Krummacher, Friedrich Wilhelm - Warum nicht zu Christo?

Krummacher, Friedrich Wilhelm - Warum nicht zu Christo?

Predigt über das Evangelium am 2ten Sonntage nach Trinitatis, gehalten zu Görlitz, den 7. Juni 1853.

Luc. 14, 16-24.
Es war ein Mensch, der machte ein großes Abendmahl, und lud viele dazu. Und sandte seine Knechte aus zur Stunde des Abendmahls, zu sagen den Geladenen: Kommt, denn es ist Alles bereit. Und sie fingen an alle nacheinander sich zu entschuldigen. Der erste sprach zu Ihm: Ich habe einen Acker gekauft, und muß hinausgehen und ihn besehen; ich bitte dich, entschuldige mich. Und der andere sprach: Ich habe fünf Joch Ochsen gekauft, und ich gehe jetzt hin, sie zu besehen; ich bitte dich, entschuldige mich. Und der dritte sprach: Ich habe ein Weib genommen, darum kann ich nicht kommen. Und der Knecht kam und sagte das seinem Herrn wieder. Da ward der Hausherr zornig, und sprach zu seinem Knechte: Gehe aus bald auf die Straßen und Gassen der Stabt, und führe die Armen und Krüppel und Lahmen und Blinden herein. Und der Knecht sprach: Herr, es ist geschehen, was du befohlen hast, es ist aber noch Raum da. Und der Herr sprach zu dem Knechte: Gehe aus auf die Landstraßen und an die Zäune, und nöthige sie, hereinzukommen, auf das mein Haus voll werde. Ich sage euch aber, daß der Männer keiner, die geladen sind, mein Abendmahl schmecken wird.

Einem Leuchtthurme vergleichbar ragt dieses Evangelium von der Küste des göttlichen Friedenslandes zu uns herüber, und bezeichnet uns wie mit stammenden Winken die Richtung, in der wir den Winden unsere Segel zu spannen haben, wenn wir dem ewigen Verderben entfliehen wollen. Ein Mahl ist bereitet. Ein Abendmahl. Wir werden Alle als Solche angesehen, deren Lebenstag, ob auch vielleicht kaum erst erglommen, bereits wieder sich neige; ja, als die Sterbenden. Die Bereiterin des Mahles trägt einen meinem Ohre - ich weiß nicht, ob auch dem eurigen - überaus süßen Namen; sie heißet Gnade. Die Ladung, großartig und verheißungsreich sonder Gleichen, richtet sich mit unbegrenzter Liberalität an Alle, und lautet: „Kommt, es ist Alles bereit!“ Aber wehe! Viele, in die Händel dieser Welt verstrickt, haben ihres himmlischen Berufes vergessen, und folgen nicht. Es trifft sie ein schreckliches Urtheil. „Ich sage euch,“ spricht die Stimme, von der es eine Appellation an eine höhere Instanz nicht mehr giebt, „daß dieser Männer keiner mein Abendmahl schmecken wird!“ - Die Ladung aber zieht fort über die Straßen und Gassen der Stadt, und wendet sich an die Armen, die Krüppel, die Lahmen und die Blinden. Und siehe, es stellen sich deren auch nicht wenige ein; aber es ist immer noch Raum da, und voll werden soll Sein Haus. Da wird denn die Gnadenwerbung bis auf die Landstraßen und hinter die Zäune ausgedehnt. Und bis zur Stunde geht auch um euch, liebe Brüder, liebe Schwestern, die Werbung fort. - „Aber welche Werbung?“ - Die Werbung zu Christo, daß ihr euch gläubig dankbar in seine Arme werfet; denn die Uebergabe Leibes und der Seele an Ihn ist die Bedingung, an welche der Einlaß zu dem großen Abendmahl geknüpft ist. Aber, o mein Gott! noch heute heißt's hundertmal: „Ich bitte dich, entschuldige mich!“ ehe einmal der Sehnsuchtsruf ertönt: „Selig, wer das Brod isset im Reiche Gottes!“ Und immer noch muß Er, der Seine Seele hingab für die unsre, im Blick auf Tausende die alte Klage erneuern (Joh. 5, 40): „Ihr wollt nicht zu mir kommen, daß ihr das Leben haben möchtet!“ Schneidet's Einem nicht durch's Herz, solche Worte aus dem Munde, nicht eines Rabbi dieser Erde, noch eines wohlwollenden Menschenfreundes aus unsern Reihen, sondern des Weltheilandes vernehmen zu müssen? - Mein Gott! warum will man denn nicht zu Ihm kommen? Was hat man für stichhaltige Gründe, sich Ihm zu versagen? - Vielleicht bedürfen wir Seiner nicht? - oder Er blieb den Beweis schuldig, daß Er etwas könne? - oder Er hat uns nicht zu bieten, was uns Noth thut? - Um dieses dreifache Vielleicht bewege sich unsre heutige Betrachtung. Es ist Zeit, daß wir uns endlich darüber mit uns in's Klare setzen, ob es mit Grund oder mit Ungrund geschehe, daß wir uns Christi weigern.

