Krummacher, Friedrich Wilhelm - XXXII. Die letzten Tage.

Jedermann weiß, ein Tag auf Erden werde einmal sein letzter sein, an welchem er seine Rechnung mit dem Leben abzuschließen, und Allem, was in der Welt ihm lieb und werth, den Scheidegruß zu bieten habe. Wohl dem, der dem geheimen Schauer, welcher das Wörtlein „zu guter Letzt,“ und die Kunde: „Bestelle dein Haus, denn du mußt sterben“ zu begleiten pflegt, den Schild eines Bewußtseins entgegen zu halten hat, wie es einen Paulus beseelte, der in dem letzten seiner Sendschreiben (2. Tim. 4.) der Mittheilung, daß die „Zeit seines Abscheidens vorhanden“ sei, den freudigen Ausruf beifügen konnte: „Ich habe einen guten Kampf gekämpft, den Lauf vollendet und Glauben gehalten!“ Er bezeichnete damit die Ausbeute seines Erdendaseins, die überschwenglich ausreichte, ihn alles Andere, dessen er sich zu rühmen oder zu erfreuen hatte, gleich welkem Laube mit Ruhe und Gleichmuth von sich abfallen sehn zu lassen, und seiner Seele Muth und Zuversicht zu dem triumphirenden Zusatze zu verleihen: „Hinfort ist mir beigelegt die Krone der Gerechtigkeit, welche mir der Herr an jenem Tage, der gerechte Richter, geben wird.“ Groß stand der Mann aus Tarsen am Schlusse seines Erdenwallens da, größer, als irgend einer der Heiligen des alten Bundes. Wenn aber unter den letzteren Einer an die Größe des neutestamentlichen Apostels nahe hinanreichte, so war es der König David, wie wir davon uns heute überzeugen werden.

1. Chronica 29, 28. David starb in gutem Alter voll Lebens, Reichthum und Ehre.

Davids Tage sind gezählt. Mit gutem Grunde durfte er mit den Worten des 69. Psalmes sagen: „Der Eifer um dein Haus hat mich verzehrt.“ Er begegnet uns heute auf dem Gange, von dem er glaubensvoll im 23. Psalm sang: „Und ob ich schon wandele im finstern Thal, fürchte ich kein Unglück: denn Du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich.“ Diesem seinem Glauben blieb auch die göttliche Besiegelung nicht aus. Wir nahen dem Siech- und Sterbebette des Königes. Davids Stellung vor Gott, seine letztwilligen Verfügungen und sein Schwanenlied bilden die Gegenstände unsrer Betrachtung.

1.

Eine große Wandlung nehmen wir wahr, indem wir heute die Hofburg auf dem Berge Zion betreten. Ein tiefes ängstliches Schweigen herrscht in den einst so belebten Räumen. Das Hofgesinde durchschleicht stumm und leisen Trittes die Gemächer, und tiefe Trauer, aber eine andere und heiligere, als sie uns weiland hier begegnete, spricht aus allen Angesichtern. Ist's doch, als wollte Alles, was uns umgiebt, selbst Pfeiler und Wände, uns das düstere Klagelied des Propheten fingen: „Alles Fleisch ist wie Gras, und alle Herrlichkeit des Menschen wie des Grases Blume. Das Gras ist verdorrt, und die Blume ist abgefallen.“ Der königliche Thron steht einsam und verhüllt, und statt der Kämmerer und Schloßhauptleute erscheinen jetzt die Aerzte als die Gebietenden im Hause. Schwer erkrankt liegt der König darnieder. „Er konnte, ob man ihn gleich mit Kleidern bedeckte, nicht mehr warm werden,“ meldet die Geschichte. Man hat dies Erstarren des Bluts in seinen Adern dem Schrecken zuschreiben wollen, der sich seiner beim Anblick der Engelerscheinung auf der Tenne Aravne bemächtigt, und ihn nicht mehr verlassen habe. Ob diese Meinung begründet, ist sehr fraglich. Gewiß nur ist nach 1. Chron. 21, 29. 30, daß die Bestürzung, in die jenes Gesicht ihn versetzte, ihm mit Veranlassung dazu gab, die Tenne des Jebusiters zur Opferstätte zu ersehen, weil die Jerusalem bedrohende Gefahr zu dringend erschien, als daß sie ihm Zeit gegönnet hätte, zu deren Abwendung erst den weiten Weg nach der Höhe Gibeon, wo damals noch der Brandopferaltar weilte, anzutreten. Unter denen, die des kranken Königs warten, bemerken wir auch die Abisag von Sunem, ein junges, gesundes Kind, dessen Atmosphäre nach dem Rate einiger königlicher Hofbedienten, welche einen zu jener Zeit im Morgenlande weit verbreiteten Volksaberglauben theilten, dazu beitragen sollte, die hinschwindende Lebenskraft des Königes wieder zu heben und neu zu frischen. Ob und wie weit der König selbst auf diesen thörichten Rath seiner Diener eingegangen sei, wird nicht berichtet. Wohl aber weist die Schrift jeden nichtswürdigen Argwohn, der hier auftauchen könnte, ausdrücklich mit großem und feierlichem Ernste zurück.

