Krummacher, Friedrich Wilhelm - XXVIII. Die Entscheidung.
„Ich kann hoch sein und ich kann niedrig sein.“ So der Apostel Paulus (Phil. 4,12.) Ein großes Wort! Was besagt's, als daß er sich stark wisse, sowohl auf der Höhe des Ansehns und der Ehre die Versuchung zur Selbstüberhebung zu überwinden, als in der Tiefe der Erniedrigung und der Leiden diejenige zum Verzagen und zum Murren wider Gott zu bemeistern. Mit gleicher Wahrheit und Weite des Sinnes vermochte ihm kein Heiliger des alten Bundes dies nachzusprechen, weil ihrer keiner noch, wie er, hinzufügen konnte: „Ich vermag Alles durch den, der mich mächtig macht, Christus.“ Die Offenbarung Gottes in Christo wurde von den Alten nur erst als eine zukünftige „von ferne gegrüßt,“ und der Heilige Geist war laut dem Ausspruche des Evangelisten Johannes als Geist der Kindschaft „noch nicht da.“ So fehlte noch das durch diesen Geist vermittelte lebendige Bewußtsein innigster Gemeinschaft mit dem versöhnten Gott. Was Wunder drum, daß selbst ein Manu von der Frömmigkeit eines David auf dem Gipfel seiner Herrscherherrlichkeit zeitweilig wenigstens, von der Macht seines Fleisches überwunden, wieder dem Weltgeiste verfallen, und als die Wetter der Trübsal sich über ihn entluden, in Schmerzensäußerungen sich ergießen konnte, die fast Lauten der Verzweiflung ähnlich sahen. Dennoch nöthigt es uns Bewunderung ab, daß der beklagenswerthe Handel mit Urin die einzige gröbere Versündigung war, mit der er während des langen Zeitraums von vier Jahrzehnten auf der Höhe des Throns sein Leben befleckte, und daß sein Glaube aus allen den furchtbaren Anfechtungen und Erschütterungen, die er erfuhr, trotz des vergleichungsweise nur geringen Maaßes von Heils- und Gnadenmitteln, welches ihm zu Gebote stand, doch immer wieder siegreich und unversehrt, ja nur geläutert und befestigt hervorging. So mußte er ja trotz aller Schwachheit, die auch an ihm zu Tage trat „der Mann nach dem Herzen Gottes“ bleiben, zumal, da nie ein Sünder mit der Sünde, die in einer unbewachten Stunde ihn übermochte, in einer aufrichtigeren und gründlicheren Buße auch wieder gebrochen hat, als er. Gott konnte diesen ihm so lauterlich ergebenen Knecht nicht verlassen noch versäumen, sondern mußte seine Füße aus allen Nöthen und Drangsalen immer wieder auf weiten Raum stellen. Heute werden wir den Allmächtigen abermals in anbetungswürdigster Weise seinen helfenden Arm über ihn ausstrecken sehn. Der durch Absalon heraufbeschworene Bürgerkrieg endet mit der Wiedererhöhung des gedemüthigten Königs.
2. Sam. 18, 31. Da kam Ehusi zum Könige und sprach: Hier ist gute Botschaft, mein Heu König; der Herr hat dir Recht verschafft von der Hand Aller, die sich Wider dich aufgelehnt, - Cap. 19, 14.: Und er neigte das' Herz aller Männer Juda's wie Eines Mannes; und sie sandten hin zum Könige: Komm wieder, du und alle deine Knechte. Also kam der König wieder.
Davids Sieg und seine Rückkehr zum Throne sind die beiden Thatsachen, die diesmal unsre Aufmerksamkeit fesseln werden. Freilich erscheint ersterer im Trauerflor, und die andere geht nicht ohne Anstoß vor sich, so daß wir uns mehr zur Anbetung der Gnade und Treue Gottes, als zur Bewunderung des Siegers veranlaßt sehen werden. Uns Sündern kann dies aber nur tröstlich und erfreulich sein, zumal, da durch das, was wir etwa an dem Verhalten des Helden unserer Geschichte zu rügen finden möchten, unsrer Liebe zu ihm durchaus keinen Abbruch thun wird.