1.

„Kommt, es ist Alles bereit!“ - So die Ladung. - Und die Antwort? - „Ich bitte dich, entschuldige mich!“ - Man will nicht zu Ihm kommen! - Nun, vielleicht bedarf man Seiner nicht. - Aber warum nicht? - Wer sind wir? Stehen wir auf gleicher Linie mit den Thieren des Feldes, die befriedigt sind, wenn sie Futter für den Leib, und Sonne haben, die sie wärme? - Tragen wir nicht unser Haupt aufrecht, und liegt nicht etwas in unsrer Natur, das noch an andre Thüren anklopft, als an diejenigen des Brodschrankes und der Tummelplätze zeitlicher Ergötzung? Ward unserm Geiste nicht der Drang angeboren, in einer Welt des Uebersinnlichen und Unvergänglichen sich anzubauen, und schreit unser inwendiger Mensch nicht nach Licht, nach Aufschluß und nach Wahrheit? Und was finden wir von dem Allen, so lange wir uns selbst belassen sind? Die Weisen nach dem Fleische können es euch sagen, die seit Jahrtausenden sich untereinander niederschlagen, und wissenschaftlich würgen; und wer zuletzt als Sieger auf dem Plane steht, dem raunt schon wieder eine dunkle Ahnung in's Ohr, daß die Füße auch Derer schon vor der Thüre seien, die ihn darnieder legen und dem Grabe der Vergessenheit ihn übergeben werden. Wir wissen aus uns selbst ja weder von wannen wir kommen, noch wohin wir gehen. Wir tappen staarblind im Finstern, und wissen nicht einmal, ob ein Gott im Himmel, geschweige, ob in Gottes weitem Hause auch für uns zu einem neuen Lebensanfange ein Raum vorhanden sei, wenn der „letzte Feind“ uns den Athem ausgeblasen, und unter seinen Füßen uns zertreten hat. Ob ein heil'ger Wille über uns walte, oder der Zufall und das blinde Ungefähr, ob wir als arme Waisenkinder durch's Thal der Erde schreiten, oder ein ewiges Vaterherz uns entgegenschlage; ob wir vielleicht nur Eintagsgeschöpfe sind, aufsteigend aus der Strömung der Natur, um sofort wieder von deren Wellen verschlungen zu werden, oder noch etwas mehr: wir wissen's ja nicht. Und wenn wir alle Philosophen der Welt um uns versammeln, wir kommen nicht dahinter und sind nicht klüger, denn zuvor. Und wir sollten eines Mannes nicht bedürfen, der mit der Ankündigung zu uns hereintritt: „Vom Himmel, aus dem Schooße des Vaters komme ich, und bezeuge euch, was ich gehört und gesehen habe.“ - O, zu wem sollten wir uns drängen, wie zu Ihm? Und Er stehet da, und muß mit Wehmuth und Erstaunen sprechen: „Ihr wollt nicht zu mir kommen, daß ihr das Leben haben möchtet!“ Alleine steht Er, und muß klagen: „Wenn Einer in seinem eignen Namen kommt, den nehmt ihr auf; mir aber, der ich in des Vaters Namen komme, glaubet ihr nicht.“