David befand sich also jetzt an der Stelle der Lebensreise, wo die Wanderstraßen aller Sterblichen, gleichviel, ob dieselbe über die stolzen Höhen irdischer Macht und Größe sich hinzog, oder durch dunkle Thalschluchten der Niedrigkeit und des Elends sich hindurchwand, wieder zusammen treffen. Was wird hier aus dem Unterschiede zwischen dem Herrscherpurpur und dem Tagelöhnergewande? Was aus demjenigen des Standes, des Ansehns oder Glücks überhaupt, den die Welt in ihrer Blindheit so hoch anzuschlagen pflegt? Hier zerrinnt er in nichts, während der, den Gott setzt, erst jetzt zur vollen Erscheinung kommt. Treten wir dem hohen Kranken näher. O, in einer wie viel schönern Krone, als die goldene, die ihn zierte, liegt er vor uns! In welch' unendlich edlerem Schmucke, als der Siegeslorbeer war, der seine Stirn umgrünte, verläßt er die Welt! Was ihn vor Tausenden seiner Mitpilger so hoch erhöhte, war ja nicht das Kleid, die Titulatur, der Beifall der Menge; sondern die Gnade, die an ihm ihre schöpferische Bildnermacht verherrlichte. Und wozu weiß diese doch einen armen sündigen Sohn des Staubes umzuwandeln! Unser natürliches Auge sieht hier in dem auf der Rhede der Ewigkeit liegenden David freilich nur einen Menschen, der in jeglichem Sinne des Worts mit Hiob sprechen muß: „Nackt kam ich von meiner Mutter Schooß, und nackt fahre ich wiederum von hinnen.“ Aber in welcher Glorie stellt sich dieser von aller Erdenpracht jetzt entblößte Erdensohn dem Glaubesauge dar, das ihn im Lichte des untrüglichen Gotteswortes anzuschauen weiß! Da liegt er vor uns, ja, ein Sünder, den mit Recht das niederschmetternde: „Du bist der Mann des Todes!“ traf; der aber, nachdem er aus dem Feuertiegel gründlicher Buße wieder heraufgestiegen, ganz jetzt seines Gottes eigen ist, Ihm allein leben wollend und nur nach seiner Gemeinschaft dürstend. Wer wagt es, diesen Mann ferner zu verdammen? Der Hocherhabene, der in seiner Sache das letzte Wort hat, kennt ihn, den freilich das Gesetz verurtheilt, „nicht mehr nach dem Fleisch,“ sondern hat auf Grund der blutigen Vermittlung, die dem das Vergangene, Gegenwärtige und Zukünftige in einem Blicke überschauenden Gottesauge bereits eine vollendete Thatsache war, den Trost freier und unbedingter Gnade ihm zugesprochen: „Ich tilge deine Missethat wie eine Wolke, und deine Sünde wie einen Nebel. Um meinetwillen tilge ich sie, und gedenke ihrer nicht mehr!“ Und mehr noch, denn dies! Wie herrlich hat er dem königlichen Kranken gebettet! Nicht im Schooße seiner verschonenden Großmuth nur ruht der König; sondern als Gegenstand seines göttlichen Wohlgefallens im Arme seiner Liebe. Wem dankt der Beglückte dies, als dem lilienreinen Gewande, welches seine Blöße deckt, und das nicht ein selbst gewobenes und erworbenes, sondern ein auf dem Wege geheimnißvoller göttlicher Zurechnung ihm von Oben her dargereichtes und geschenktes ist. Darum dreimal Heil ihm! Ja, Größeres noch ist sein Theil, als Vergebung. Nicht als wäre nicht auch diese schon ein Schatz des höchsten Preises werth. Schulderlassung errettet von der Verdammniß und entreißt der Hölle. Aber sie allein gewährt noch keinen Anspruch auf Hausgenossenschaft und Kindesrecht im Reiche des Vaters, sondern läßt den begnadigten Sünder noch kleinlaut und schüchtern von ferne stehn. Rechtfertigung ist mehr als Absolution. Sie verleiht Gerechtsame der herrlichsten Gattung, und versetzt den Sünder in jenen vertraulichen Verkehr mit Gott zurück, dessen er in seinem Urahn im Paradiese sich einst erfreute, aber verlustig ging. Die uns zugedachte Begnadigung wäre etwas Halbes nur, würden wir durch sie blos pardonnirte und nicht auch rehabilitirte Sünder. Unsere persönliche Heiligung bleibt, so lange wir im Leibe wallen, Stückwerk, das zu keinerlei Anforderungen an den, der „in einem Lichte wohnt, zu welchem Niemand kommen kann“, uns berechtigen könnte. Es ist aber außer der erst von uns angestrebten und im Werdeprozeß begriffenen persönlichen Gerechtigkeit bereits eine vollkommene für uns vorhanden: die Gerechtigkeit unseres Hauptes Jesu Christi, deren Alle, die des Glaubens an ihn sind, als ihrer eignen sich zu rühmen göttlich ermächtigt wurden. Diese große und geheimnißvolle Wahrheit bildet den Kern und Mittelpunkt des ganzen Evangeliums, und nimmer werden uns etwaige Einwürfe der natürlichen Vernunft, die ja laut dem Zeugniß der Schrift „von den Dingen, die des Geistes Gottes sind, nichts vernimmt,“ um dieselbe zu betrügen im Stande sein. Wiedergeborene werden nicht blos absolvirt, sondern auch justificirt, d. h. gerecht gesprochen. Nicht nur „gewaschen“ werden sie „im Blute des Lammes“, und dadurch des Fluches ledig, sondern sie machen in demselben auch „ihre Kleider helle“, und werden in diesem Schmucke der Krone der Herrlichkeit würdig erklärt. O Sterbelager eines Menschen in Christo! Was giebt es Hehreres und Ehrfurcht Gebietenderes als das? Der Fittig der ewigen Liebe breitet sich darüber her! Heilige Engel umstehn es als stille Hüter. Die Verkläger, wie immer sie heißen mögen, sind von solcher Stätte göttlich hinweg gewiesen, und das himmlische Jerusalem öffnet darüber seine Perlenthore zur Aufnahme der scheidenden Gott geweihten Seelen. So ruhe denn, Sohn Isais, auch du! Wirf jegliche Sorge von dir ab auf den, der deine Sache zu der seinigen gemacht hat, und für dich einsteht. Deine Prozesse sind sämmtlich dir zu Gunsten entschieden. Triumphire über alle deine Feinde, und freue dich der vollkommensten Erlösung!