1.
Das Heer der Empörer rückte in geschlossenen Reihen aus Gilead heran. An seiner Spitze stand als erster Feldhauptmann unter Absalons Oberbefehl Amasa, der muthige und willenskräftige Sohn einer Halbschwester Davids, der nach Joabs, seines Vetters, Abfall von den Empörern durch Absalon zu dessen Nachfolger ernannt worden war. Als die Kunde vom Anmarsch des Feindes in das Lager Davids gelangte, gab auch dieser Befehl zum Aufbruch, nachdem er das Volk, das in immer neuen Zuzügen sich um ihn schaare, in drei Heerhaufen geordnet, und das Commando über dieselben dem Joab, dem Abisai, Joabs Bruder und dem wackeren und gottesfürchtigen Philister Ithai aus Gath übertragen hatte. Zugleich eröffnete er den Mannschaften, daß er entschlossen sei, persönlich mit ihnen auszurücken. Die Feldherren aber widerriethen dies, wahrscheinlich aus Besorgniß, die zärtliche Rücksicht auf seinen Sohn, das Haupt der Verschworenen, möchte den König im Verlaufe des Kampfs zu einer unzeitigen Schonung und Milde stimmen. Doch wandten sie als Grund ihres abmahnenden Rathes nur vor, es würde, wenn er, der König, im Streite umkäme, sein Fall demjenigen von Zehntausenden gleich zu achten, und falls sie auch sämmtlich die Flucht ergreifen, ja zur Hälfte aufgerieben werden sollten, dies noch nicht als eine Niederlage zu betrachten sein, so lange er, der königliche Kriegsherr, noch in der Mitte der Uebriggebliebenen seines Heeres sich befände. Es werde klüger sein, meinten sie, daß er mit einer Nachhut in der Stadt Mahanaim verbliebe, und, wenn es etwa noth thun sollte, zur rechten Stunde ihnen zu Hülfe käme. David gab, ob auch nicht ohne Widerstreben, nach. „Wohlan,“ sprach „er, „ich will thun, was euch gefällt.“ So setzte sich denn das Heer in Marsch. Nur hatte der König Eins noch den Fühlern an's Herz zu legen. Mit lauter Stimme und wiederholt, damit alle an ihm Vorbeimarschirenden es vernähmen, sprach er: „Fahret mir nur säuberlich mit dem Knaben Absalon!“ Wer möchte dem Vaterherzen diesen Befehl verargen? Die Drommeten schmetterten, der Kampf brach los. An verschiedenen Stellen stießen die Heerhaufen aufeinander. Im Walde Ephraim, einem Theil des Gebirges gleichen Namens, wüthete der Kampf am heftigsten. Aber wie allezeit, so bewegten sich auch hier die Streitenden unbewußt nur an unsichtbaren Fäden, die in der Hand dessen ruhten, der als Schlachtenlenker auf den Wolken über dem Getümmel hinfährt, und allein entscheidet, wie die blutigen Würfel fallen sollen. So schuf er in den neuesten Tagen erst jenseits des Oceans dem mörderischen Handgemenge der Hunderttausende einen Ausgang, wie er zunächst nicht in dem Plan und der Berechnung der streitenden Parteien gelegen hatte, und gab erst dann in diesem Bürgerkriege das Zeichen zur Waffenruhe, als Er seinen heiligen Zweck erreicht, und vier Millionen armer unter die Füße getretener Sclaven die Kette abgeschüttelt hatten. Und in wie vielfachen überraschenden Fügungen und Wendungen der Allmächtige in der allerneuesten Zeit auf der Böhmischen Wahlstatt sich wieder als Den bezeuget hat, von dem allein Sieg und Niederlage kommt, das steht vor Aller Augen leserlich an den Säulen der Welt geschrieben.