„Ich bitte dich, entschuldige mich!“ - O, entsetzlich klingt es! - Aber vielleicht sind wir Heilige, die es in aller Ruhe darauf ankommen lassen dürfen, was es mit den jenseitigen Dingen auf sich habe, und ob ein ewiges Leben sei oder keins, und ein Gott im Himmel wohne, oder Ewigkeit und Gericht nur Wahn sei? Wir sind vielleicht auch auf letzteres vollkommen gerüstet, indem wir uns etwa rühmen dürfen, daß wir von unserm ersten Athemzuge an nur Gott gelebt, und nach seinem Willen nur gefragt haben, und, von nichts als der reinsten Liebe zu Ihm getrieben, Schritt für Schritt in seinen Geboten einhergegangen seien? Vielleicht ging nie ein unreiner Gedanke durch unser Herz; nie kam vielleicht ein unnütz Wort von unsern Lippen; und unser Leben ist ein heller Spiegel, aus welchem nur das ungestückte Ganze einer durchhaltenden Gottseligkeit und Unschuld zu Tage strahlt? Nicht wahr, wie in Natterngift getunkter Hohn und Sarkasmus klingen euch diese meine Worte an? Nun, Freunde, wenn wir denn so räudige Schaafe sind vor Gott, wie unser Gewissen heimlich uns bezeugt, und bezeugen muß, wenn es ehrlich ist und der Lüge Valet gab, wie, daß wir dann nicht Ursache hätten, Fenster und Thüren einem Manne aufzuthun, der sich uns als den Hirten ansagt, welcher gekommen sei, voll unsrer Ungerechtigkeit uns zu waschen und von allen unsern Gebrechen uns zu heilen! Erstaunenswürdig ist es, daß es noch einen Menschen auf Erden giebt, der dieses Erlösers nicht zu bedürfen meint- Aber es giebt der unglückselig Verblendeten noch Millionen, die, wenn Seine Ladung an sie ergeht, nichts für Ihn haben, als ein achselzuckendes: „Gehe hin für diesmal; ich habe Gewichtigeres zu bedenken; entschuldige mich!“

Wie süß klingt des himmlischen Freundes Liebesgruß: „Friede sei mit euch!“ Und wie viel süßer noch Sein Zuruf: „Meinen Frieden lasse ich euch; ich gebe nicht wie die Welt giebt“ (d. i. nicht ohnmächtig wünschend, sondern wirklich gewährend). Sollte man nicht glauben, Alles werde zu seinen Füßen niederstürzen und schreien: „O, gieb mir diesen Frieden!“ Aber nein, tausendmal verhallt sein Gruß ohne Echo in der weiten Menschenwüste, ehe einmal sich Einer bei Ihm einstellt, auf daß Er doch nicht gar allein stehe. Aber man hat vielleicht schon Frieden? Ja wohl, so hat man Frieden, daß man die Einsamkeit flieht wie die Hölle, und vor der stillen Einkehr in sich selbst zurückscheut, als sollte man, ich weiß selbst nicht, in welches Wüst und Leer, hinunter steigen! So hat man Frieden, daß man sich da am wohlsten fühlt, wo einem die rauschenden Wasser der Zerstreuung über dem Haupte zusammen schlagen und uns an uns selber nicht mehr denken lassen! So hat man Frieden, daß man vor den Gedanken an Vergänglichkeit, Tod und Grab seine Kammerthür mit ehernen Riegeln verschließen muß, wenn nicht all unser Wohlsein und Vergnügen ein Ende nehmen soll! So hat man Frieden, daß Einer nur mit einer etwas ernsten und bedenklichen Miene zu uns zu sagen braucht: „Freund, ich habe mit dir unter vier Augen ein Wort zu reden,“ um alsobald wie mit verhängnißvollem Trommelschlag tausend schlummernde Plagegeister in unserm Gewissen wach zu rufen! So hat man Frieden, daß es mehr nicht bedarf, als daß - ich will nicht einmal sagen: der Schreckenskönig an unsre Pforte klopfe, und selbst nicht einmal: ein Theil unsres Vermögens auf dem Spiele stehe; sondern daß nur ein hoher Gönner uns etwas kühler grüßte, als gewöhnlich, oder ein Amtsgenosse vor uns einer Bevorzugung gewürdigt ward, oder eine kleine menschliche Auszeichnung, auf die wir uns Rechnung gemacht, uns ausblieb, oder in noch geringeren Dingen eine Täuschung uns widerfuhr, - ich sage, daß es in unzähligen Dingen eines Mehreren nicht bedarf, als des Erwähnten, um uns bei Tage jeden Trank mit Galle zu vermischen, und bei der Nacht den Schlummer von unsern Augen zu verscheuchen. Ja, so haben wir Frieden, daß unser Glück an Tausenden von kleinen Erbärmlichkeiten geknüpft ist, und daß wir selbst in Zeiten, die von unsern schönsten Lebensstern beschienen werden, des geheimen Nagens eines in den Hintergründen unseres innersten Wesens versteckten Wurmes so wenig je völlig los und ledig werden, daß selbst jener große Dichter unsres Volkes, der, wie nur selten ein Mensch, mit allem Erdenglücke sich überschüttet sah, auf der Höhe seines achtzigjährigen Alters zu dem unumwundenen Bekenntniß sich gedrungen fühlte, er wisse sich aus seinem langen Leben kaum einer Zeitspanne von acht Tagen zu erinnern, darin er ganz glücklich gewesen wäre. Nein, was immer auch an Lust und Freude uns umgaukeln möge, das Himmelskind Friede geht nicht zu unsrer Seite. Wir tragen Alle etwas vom Kainsstempel an unsrer Stirne; und wir bedürften des Mannes nicht, der Friedefürst heißt und ist?!