Schon freut er sich derselben. „Wie, er schon, der Mann des alten Bundes, der die Verheißung der Menschwerdung Gottes erst “„von ferne grüßte?“„ - Freilich, die volle reine Seligkeit eines Paulus oder Johannes kannte er noch nicht. Aber in dem Maaße der Klarheit, in welchem das Evangelium von Christo auch schon die Haushaltung des Gesetzes durchdämmerte, war der unvergleichliche Friedens- und Freiheitsstand der Kinder Gottes auch seinem Bewußtsein aufgegangen, und zwar heller und umfangreicher, als dem irgend eines andern seiner alttestamentlichen Glaubensgenossen. Die Gnade aber, deren er sich versichert fühlt, macht ihn stark, auch den Schreckenskönig zu überwinden. Wir hören ihn zur Bathseba sagen: „So wahr der Herr lebt, der meine Seele erlöset hat aus aller Noth.“ Dieses Wort schon eröffnet uns einen hellen Blick in sein Innerstes. Wir sehen, hier ist's schon lichter Tag. Er schaut auf seine siebzigjährige Erdenwallfahrt zurück, und welch eine Reihe von Gefahren, Nöthen und Versuchungen, und leider! auch von schweren Mißgriffen, Verirrungen und Sündenfällen taucht da vor seiner Erinnerung auf! Anbetendes Erstaunen übermannt ihn, wie solches zuletzt die Pilger Gottes alle am Ziele ihres Lebensganges übermannen wird. Denn wie treu war Gott, und wie bewahrheitete sich's, daß „Gottes Gaben und Berufungen ihn nicht gereuen mögen.“ „Erlöset,“ spricht David , „hat er mich aus aller Noth.“ Ohne Zweifel gedenkt er vornehmlich der Herzensnoth, die er im 32. und 51. unsrer Psalmen schildert, und die ihm unter Anderm die Klage entpreßte: „Ich bin müde vom Seufzen, ich schwemme mein Bette die ganze Nacht mit meinen Thränen, und meine Gestalt ist verfallen und alt geworden von meinem Weinen.“ Und was hatte er erleben dürfen? Gott war größer gewesen, als sein Herz, und „hatte ihn wissen lassen die heimliche Weisheit;“ ja ihn „entsündiget mit Ysop,“ und „ihn gewaschen, auf daß er schneeweiß würde.“ Diese Ausdrücke bezeichnen dasjenige, was jetzt vor allem Andern seine Seele erfüllte, und so liegt er unter dem freilich nur erst leise aus ferner Zukunft zu ihm herüberschwebenden Geläute der neutestamentlichen Sabbathglocken segelfertig zur Abfahrt in das Canaan jenseits der Wolken.