Dort im Walde Ephraim schwankte das Zünglein in der Schlachtenwage nicht lange. Auf allen Seiten neigte sich der Sieg den Waffen der Königstreuen zu. Das Heer der Rebellen war schon zersprengt, und suchte in wirrem Durcheinander sein Heil in der Flucht. Was von dessen Geschwadern das Schwert nicht fraß, kam kläglich in den Sümpfen und Felsabgründen des Waldes um. Absalon hatte dahin sprengend auf schäumendem Rosse seinen flüchtigen Schaaren den Vorsprung abgewonnen, und wähnte sich bereits gerettet, als er, im Wirbelsturm der Angst und Bestürzung jeder Vorsicht beraubt, plötzlich nicht mit seinem Haupthaar blos, das nur dazu beitrug, ihn fester zu vernesteln, sondern mit dem Haupte selbst in dem gabelförmigen Ast einer Terebinthe des dicht verwachsenen Urwalds hineinfuhr, und in demselben hangen blieb, während das Thier, seiner Zügel entledigt, unter ihm davon flog. Ein Halsgericht, das Gott selbst an dem Uebertreter des Gebotes vollstreckte, das zwar „die Verheißung hat,“ dem aber auch die Drohung zur Seite geht: „Wer seinem Vater flucht, dessen Leuchte wird verlöschen mitten in Finsterniß.“
Ein Soldat des königlichen Heeres, der nach versteckten Flüchtlingen' spähend tiefer in das Dickicht eingedrungen war, fand dort zu seinem nicht geringen Entsetzen den Königssohn am Baume schwebend, und jagte spornstreichs zurück, um dem Joab seine beklagenswerthe Entdeckung kund zu thun. „Ich sah Absalon an einer Terebinthe hangen“ berichtet er. „Und du sahst dies,“ entgegnete jener, „und schlugst ihn nicht zu Boden? Zehen Silberlinge und einen Gürtel hätte ich dir dafür gegeben.“ Der Kriegsknecht, edleren Sinnes als sein hoher Vorgesetzter, erwiderte: „Und hättest du mir tausend Silberlinge zugewogen, so hätte ich dennoch meine Hand nicht an den Sohn des Königes legen wollen; denn der König gebot dir und Abisai und Ithai vor unsern Ohren und sprach: Behütet den Knaben Absalon, und schonet seiner! Hätte ich an seiner Seele Trug gethan, und ihn getödtet, so bleibt ja vor dem Könige nichts verborgen, und du selbst (er kannte den Joab,) würdest wider mich gestanden sein.“ Joab ungeduldig: „Ich kann mich nicht länger mit dir aufhalten. Wo hängt der Rebelle?“ Der Kriegsknecht führte ihn hin und Joab raffte drei Wurfspieße in seine Hand zusammen und stieß sie dem Absalon durch die Brust. Bluttriefend stürzte der Unglückliche zur Erde nieder. Da sammelten sich um ihn Joabs Waffenträger, zehn an der Zahl, und schlugen ihn vollends zu Tode.