2.

„In der That, auch ist?“ - Wer spricht so? Also ihr zweifelt, und dies ist der Grund, aus dem ihr mit einem: „Ich bitte dich, entschuldige mich,“ Ihm euch entzieht. Es ist euch fraglich, ob Er etwas könne. Wohl denn; kommt her und sehet! Nicht in eine graue Vergangenheit führe ich euch zurück, um euch da seine Beglaubigungsbriefe aufzuweisen, ob sie gleich dort in seinen Wundern, in seiner Auferstehung von den Todten, in seinen Pfingstbegabungen, in seinen Weltsiegen u.s. w. thurmhoch aufgeschichtet liegen. Ich weise euch nur auf Dinge, die vor euern Augen sind, und auf Pflanzungen, von denen Er euch selbst, ehe ihr Ihm euch noch ergabt, täglich die köstlichsten Früchte zum Genüsse brechen läßt. Schaut euch nur um: so weit das Scepter unsres Christus reicht, begegnet euch kein Götze mehr. „O,“ sprecht ihr, „was ist das Sonderliches?“ - Undankbare ihr! wohl ist dies was Großes! Wisset, daß ihr heute noch, euren Urvätern gleich, vor Holz und Stein im Staube läget, wenn Er nicht gekommen wäre. Vor Ihm, und vor keinem Zoroaster, vor keinem Confucius, vor keinem Solon, ja selbst nicht einmal vor einem Moses stürzten die Altäre der alten Idole hin. Ja selbst da schon verschwanden sie vom Angesicht der Erde, wo nur, wie in die Religion des falschen Propheten Mohamed, ein leiser Schimmer seines Königsscepters hinüberblitzte. Ist das nicht Majestät? O gehet hin, und schon um solcher Gottesthat willen küsset Ihm den Saum Seines Gewandes! - Doch höret weiter! Wer seid ihr? Theilweise Tagelöhner und arme Knechte, Mägde, Wäscherinnen, und was deß mehr ist. Wisset ihr, was ihr gewesen wäret in Griechenland oder Rom, als diese Reiche auf der höchsten Stufe ihrer Cultur und Bildung standen? Heloten, d. h. eine rechtlose Race, die eigentlich zur menschlichen Gesellschaft gar nicht mitgerechnet wurde. Und jetzt seid ihr der höheren Menschenbestimmung nach Königen und Kaisern gleich geachtet, und eure Seelen gelten nicht weniger vor Gott, als jener Seelen. Wir haben euch zu ehren als Miterkaufte seines Sohnes, und als ebenbürtige Mitberufene zu einer und derselben Herrlichkeit; und wenn ihr Buße thut, ist Freude über euch im Himmel mehr, als über die Vornehmsten und Gewaltigsten nach dem Fleisch, die der Buße nicht zu bedürfen meinen. Wer hat so aus dem Staube der Verachtung euch empor gehoben? Wer also zu Ehren euch gebracht? Wer der allgemeinen Anerkennung eurer Menschenwürde also Bahn gebrochen? Der Herr Christus hat's gethan, kein Anderer. O gehet hin und bedecket seine Hände und Füße mit euren Dankesthränen! - Wo fühlt ihr euch am wohlsten in der Welt? Nicht wahr, im Schooße eurer Familien, unter dem friedlichen Palmdach der ewigen Liebe und Treue, und im Kreise eurer Kindlein, dieser lebendigen Bande um des Vaters und der Mutter Herz? Ist euch aber auch bewußt, wer dieses friedliche Zelt euch aufgeschlagen und diese Laubhütte im Pilgerthale euch erbauet hat? Das hat kein heidnischer Philosoph gethan, noch ein Gesetzgeber Rom's oder des gepriesenen Athens. Dort kannte man die Familie nicht. Sclavinnen waren die Frauen, und die Kinder „Proles“, d. i. Sprößlinge, Brut, und weiter nichts. Christus pflanzte die Familie, Er allein. O sagt doch, ist das nicht etwas Großes und göttlich Herrliches? Sollte nicht jede Hausgenossenschaft zuerst und vor Allem daran denken, Ihm in ihrer Mitte einen Altar zu errichten? - Seht euch einmal um in dem Lande darin ihr wohnet, wieviel schöne Ordnung umgiebt euch ringsumher, und wie viel feine Zucht und