2.

Er bescheidet seinen Sohn Salomo an sein Krankenbett, um ihm seine letztwilligen väterlichen Weisungen und Aufträge mitzutheilen. Weit entfernt, aus diesem feierlichen Akte eine Scene thränenweicher Empfindsamkeit zu machen, oder auch nur eine leise Spur des Schmerzes über die ihm bevorstehende Entkleidung von seiner Erdenherrlichkeit blicken zu lassen, ist er fest, heiter und getrost in seinem Gott, und freudig bereit, die Purpurlappen, die ihn hienieden schmückten, mit den Lichtgewanden der Harfenschläger am Thron, das zerbrechliche Scepter seines irdischen Königthums mit der Palme des Triumphs der himmlischen Ueberwinder zu vertauschen. „Ich gehe hin,“ spricht er, „den Weg aller Welt.“ Man könnte meinen, in einem so ernsten und entscheidenden Moment, wie er jetzt für ihn gekommen war, habe er sich salbungsreicher und feierlicher ausdrücken müssen. Aber die durch die göttliche Gnade frei Gewordenen hassen Alles, was an fromme Schaustellung grenzt; und wie könnten sie gar mit ihrem seligen Heimgang prangen und prunken wollen? Sie denken und empfinden aber mehr, als das schlichte ungekünstelte Wort ihrer Lippen ahnen lässet. - David fährt zu seinem Sohne fort: „So sei nun getrost, und sei ein Mann!“ Eine kurz gefaßte bündige Mahnung; aber bedeutsam und inhaltreich für Salomo genug. „Sei getrost,“ d. i.: Steife dich auf deinen Gott. „Sei ein Mann,“ das hieß: Mit Gott gehe grade durch und thue feste und gewisse Tritte in seinem Wort! „Warte auf die Hut des Herrn deines Gottes,“ spricht David weiter, d. i.: halte fest an Allem, was der Herr geboten hat, und in seinen Ordnungen und seinen Satzungen siehe die Richtschnur und die Schranke deines künftigen Regimentes. David schließt: „Wandle in Gottes Wegen, und halte seine Sitten, Gebote, Rechte und Zeugnisse, wie geschrieben stehet im Gesetze Moses, (5 Mos. 15), auf daß du klug seiest in Allem, was du thust, und wohin du dich wendest; auf daß der Herr sein Wort erwecke, das er mir geredet hat und gesagt: Werden deine Kinder ihre Wege behüten, daß sie vor mir treulich und von ganzem Herzen und von ganzer Seele wandeln, so soll's deinem Hause nimmer gebrechen an einem Manne, der auf dem Stuhle Israels sitze.“ - Fürwahr, ein treffliches Abschiedswort eines sterbenden Fürsten an den Erben seines Thrones! O daß überall und zu allen Zeiten Aehnliches zu dem Thronfolger verlauten möchte, wo an eines Herrschers Ohr die göttliche Weisung schlägt: „Thue nun weg den Hut, und hebe ab die Krone; denn du kannst nicht länger König sein!“ -