Der Sieg war vollständig errungen, und auf daß nicht unnöthigerweise des Bürgerbluts noch mehr vergossen würde, ließ Joab seinen Leuten mit der Posaune das Zeichen zur Waffenruhe und zum Abstehen von der Verfolgung geben. Der Leichnam Absalons aber wurde nahe bei der Stelle, wo er erhängt gefunden war, in eine Grube geworfen, und ein Steinhaufen darüber aufgethürmt. Nicht ferne von dort, im sogenannten Königsgrunde, hatte sich Absalon, nachdem seine drei Söhne gestorben waren, im Voraus seine einstige Ruhestätte ausersehen, und sogar ein prunkendes Grabdenkmal errichten lassen, und dasselbe das „Absalon-Mal“ genannt. Er gedachte dort einmal und zwar als König bestattet zu werden; aber als ein geächteter Missethäter, ja als ein Auswurf der Menschheit ging er jetzt daselbst zu Grabe. Es predigt dieses Grab mit lauter, tief erschütternder Stimme noch bis zur Stunde. Uebertretungen des Gebotes: „Ehre Vater und Mutter“ entziehen sich zwar mehrentheils dem Gerichte menschlicher Obrigkeit. Dafür aber hat der Allmächtige sich's vorbehalten, sie mit eigener Hand und mehrentheils schon diesseits der Ewigkeit zu strafen, so wie er mit dem Zusatz zu dem Gebote: „Auf daß dirs wohlgehe“ denen, die es heilig halten, auch bereits für diese Welt einen Gnadenlohn verheißen hat. Man verfolge den Lebensgang Solcher, die in ihrer Jugend ihre Eltern, diese sichtbaren Stellvertreter des unsichtbaren Gottes, verachteten, und Ursache wurden, daß sie mit Kummer in die Grube fuhren, und man wird gewahren, daß auch eine nachträgliche Reue sie nicht davor sicher stellt, daß Unheil um Unheil an ihre Ferse sich hefte. Dem abschreckenden Exempel des Endes Absalons haben sich in der Weltgeschichte tausend ähnliche beigesellt. An nicht wenigen ungerathenen Söhnen und Töchtern ist sogar buchstäblich wahr geworden, was der bekannte salomonische Ausspruch sagt: „Ein Auge, das den Vater verspottet, und verachtet der Mutter zu gehorchen, das müssen die Raben am Bach aushacken und die jungen Adler fressen.“
Während die Schlacht im Walde Ephraim tobte, saß David in äußerster Spannung des Ausgangs des Kampfes harrend, zu Mahanaim unter dem „Doppelthor.“ Ein solches Thor fehlte keiner israelitischen Stadt. Der mittlere Raum desselben gab den Schauplatz für die öffentlichen Gerichtsverhandlungen ab. Auf dem Thurme des äußeren Thores stand der Wächter, und schaute spähend des Weges aus, der zum Schlachtfelde führte. Im Lager Joabs ward mittlerweile berathschlagt, wer dem Könige die Siegesbotschaft überbringen solle. Der Sohn Zadoks, Ahimaaz, erbot sich zu diesem Dienst. „Ich werde laufen,“ sprach er, und dem Könige die Nachricht überbringen, daß der Herr ihm Recht verschafft habe vor den Händen seiner Feinde.“ Joab aber lehnte aus Gründen der Klugheit dies sein Anerbieten ab. Einmal hielt er den jungen Mann wohl für zu weichherzig, als daß er ihm zutraute, er werde dem Könige in der rechten Weise die Schreckenskunde von dem Tode Absalons überbringen, und dann mochte er besorgen, Ahimaaz könne gar als Ankläger derer vor David erscheinen, die gegen dessen ausdrücklichen Befehl den Todtschlag an Absalon begangen hätten. Vielleicht mochte Joab auch den wackern Jüngling nicht einem allerdings zu besorgenden Zornausbruche des Königs blos stellen wollen, und so wählte er statt seiner zu seinem Boten den Mohren Chusi, der zu Israel und Israels Glauben übergetreten war, und bei dem er ohne Zweifel ein größeres Maaß kaltblütiger Mannhaftigkeit voraussetzte. „Gehe hin,“ sprach er zu Chusi, „und sage dem Könige an, was du gesehen hast.“ Chusi verabschiedete sich ehrerbietig, und machte sich auf. Aber noch einmal bat Ahimaaz um Erlaubniß, ihm nacheilen zu dürfen. Vergebens. „Was willst du laufen ^nein Sohn?“ sprach Joab. „Bleibe bei uns. Du bringst ja heute keine Botschaft, für die du einen Gnadenlohn zu hoffen hättest. Ein anderes Mal sollst' du mein Herold sein; nicht aber heute, da des Königes Sohn todt ist.“ - „Und wenn ich dennoch liefe?“ entgegnete Ahimaaz, zum drittenmale, fast flehentlich sich die Genehmigung dazu erbittend. „So laufe hin!“ sprach Joab mit unwirschem Ton. Und der Jüngling rannte aus, und gewann sogar dem Chusi den Vorsprung ab.