Sitte beherrscht die Gesellschaft! Es wird wohl viel gesündigt weit und breit, ach leider! gar zu viel; aber es will doch Niemand mit seiner Sünde offenbar werden, weil er weiß, daß von allen Seiten das Gericht sie treffen werde. Nun tretet einmal unter die Heiden zurück, selbst unter die gebildetsten derselben, die alten Griechen. Welch ein Unterschied des sittlichen Bewußtseins zwischen hier und dort. Ein Unterschied wie zwischen Tag und Nacht. Eine Menge der scheußlichsten Laster galten da für Laster nicht. Man rühmte sich sogar gewisser Grauel, als wären sie Tugenden. Thun wir gar Manches, was nicht taugt, leider! insgeheim auch selbst, so richten wir es doch unbedingt, wo es an Andern uns begegnet. Es ist uns ein seines sittliches Gewissen eingeflößt, wie die Heiden von einem solchen auch nicht einmal eine Ahnung hatten. Wer hat dieses große Wunder verrichtet, und eine so völlige Umgestaltung, ja, Verklärung unsres sittlichen Bewußtseins zu Wege gebracht? Der that's, im Blick auf welchen ihr noch fragen wollt, ob Er wohl auch etwas könne? Ehe ihr euch Seinem Scepter beugt, waltet Er schon geheim über euer Denken und Wollen, Beschließen und Vollbringen. Ehe ihr noch dem Herrn als euerm Könige huldigt, beherrscht Er euch schon wunderbarlich in den verborgensten Tiefen eures Innern. - Das „Schicksal“, wie ihr es nennt, traf euch hart. Ihr befindet euch in einer hülflosen Lage, sei es der Verarmung oder der Krankheit, oder welches Unglücks sonst es sei. Was begiebt sich? Läßt man euch zusehen, wie ihr zurecht kommt? Wahrlich nein! Ehe ihr es euch verseht, erscheinen Leute in eurer Jammerklause, bekannte, oder fremde, die euch nie begegnet, und sprechen euch theilnehmend zu, legen mitleidig Hand an, euch zu helfen, und laben euch, ohne nach Lohn zu fragen, hiemit oder damit; und wenn ihr es so wollt, tragen sie euch in stille und saubere Samariterherbergen und Asyle der Verpflegung. Was ist das? Das ist die heilende, die zurechthelfende, die rettende Liebe, welche die Heiden nicht kannten. Armen- und Krankenhäusern u. dgl. begegnet man unter ihnen nicht. Wer pflanzte diese Liebe? Christus that's, und sogar in denen schon pflanzte Er sie, die, Ihm selbst noch den Rücken kehrend, nur von der äußersten Atmosphäre seines Reiches erst leise gestreift und berühret werden. - An ein offnes Grab seht ihr euch gestellt. Ein Todter, in euren Thränen gebadet, sinkt in die Gruft hinab, und nimmt die Hälfte eures Herzens mit sich. Ihr steht und weint. Das Lied „Jesus meine Zuversicht“ tönt euch an. Ein fremder Klang für euch. Ihr glaubt an Jesum nicht. Und doch, durch alle eure Zweifel ringt sich siegend der Gedanke durch: „Dieser Entschlafene muß leben, er muß, und ich werde ihn wiedersehen!“ Ja, wenn es darauf ankommt, so findet sich's, daß in die Gemüthswelt Aller, die nur die Luft des Christenthums athmen, ob sie auch in ihrem Unglauben Christo den Scheidebrief gegeben, die unverwüstliche Himmelssaat der Hoffnung eines ewigen Lebens ausgestreut ist. Sie werden gewissermaßen notgedrungen, zu hoffen, und zu einem Jenseits hinauf zu schauen. Wer hat doch so tief in die Herzen der Menschen, und selbst in diejenigen seiner Feinde eingegriffen, und so mächtig und wunderbar die verborgensten Seiten ihrer Seele berührt und gestimmt? - Das hat der gethan, der da ruft: „Siehe ich mache Alles neu,“ Jesus Christus, und der nur zu erscheinen braucht, um, auch unaufgenommen schon, diesen seinen Ruf in mancherlei Weise thatsächlich zu besiegeln.