Nach jener väterlichen Anrede empfiehlt David seinem Sohn die Kinder des alten Barsillai, des Gileaditers, daß er fortfahre, Barmherzigkeit an ihnen zu üben, und sie auch fernerhin an dem königlichen Tische das Brod essen lasse. „Denn also,“ spricht er, “ thaten die Getreuen, sich zu mir, da ich vor Absalon, deinem Bruder, fliehen mußte.„ Jetzt vernehmen wir aber etwas aus Davids Munde, in das wir, die Kinder eines andern als des alttestamentlichen Geistes uns nicht leicht zu finden wissen werden. Wir hören den Scheidenden nemlich zu seinem Sohne sagen: „Auch weißt du wohl, was mir Joab. der Sohn der Zeruja, that; was er that den beiden Feldhauptleuten Israels, Abner, dem Sohne Ner's, und Amasa, dem Sohne Jether's, die er erwürgte. Er vergoß Kriegsblut im Frieden, und befleckte damit den Gürtel um seine Lenden und die Schuhe an seinen Füßen. Thue nun nach deiner Weisheit, daß du seine grauen Haare nicht mit Frieden in's Todtenreich bringest. Und siehe, du hast bei dir den Simei, den Benjamiten von Bahurim, der zu der Zeit, da ich gen Mahanaim ging, mir schändlich fluchte, aber später, (bei meiner Rückkehr) mir bis zum Jordan entgegen kam. Damals schwur ich ihm bei dem Herrn und sprach: Ich will dich nicht tödten mit dem Schwert. Du aber, mein Sohn Salomo, laß ihn nicht schuldlos sein; denn du bist ein weiser Mann, und wirst wohl wissen, was du ihm thun sollst, daß du seine graue Haare mit Blut hinunter in das Todtenreich bringest.“ - Wer hat nicht schon an diesem Auftrage Davids sich gestoßen? Befleckte er damit nicht zuletzt noch nur sich selbst? Jene beiden Männer, die er einst glauben machte, daß er ihrer Verschuldungen nicht mehr gedenke, empfiehlt er mit erblassendem Munde noch der nachträglichen Rache seines Thronerben! Sieht dies einem gottesfürchtigen Manne ähnlich, und vollends einem Manne, der das niederbeugende und zu versöhnender Milde stimmende Bewußtsein in sich trug, daß ihm selbst Verdammlicheres noch, als jene Beiden begingen, von dem Gott aller Gnaden verziehen worden? Immer werden jenem Zuge im Leben Davids gegenüber wieder Aeußerungen schmerzlichen, ja entrüsteten Befremdens verlauten, sofern man Zeiten und Verhältnisse mit einander verwechselt, und sich den König David schon auf der sonnigen Glaubenshöhe derer stehend vorstellt, welche im allseitig entfalteten Glanze der „Freundlichkeit und Leutseligkeit Gottes“ sich ergehen, nachdem sie den Anbruch des Friedensreiches dessen erlebten, der mit der Verkündigung auftrat: „Ich bin nicht gekommen, daß ich die Welt richte, sondern daß die Welt durch mich selig werde.“

David aber gehörte trotz aller seiner Erleuchtung der Zeit noch an, da es im Heilsrathe Gottes lag, vor allem Andern das: „Ich bin heilig, und ihr sollt auch heilig sein!“ als ersten und obersten Denkspruch mit unauslöschlicher Flammenschrift in die Herzen des Volks hineinzuschreiben. Es war, wie der Galaterbrief sich ausdrückt, die Zeit „des Testamentes vom Sinai,“ über der mit alle andern Laute übertönendem Hall das erschütternde: „Ich bin ein eifriger Gott, der die Missethat der Väter heimsucht an den Kindern bis in's dritte und vierte Glied“ hindonnerte, und in der nach Hebr. 2, 2 „das Wort zu Mose, durch die Engel geredet, dadurch fest (d. i. beglaubigt) wurde, daß eine jegliche Uebertretung und Ungehorsam den rechten Lohn empfing.“ David war theokratischer König, der dem Character der damaligen Reichsperiode gemäß, in welcher als „Zuchtmeister auf Christum“ das Gesetz zeitlicher Vergeltung herrschte, sein Regiment zu führen hatte. Nach dem Wortlaut dieses Gesetzes war er unbedingt gehalten, sowohl den Tod seiner Feldhauptleute Abner und Amasa, von denen der letztere ihm obendrein blutsverwandt war, an Joab, der beide meuchlings hingeschlachtet hatte, zu rächen, als auch wider den Benjaminiten Simei, der in ihm, dem Gesalbten des Herrn, öffentlich den Herrn selber lästerte, der Gerechtigkeit freien Lauf zu lassen. Wohl ließ David zur Zeit seiner Wiedererhebung auf den Thron einstweilen Gnade vor Recht ergehen. Joabs, des Mörders Abners, schonte er, weil er, der eben erst gekrönte König, laut seiner eigenen Aeußerung „noch jung und zart“ war, und unter den Wirren, die zur Zeit seines Regierungsantritts, den er auch nicht gerne mit einer Blutthat bezeichnen mochte, eines so entschlossenen und tapfern Kämpen, wie Joab war, nicht wohl entrathen konnte. Nach der Niedermetzelung des Amasa durch Joab aber vermochte er es nicht über sich, an diesem die gebotene Strenge zu üben, da ihm, dem Könige selbst, nach seinem eignen tiefen Falle der Herr sein Gott so überschwenglich gnadenreich begegnet war. Den Lästerer Simei nahm er damals gegen die bereits wider ihn gezückten Schwerter seiner Heerführer schon deshalb in Schutz, weil er in seinen Flüchen und Steinwürfen nur ein wohlverdientes göttliches Strafgericht über sich, den größeren Sünder, erkannte. Daß er dem Simei auch später am Tage seiner siegreichen Rückkehr nach Jerusalem sogar feierlich zuschwor, er werde ihn nicht, wie er es verdient, am Leben strafen, geschah im Ueberschwang der dankbaren Freude seines Herzens über die ihm zu Theil gewordene Gotteshülfe. Er handelte hier aus persönlicher Feindesliebe als Privatmann, und nicht als König. Wollen wir dies eine Schwäche nennen, so war sie jedenfalls eine verzeihliche. Jetzt standen aber die durch das ganze Land ruchbar gewordenen Frevelthaten Joabs und Simeis ungesühnt vor dem Volke da, und dies bedrohte das Ansehn des Gesetzes mit einer folgenschweren Verdunkelung. Und wer hatte es verschuldet? David war sichs wohl bewußt. Auf seinem Sterbebette noch beunruhigte ihn die unerledigt gebliebene Sache sehr, und so überwand er sich, und richtete, indem er die Gefühle seines zum Verzeihen geneigten Herzens gewaltsam seinem Gewissen und der unwiderruflichen Gottessatzung unterordnete, an seinen Sohn die Worte, die wir vernommen haben. Salomo soll an den beiden Uebelthätern nachträglich die Vergeltung vollziehen, die das Gesetz erheischte, und dies um so mehr, da sie bisher auch nicht eine Spur von aufrichtiger Reue hatten blicken lassen. Seinem Auftrage fügte er jedoch ihn in etwa mildernd die Bemerkung bei: „Du bist ein weiser Mann, und wirst ja wissen, wie du dich zu verhalten hast.“

