte sie stark, so allein zu stehen mit ihrem Glauben und ihrem Gebet.
Wir aber, Geliebte, wir sind umgeben von einer Wolke von Zeugen. Aus allen Jahrhunderten, dringen die Stimmen der Rufenden, Verheißenden, Lobpreisenden zu uns und zahlreiche Genossen des Glaubens stehen uns auf unserem Wege rings zur Seite. Nicht etwas Sonderliches, Ungewöhnliches tun wir, wenn wir bei Jesu Hilfe suchen, sondern was uns am meisten nahe gelegt ist. Und wenn das Wort nun an uns kommt und die Kunde von ihm uns nahe tritt, sagt Gottes Geist in uns nicht deutlich Ja und Amen dazu und gibt Zeugnis unserem Geist, dass das Wort von Jesu Wahrheit ist? Denn wer sich nur zuvor recht bewusst geworden ist, was er braucht, um seiner Not ledig zu werden, und nun die Botschaft vom Heile in Christo recht vernimmt, dem wird es zur unabweislichen inneren Gewissheit: ja das ists, das gerade und ganz was du bedarfst. Und deutlich sagt ihm Gottes Stimme inwendig, dass er sich nicht täusche - so, dass auch hier auf zweier oder dreier Zeugen Mund die Wahrheit besteht.
Was wir brauchen, Geliebte? Nicht Regeln und Vorschriften bloß, sondern ein leuchtendes, mächtiges Vorbild; und nicht ein Vorbild bloß, sondern eine neue sittliche Kraft; und nicht bloß eine neue Kraft heiligen Lebens, sondern vor allem auch Vergebung, Versöhnung, Friede mit Gott, und nicht für dies Leben allein, sondern für alle Ewigkeit. Und ist nicht Er unser Vorbild? gibt nicht Er den Geist des neuen Lebens? ist nicht Er unser Friede? und ist nicht seine Gemeinschaft das ewige Leben? Wo anders könnten und sollten wir finden, was wir bedürfen? Es machen sich die Menschen wohl sonst eine Hilfe zusammen aus Regeln und Vorsätzen, mit denen ihre schwache Kraft sich stärken soll. Aber wir wissen Alle, dass sie wie ein morscher Stab sind, darauf die Hand sich vergeblich stützt; sie brechen, wo es gilt, zusammen wie ein Rohr und lassen nur die blutende Wunde zurück, die sie brechend bereitet. Es schaffen die Menschen sich sonst wohl Hilfe: sie vergessen die Not des Gewissens; aber vergeblich. Wenn seine Zeit kommt, steht es auf mit dem schrecklichen Zürnen des misshandelten Löwen, und ruft seine Anklagen wie mächtige Donner ins bebende Herz. Es bauen die Menschen sich sonst wohl eine Hoffnung zukünftiger Seligkeit. Aber wenn die Tore des Todes sich öffnen und die Stürme der Angst daherbrausen, brechen die eitlen Menschengedanken in Scherben und Splitter. Nicht Gedanken, sondern das Leben überwindet den Tod; Jesus lebt; er ist der Lebendige; Jesus ist Sieger! Sollten wir nicht auch mit jenem Weibe dem Gewaltigen und Liebenden nacheilen, der siegreich über die Erde hin schreitet, und alle unsere Not und unsere Klage ihm zu Füßen werfen: Herr erbarme dich mein?
3.
Aber mit einem Anlauf des Glaubens ist es nicht getan; es gilt die Hilfe zu erringen im kämpfenden Gebet. Die dem Himmelreich Gewalt antun, die reißen es an sich; und es wird Keiner gekrönt, er kämpfe denn recht. Jenes Weib kommt zu Jesu, eilt ihm nach, ruft zu ihm um Hilfe flehend, mit oft wiederholter Bitte. Jesus geht seines Wegs, ohne auf sie zu hören, ohne sich um sie zu kümmern. Ist er so harten Herzens auf einmal geworden? Nun bitten auch seine Jünger für sie, und diese sind doch die ihm nächststehenden. Jesus antwortet auch, aber was? Ich bin nicht gesandt zu den verlorenen Schafen vom Haus Israel. Sie ist eine Heidin; sie geht mich nichts an. Wie? Ist das wirklich der Liebereiche, welchen Alle so rühmten? Aber die Mutter geht ihm nach ins Haus, wirft sich ihm hier zu Füßen: „Herr hilf mir“ - mehr bringt ihr gepresstes Herz nicht über die Lippen. Und Jesus? „Es ist nicht fein, dass man den Kindern das Brot nehme und werfe es vor die Hunde.“ In der Tat, das ist eine harte Rede. Wie viele sind wohl, die da nicht aufgestanden wären und bitter gekränkt fortgegangen? Aber anders die Mutter. Er mag ihr hart reden und sie schelten sie lässt ihn doch nicht, er segne sie denn. An sein eignes Wort klammert sie sich an, ihn zu überwinden. „Ja Herr aber doch“ damit besiegt sie ihn. „Ja Herr“ - wohl redest du recht so; „aber doch essen die Hündlein von den Brosamen, die von ihrer Herren Tische fallen.“ Eben deshalb also, weil ich zu den Hündlein gehöre, so lasse mich deren Recht genießen, und weigere mir nicht, was man doch auch jenen nicht weigert. Da kann sich Jesus nicht länger halten. „O Weib dein Glaube ist groß.“ Du hast mit Gott und Menschen gekämpft und bist obgelegen. „Dir geschehe wie du willst.“ Sie hat dem Himmelreich Gewalt angetan, und die ihm Gewalt antun, die reißen es an sich..
Geliebte! Wir bewundern die Beharrlichkeit des ringenden Glaubens, wie er bei diesem heidnischen Weibe sich findet. Aber was uns geschrieben ist, ist nicht zum Bewundern, sondern zum Nachahmen geschrieben.