3.

Ich könnte euch, geliebte Freunde, solcher Denkmale seiner Macht noch mehrere nennen, zwischen denen ihr, ohne es zu wissen, tagtäglich umhergeht; aber für diesmal möge es bei den genannten sein Bewenden haben. Ihr werdet ja jetzt wohl nicht mehr fragen, ob Christus etwas könne und vermöge. Aber begnügt euch nicht damit, diese thörichte und strafbare Frage zurückzunehmen. Gehet weiter vielmehr, und lasset ab, wie unvernünftige Kinder gegen die Schlußfolgerung euch zu sträuben, zu welcher das, was feststeht, und vor euren Augen ist, unbedingt euch nöthigt. Der so Großes in der Welt gegründet und gepflanzt hat, und selbst diejenigen, die noch nie in eine persönlich freundliche Berührung mit ihm kamen, von Tag zu Tage so unvergleichlich köstliche Güter und Segnungen genießen läßt, der muß für Solche, die in eine Einigung des Glaubens und der Liebe mit Ihm eingehen, unfehlbar Alles Alles haben, was ihnen noth ist, und ihr Herz begehren kann. So lautet die Folgerung. Daß es aber mit derselben seine Richtigkeit habe, o geht, und erprobet es, wie es jubelnd und jauchzend Millionen schon erprobten.