Offenbar lag hierin die Aufforderung, er möge die allezeit gefährlichen Männer genau beobachten, und sich bei Gott im Gebet befragen, was hier Rechtens sei, und dem Könige Israels zieme. Den Joab ereilte sein Schicksal bald. Nachdem er sich in neue hochverätherische Umtriebe mit Adonia eingelassen hatte, wurde er auf Salomos Befehl vor dem Altare der Stiftshütte, bei dem er eine Freistätte zu finden gehofft, durch Benaja, des Hohenpriesters Jojada's Sohn, erschlagen. „Schlage ihn,“ hatte der Befehl gelautet, „daß du das Blut, welches Joab umsonst vergossen hat, von mir thuest und von meines Vaters Hause, und daß ihm der Herr dasselbe auf seinen und seines Samens Kopf bezahle, David aber und sein Haus und sein Stuhl ewiglich Frieden habe von dem Herrn.“ Den Simei behielt Salomo noch eine zeitlang, ihn beobachtend, in seiner Nähe. Da er aber auch an ihm keinerlei Sinnesänderung wahrnahm, weihete er ihn ebenfalls, und zwar zunächst aus Veranlassung eines von Simei verübten offenen Bruchs des ihm auferlegten Stadtbannes, dem Tode, und schied von ihm mit den Worten: „Dein Herz ist sich aller Bosheit bewußt, die du an meinem Vater David gethan hast. So bezahlt dir nun der Herr dieselbe auf deinen Kopf. Der König Salomo aber ist gesegnet, und der Stuhl Davids wird beständig sein vor dem Herrn ewiglich.“

Wir denken, das eben Bemerkte werde dem letztwilligen Auftrage des sterbenden Davids an seinen Thronfolger das Anstößige benehmen. Das Schmerzliche desselben bleibt freilich für uns zurück; kommt aber auf Rechnung nicht der Gesinnung des scheidenden Königs, sondern lediglich der Haushaltung des Gesetzes, die David als Israels Haupt zu vertreten und in Ehren zu halten hatte. Ein evangelischer König wird in gleichem Falle allerdings anders verfahren. David war aber ein solcher, ob auch schon in den wesentlichsten Grundzügen dem Herzen nach, so doch nach seiner beruflichen Stellung noch nicht. Vor dem Richterstuhl der göttlichen Reichsökonomie unter der er lebte, war sein Verfahren tadellos. Seine Zeit war diejenige der gesetzlichen Strenge, im Blick auf welche Paulus den Galatern schrieb: „Ehe denn der Glaube kam, wurden wir unter dem Gesetz verwahrt, und verschlossen auf den Glauben, , der da sollte geoffenbaret werden.“

3.