Wir sind der Liebe Gottes gewiss und er hat verheißen, dass er uns erhören wolle wenn wir ihn anrufen in der Not, so, dass wir ihn sollen preisen können. Aber wer hätte es nicht erfahren, dass zuweilen der Himmel ehern und Gottes Ohren verschlossen scheinen. „Ist's denn ganz und gar aus mit seiner Güte? und hat die Verheißung ein Ende? Hat denn Gott vergessen gnädig zu sein und seine Barmherzigkeit vor Zorn verschlossen?“ (Ps. 77) so fragte schon Assaphs angefochtenes Herz. „Und wenn ich gleich schreie und rufe, so stopft er die Ohren zu vor meinem Gebet“ (Klagl. 3;8): so klagt Jeremia samt David. „Gehe ich nun stracks vor mich, so ist er nicht da; gehe ich zurück, so spüre ich ihn nicht“ (Hi. 23,8): so musste Hiob reden in seiner Not. Und sollte uns erspart werden, was jene Gottesmänner erfahren mussten uns, deren Glaube noch viel mehr bedarf, erprobt und gestärkt zu werden durch Prüfung wie Jener? Darum geschieht es wohl, dass wir in Not zu ihm rufen und mit unseren Augen keine Hilfe schauen, in unserer Seele keine Tröstung spüren, in unserem Herzen keine heimliche Antwort vernehmen, die uns Friede brächte. Es bleibt uns nichts als das eine, bloße, starre Wort: glaube nur! Oder auch, wer hätte nicht erfahren, worüber die Christen aller Zeiten klagen mussten, dass seine Seele zuweilen so dürr und öde, so ohne Gefühl der Liebe Gottes, so ohne Empfindung seiner seligen Gemeinschaft sei, als sei er von Gott verstoßen und habe ihn noch nie erkannt. Wie gar manchmal, wenn wir zum Gebet uns anschicken, oder auch wenn wir zum heiligen Mahle nahen, ist uns als wären wir wie ausgebrannt, als wäre alles Öl des geistlichen Lebens in uns vertrocknet. Wir suchen ihn mit den Händen zu fassen und erreichen ihn nicht; „ich suchte den meine Seele liebt; ich suchte, aber ich fand ihn nicht.“ Da wirds uns dann so bange, ob er uns auch wirklich lieb habe, ob wir auch wirklich zu Gnaden angenommen seien; wir möchtens gerne fühlen und empfinden und innerliche Versicherung haben. Aber Gott weigerts uns Alles - auf, dass wir lernen auf Alles verzichten, auch auf alles Fühlen und Empfinden verzichten, und nur an das Wort uns halten, an das Wort allein, und um des Wortes willen seiner Gnade gewiss seien, auch wenn er sie noch so tief vor uns verbirgt. Oder auch wenn er innerlich uns antwortet, wie lautet seine Stimme oft dräuend, schreckend, richtend. Wir möchten fliehen vor ihm und uns vor seinem heiligen Ernst verbergen, es erzittern alle unsere Gebeine vor seinem Drohen, dass er die Sünder richten wolle im Zorn. Da gilt es denn, dass der Glaube stark werde, um Stand zu halten und das Gebet beharrlich, um nicht abzulassen; da gilt es zu ringen mit Gott und ihm mit gebrochner Kraft der Natur am Halse zu hängen: ich lasse dich nicht, du segnest mich denn; mit seinem eigenen Strafwort wider die Sünder ihn zu überwinden: Ja Herr aber doch -; ja Herr ich bin ein sündiger Mensch und im Elend; aber doch eben darum solltest du mir ja helfen. Die dem Himmelreich Gewalt antun, die reißen es an sich.
4.
Seht wie jenem Weibe geholfen ward. „Dir geschehe wie du willst!“ Seliges Wort, süßer Klang in den Ohren! „Und ihre Tochter ward gesund zu derselbigen Stunde.“ Selige Erfüllung, süßer Anblick der mütterlichen Augen! Sollte es nicht noch größerer Freude wert sein, wenn wir sagen dürfen, unsere Seele ist genesen, und wenn uns hinter Pniel die Morgenröte des Heils aufgeht? Gewiss, Geliebte, wir haben kein größeres Recht anzusprechen als jenes kanaanäische Weib, denn wie kann der Mensch von einem Rechte sprechen Gott gegenüber? und vollends wir aus den Heiden? Wir sollen zufrieden sein mit den Brosamen, die von seinem reichen Tische fallen. Aber, Geliebte, wir dürfen es auch! Denn was von dieses reichen Herrn Tische fällt, reicht aus, um einer Welt Genüge zu geben. Als er die Scharen Israels in der Wüste gespeist, haben die Apostel die übrigen Brocken gesammelt, zwölf Körbe voll. Diesen Rest haben sie, um im Bilde zu reden, nach des Meisters Abschied ausgeteilt, an die Welt ausgeteilt im Worte Jesu, das sie verkündigten, unserer Seelen besten Nahrung. Von diesen Brosamen leben wir jetzt. „Dein Wort sei meine Speise, bis ich gen Himmel reise.“ Wenn er wiederkommen wird, dann wird er sein großes Mahl zurichten und wir sollen mit ihm zu Tische sitzen im Reiche Gottes. Bis dahin feiern wir sein heiliges Mahl und genießen seiner Gemeinschaft in Brot und Wein, seinen Tod verkündigend bis dass er kommt. Gott gebe, dass wir Alle dort, einst bei jenem großen Abendmahl vereinigt werden, um von seiner Fülle Gnade um Gnade zu nehmen und satt zu werden, wenn wir erwachen nach seinem Bilde. Amen.