Freilich kommt zuerst Alles darauf an, daß wir der Ladung in das Reich der Gnade folgten, und dem Volke Gottes beigehören. Die Abzeichen dieses Volkes, welche sind sie? - Die Kirchlichkeit etwa? - O nein, sie könnte trügen. Die Sprache Kanaans? - Auch ihrer kann man ohne Zuthun des Heiligen Geistes sich bemächtigen. - Der Abendmahlsgenuß? - Ach, nicht alle Gäste beim heiligen Tische lud der Herr. - Die Theilnahme an christlicher Vereins-Thätigkeit? - Dieselbe kann mannichfaltige und sogar sehr trübe Motive haben. Das Eigenthümliche des heiligen Volks ist ein Etwas, das sich nicht erborgen, noch absehn, noch erlernen läßt. Es ist etwas Unnachahmliches wie der Schmelz der Blumen, des grünen Feldes Hauch, der Schlag der Nachtigallen. Es ist eine auf dem Grunde einer tiefen Beugung ruhende stille Herzensfreude an Gott, in dem man als verlornes Kind den in Christo versöhnten Vater wiederfand. Es ist ein mit dem lebhaftesten Abscheu wider Alles, was Sünde heißt, verbundener kindlich heitrer Verkehr mit diesem Gott, und ein Daheimsein an Seinem Thron und Seinem Herzen mit Glauben und Vertrauen, Gebet und Flehen. Es ist ein durch die herzerneuernde Macht des Heiligen Geistes bewirktes innerstes Einsgewordensein mit dem göttlichen Gesetz, so daß man fröhlich und leicht, wie die Quelle strömt, die Blume blüht, der Vogel singt, das Böse meidet und das Gute thut. Es ist ein Anschaun aller Dinge mit dem Auge Eines, der „im Himmel wandelt“; ein gründliches Vergnügtsein mit der Freude Eines, der am Ziele seiner Wünsche angelangt ist; und ein Lieben der Brüder mit einem Fünklein der Jesusliebe. Es ist ein wirkliches Weben und Bewegen durch Christum in Gott; ja, nach dem Ausdruck des Apostels, ein „Nicht-mehr-selber-leben“, sondern ein „Leben und Innewohnen Christi in uns.“ - Ein wahrhaft neues Sein mithin, aber ohne Prunk und Ostentation, da auf Allem, was man ist und thut, der Schmelz der Einfalt und der wahrsten Demuth ruht. Seht, dies sind einzelne Wesenszüge der Kinder des Heiligen Geistes, wenn sie nämlich völlig ausgeboren, d. h. nicht mehr, erst auf Vorstufen der Wiedergeburt stehend, vom h. Geiste nur gestreift und geweckt, sondern mit dem Geiste erfüllt, und nicht mehr als Knechte nur unter das Gesetz gethan, sondern in lebendiger Innewerdung Christi und der Kraft seines blutigen Verdienstes zur Freiheit der Kinder Gottes hindurchgekrochen sind. O, wären die Kinder Gottes immerdar von vornherein gleich das gewesen, was der Heilige Geist, dessen Amt es ist, Christus in den erlösten Sündern zu verklären, hienieden schon ans denen machen kann, die ganz seiner Bildnerhand sich überlassen; die Spott- und Ekelnamen: „Pietist“, „Kopfhänger“ u. s. w. würden niemals wider sie aufgekommen sein. Denn Unholdes zeugt der Geist von Oben nicht. Die erneuerten Persönlichkeiten, die fertig aus seiner Werkstatt hervorgehn, werden wenigstens insofern auch „Gnade finden bei allem Volk“, daß sie sich auch Seitens der Ungläubigen das, mindestens heimliche, Zugeständniß erzwingen werden, daß, wenn alle Welt wäre, wie sie: so lauter, so anspruchslos, so zufrieden und so liebevoll und dienstbereit, die Erde wieder zu einem Vorhof des Himmels sich verklären würde.