Nachdem David sein Haus bestellt und seine Rechnung mit dem Leben geschlossen halte, wandte er sich mit ganzer Richtung und gründlich geheiltem Gewissen dem Himmel und den entzückenden Bildern der zukünftigen Entwicklung des Reiches Gottes auf Erden zu, und die „letzten Worte,“ in denen hienieden seine Seele sich ergoß, zeigen uns den „Mann nach Gottes Herzen“ diesseits der Ewigkeit schon auf einer Taborhöhe geistiger Verklärung, die uns fast könnte vergessen machen, daß uns hier noch ein ganzes Jahrtausend von den Tagen des neuen Testaments scheidet. Vernehmen wir sein Schwanenlied, das in seinem Eingange unverkennbar an den Abschiedssegen Mosis, und au jene uralte Weissagung von dem Stern, der aus Jakob aufgehn werde, anklingt. Sich selbst vergegenständlichend beginnt er: „Es spricht David, der Sohn Isais, es spricht der Mann, der versichert ist von dem Messias des Gottes Jakobs, lieblich mit Psalmen Israels,“ (d.i. der Sänger lieblicher Psalmen): „der Geist des Herrn hat durch mich gesprochen und sein Gespräch geschah durch meine Zunge. Geredet hat zu mir der Gott Israels; Israels Hort hat mir verheißen einen gerechten Herrscher unter den Menschen: einen Herrscher in der Furcht Gottes.“ Der hier Bezeichnete bildete den Kern und Mittelpunkt des weissagenden Theils aller seiner Psalmen, und somit das Evangelium in denselben. David fährt fort: „Wie im Achte des Morgens ohne Wolken die Sonne aufgeht, und von ihrem Glanz nach dem Regen das Gras aus der Erde wächst,“ (also wird die Erscheinung des Zukünftigen sein.) „Denn ist mein Haus nicht fest bei Gott? Er hat mir einen ewigen Bund gesetzt, wohlgeordnet in Allem und bewahrt. Das all' mein Heil und Wohlgefallen ist, sollte er das nicht erblühen lassen? Die Gottlosen aber“, - (Gottes Feinde) „sind allesammt wie ausgeworfene Disteln, die man mit Händen nicht fassen kann; sondern wer sie angreifen will, muß seine Hand mit Eisen und Spießstangen füllen. Und verbrannt werden sie werden mit Feuer,“ d. h. sie werden nicht Theil haben an dem Reiche dessen, der da kommen wird, und mit ihnen ist Gemeinschaft nicht zu pflegen.