Seid ihr nun erst diesem, in aller Unscheinbarkeit seines äußeren Auftretens wesentlich erneuerten, und bei der pünktlichsten Beobachtung aller seiner zeitlichen Obliegenheiten himmlisch gesinnten Geschlechte einverleibt, so erfahrt ihr bald, was der Ruf bedeutet: „Kommt, es ist Alles bereit!“ Der Segen Immanuels ergießt sich über euch in Strömen, und keins eurer verborgensten Bedürfnisse bleibt unerfüllt und unbefriedigt. Aus den Nebeln der Ungewißheit tauchte in himmlischem Lichte strahlend die Küste der untrüglichen Wahrheit vor euch auf, und mit einem friedsamen: „Ich weiß, an welchen ich glaube“, zieht ihr nach langer Irrfahrt die Segel ein, und werft auf ein „siebenfach im Feuer bewährtes“ Gotteswort für immer den goldnen Glaubensanker. Ihm, welcher „todt war, und siehe, er lebt“, zeigt ihr den Schuldbrief, der euch verdammt, so wie die Fesseln der Sünde, die euch gebunden halten, und den erstern zerreißt Er, indem Er euch absolviert; die andern streift Er für immer von euch ab, indem Er durch seinen heiligen Geist der Herrschaft der Sünde über euch ein ewiges Ende macht. Ihr enthüllt Ihm euer armes, ödes, ruheloses Herz, und spricht Er nun sein „Friede sei mit euch!“ euch zu, so hastet sein Friede, und ihr frohlocket mit der Braut im Hohenliede: „Ich sitze unter'm Schatten deß, des ich begehre, und seine Frucht ist meinem Gaumen süße!“ - Und je rückhaltloser ihr euch Ihm ergebt, um desto reichlicher werdet ihr inne, daß Er nur kam, um uns, den in Adam gefallenen Königen, ihre ursprüngliche, schmählich eingebüßte Würde und Herrlichkeit zurückzugeben. Er löst euch von der Scholle, und macht euch frei von Allem, was menschlich, irdisch und vergänglich ist. Er verseht euch in eine Lage, da die Welt euch Alles wieder nehmen kann, was sie euch dargereicht, ohne eure Freude, die aus ihren Quellen nicht mehr quillt, noch zu verkürzen. Es macht euch hinfort keine schlaflose Nächte mehr, daß Dieser euch seine Gunst entzog, und Jener ein Blatt aus eurem Ehrenkranze rupfte; denn welch' eines Gönners habt ihr euch nun zu rühmen, und welch' eine Glorie ist euch zu Theil geworden! Ihr wißt, wessen Huld euch bestrahlt, in wessen Reich ihr das Bürgerrecht erlangtet, wessen Interessen ihr dient, und in wessen Gängelbanden ihr einhergeht. Ach, nur ein erneuerter Gruß von Ihm in einer Gebetserhörung, die ihr erlebt, in einem Rathe, den Er euch ertheilt, in einer Aushülfe, mit der Er euch überrascht, wie wiegt Er schon an beglückende r Wirkung Alles, Alles auf, was die Welt euch geben oder vorenthalten kann. Alles ist euer: Vergebung, Gerechtigkeit, Friede, Heiligungskraft, Liebesseligkeit, Zugang zum Gnadenthron, Vertrautheit mit Gottes Plänen, Ueberwindermuth zum Leben und zum Sterben. Und nun erst die „Beilage“, die euer da oben harrt! Das überschwengliche Erbe durch den Glauben ergreifend, schwebt ihr bereits über den Höhen der Erde, und Tod, Teufel und Hölle liegen entwaffnet unter euern Füßen! -

Ihr seht, das dreifache „Vielleicht“, das wir zu Anfang unserer Bettachtung vernahmen, ermangelt jeglicher Begründung. Weder steht's in Frage, daß wir Sein bedürfen, noch, daß Er etwas könne, noch daß Er Alles, was uns noth ist, uns zu geben habe. Nicht aussprechen läßt sich's, wie groß Er ist „von Rath und That“. Und er soll ferner noch alleine stehn mit seiner Ladung, und als Echo auf sein holdseliges: „Kommt, Alles ist bereit!“ nur unser achselzuckendes, kaltgründiges „Ich bitte dich, entschuldige mich!“ vernehmen? - Nein, eilends hin zu Ihm! Ihm mit Leib und Leben uns hingegeben! Ihm den Thron unsers Herzens eingeräumt, ja Ihm allein! Und nicht geruht, bis im Vollbesitz Seiner Gnadenfülle auch unsre Seele tief befriedigt in Assaphs Worte einzustimmen befähigt ward und sich gedrungen fühlt: „Wenn ich nur Dich habe, frage ich nichts nach Himmel und nach Erden!“ -Amen.

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