Großartiger und erhebender Fernblick, der hier dem scheidenden Könige gewährt ist! David gibt in seinem Schwanengesange für alle Weissagung nach ihm das Thema an, dessen Variationen hinfort in einem sechs Jahrhunderte durchhallendem Prophetenchore uns entgegen tönen. In reichster Fülle ward dem Könige zu Theil, was er in seinem Bußpsalme, unserm 51., sich erflehte: „Laß mich hören Freud und Wonne, daß meine Gebeine fröhlich werden.“ Denn wie doch könnte man seliger das Irdische segnen, und heiterer den Staub des Pilgerthals vom Fuße schütteln, als in lichtheller Anschauung der „Sonne der Gerechtigkeit“ die Heil, Leben und Frieden unter ihren Flügeln birgt? Doch können wir uns nicht enthalten, auch hier auf die Kluft hinzudeuten, die immer noch zwischen den Gläubigen des alten und denen des neuen Bundes befestigt blieb. Christus bezeichnet dieselbe in den höchst bedeutsamen Worten, die wir im Evangelium Johannis Kap. 16, 23 bis 27 lesen. - Hier spricht er unter Voraussendung eines feierlich Betheuernden: „Wahrlich, wahrlich, Ich sage euch,“ zu seinen Jüngern, und in diesen zugleich zu allen Frommen Israels vor ihnen: „So ihr den Vater etwas bitten werdet in meinem Namen, so wird er es euch geben.“ Das war ein Neues, wie er selbst es als solches bezeichnet, sprechend: „Bisher habt ihr nichts gebeten in meinem Namen.“ Wir armen Menschen bedürfen einer starken Stütze, eines geistigen Hebels, wenn wir nicht blos Gebete hersagen, sondern wirklich beten, d.h. uns ernstlich, traulich und zuversichtlich mit Gott unterreden sollen. Denn wer ist Gott, und wer sind wir? Welch' ein unermeßlicher Abstand zwischen Ihm, dem hocherhabenen Geiste über den Sternen, und uns, den Eintagsgeschöpfen am Schemel seiner Füße; zwischen Ihm, dem Hochheiligen in seinem unzugänglichen Lichte, und uns, den im Weltengewimmel gleich Tropfen im Meer verschwindenden, und obendrein mit Sünden beladenen und darum keiner Berücksichtigung seitens des ewig Reinen würdigen Einzelnwesen? Wie kommen wir zu Ihm hinan, und woher nehmen wir den Freimuth, den Aufflug zu Ihm zu wagen? Wird uns nicht beim ersten Wort, durch das wir mit Ihm anknüpfen möchten, der Athem stocken, und dasselbe auf unserer Lippe ersterben? Der fromme Israelit schloß sich, wenn er betend zu Gott nahen wollte, im Geiste an Abraham, Isaak und Jakob an, als von welchen sich Jehova ja in Gnaden hatte finden lassen. „Gott meiner Väter!“ sprach er, und das machte seinem Herzen schon in etwa Luft, wenn auch nur kümmerlich; denn der Betende war ja nicht selbst Abraham. Da kommt nun Christus, und setzt sich an Jener Stelle/ „An mich,“ spricht er, „lehnt euch an; mich schiebt bei dem Hocherhabenen, der in der Höhe wohnt, vor; auf mich berufet euch: betet in meinem Namen!“ - „Aber Herr,“ entgegnen wir, „du Unvergleichlicher, wer bist du und wer sind wir?“ - Der Herr erwiedert laut seinem und seiner Apostel ganzem Wort: „Ich bin der, welcher an eurer Statt gehorchend und leidend die Scheidewand, die zwischen euch und meinem Vater aufgerichtet stand, hinweggeräumt hat, und ihr seid die mir, dem Geliebten des Vaters, Gott angenehm Gemachten, sofern ihr euch gläubig an mich hingabt!“ Im Namen Jesu heißt demnach: kindesfröhlich beten, in lebendiger Aneignung dessen, was Jesus, der Mittler, für uns ausgemacht, gleichsam eingewickelt in Ihn als wären wir Er, versenkt in sein Verdienst, durch den Glauben eingetaucht in sein Versöhnen, und dieses erstreckt sich weit, und ist unendlich vollkommen. Man höre Ihn! „Ich sage euch nicht,“ beginnt er, „daß ich den Vater für euch bitten will.“ - Man unterscheide wohl! die Worte lauten nicht: „Ich sage euch, daß ich nicht für euch bitten will.“ Unbezweifelt will er das. Wie sollte Er nicht, der sie, die Er mit seinem Blut erkaufte, auf dem Herzen trägt? Aber seine Jünger sollen nicht denken, das Angesicht des Vaters müsse, damit er höre und erhöre, immer erst durch Jesu Fürbitte erweicht werden. O nein: dies ist ein für allemal geschehen. Der Herr spricht: „Er selbst, der Vater, hat euch lieb, darum, daß ihr mich liebet, und glaubet, daß ich von Gott ausgegangen bin!“ - Was wollen wir mehr? O, diese beglückende Versicherung! Mit Jesus im Herzen und an seiner Hand sind wir dem Vater willkommen, so oft und mit was immer wir ihm nahen. Nicht als Knechte, als Kinder dürfen und sollen wir vor Ihm erscheinen, allezeit der Erhörung unsrer Bitte gewiß, weil uns, die wir des Geistes von Gott theilhaftig wurden, ein heiliger Takt schon davor bewahren wird, Unziemliches Und Ungehöriges zu begehren. - Zu diesem Stande kindlicher Vertraulichkeit und Zuversicht zu dem väterlichen Gott war denen, die der „Offenbarung Gottes im Fleische“ erst noch als einer zukünftigen warteten der Weg noch nicht geöffnet. Die Furcht war in ihnen von der Liebe noch nicht völlig überwunden, bevor das große Versöhnungswerk eine vollendete Thatsache war. Erst in räthselhaften Worten und Bildern ward den Alten dasselbe von ferne gezeigt, und wenn Einer unter ihnen sich auf die Entzifferung und Deutung dieser Hieroglyphenschrift verstand, so war es David. Aber mit welcher Freimütigkeit er sich auch zu Zeiten seinem Gott an's Herz zu werfen wußte, bis zu dem neutestamentischen: „Abba, lieber Vater!“ drang auch er nicht hindurch. Wir verstehen den Herrn, wenn er im Hinblick auf Johannes den Täufer sagt: „unter Allen, die von Weibern geboren sind, ist kein größerer Prophet, denn Johannes. Der aber der Kleinste ist im Himmelreich; ist größer, denn er!“ - Zu uns, den nachgebornen Kindern des Neuen Bundes heißt es: „Selig sind die Augen, die da sehen, das ihr sehet, und die Ohren, die hören, das ihr höret! Wahrlich ich sage euch: Viele Propheten und Gerechte haben begehrt zu sehen, das ihr sehet, und haben es nicht gesehen, und zu hören, das ihr höret, und höreten es nicht!“

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