Unverwandt hält David seine Augen auf den Thurmwart gerichtet. Da meldet dieser endlich: „Ich sehe Jemanden in der Ferne der Stadt zueilen.“ - „Ist er allein,“ entgegnet David, „so ist eine gute Botschaft in seinem Munde.“ Er denkt nämlich, daß, wenn sein Heer geschlagen wäre, die Straße von Flüchtlingen wimmeln würde. Der Wächter ruft wieder: „Ein Zweiter naht, und auch dieser allein!“ - „Wohl,“ erwiedert David, der darin abermals ein günstiges Zeichen sah. Wenige Minuten darauf kündet der Wächter: „In dem ersten der Beiden glaube ich jetzt den Ahimaaz, den Sohn Zadoks zu erkennen!“ - Der König erwiedert: „Ahimaaz ist, ein wackerer Mann, der wird uns Gutes zu künden haben!“ Noch wenige Augenblicke, und Ahimaaz überschreitet die Schwelle des Thores mit dem freudigen Zuruf: „Friede, Friede mein Herr König!“ Vor dem Könige angelangt, wirft er sich zu dessen Füßen nieder und spricht: „Gelobet sei der Herr dein Gott, der die Leute, die ihre Hand wider meinen Herrn, den König, erhoben, dir unterworfen hat!“ Ehe jedoch der König in den Siegesjubel des Abgeordneten mit einstimmen kann, entfährt ihm die ängstliche Frage: „Geht es auch dem Knaben Absalon wohl?“ Ahimaaz, der sich überzeugte, daß die Trauerpost in diesem Momente den König zerschmettern würde, hält mit derselben an sich, und wendet vor, er habe in dem Momente, da Joab ihn mit der Siegesnachricht entsendet habe, ein großes Getümmel gesehen, aber nicht mehr erfahren können, was es bedeute. Der König stutzt, und ahnt nichts Gutes. In sichtlicher Aufregung giebt er dem Ahimaaz einen Wink, daß er sich wende und zur Seite trete. Da stürzt außer Athem auch Chusi, der Mohr, zum Thore herein, und schreit: „Gute Botschaft, mein Herr König! Der Herr hat dir heute Recht verschafft von der Hand Aller, die sich wider dich aufgelehnt haben!“ Aber der König hat noch kein Ohr für diese Kunde, und fällt auch dem Chusi mit der Frage in's Wort: „Geht's auch dem Knaben Absalon wohl?“ - Und was muß er vernehmen! Joab hatte sich an dem Aethiopier nicht versehen, da er ihn für minder weichmüthig und schonend erachtete. Der Mohr antwortet dem Könige: „Es müsse allen Feinden meines Herrn, des Königes, ergehen, wie es dem Knaben ergangen ist, und es treffe Alle, die sich wieder dich auflehnen, das Uebel, das ihn betroffen hat!“ - Der König ist durch diese Botschaft wie zermalmt. Verstummend eilt er auf den Söller des Thors, und beginnt daselbst laut aufzuschluchzen. Einem Verzweifelnden gleich ruft er, indem er händeringend auf- und niederschreitet, und die Thränen stromweise über seine Wangen rinnen, ein um das andere Mal: „Mein Sohn Absalon, mein Sohn, mein Sohn! Wollte Gott, ich hätte für dich sterben können! O Absalon, mein Sohn, mein Sohn!“ -
Was sagen wir zu diesem Verhalten Davids? Wollen wir ihn um dieser Schwäche willen richten? An Richtern hat es ihm, wie wir gleich vernehmen werden, in Israel nicht gefehlt. Wohl gereicht es ihm zum Vorwurf, daß er das Königsbewußtsein zu weit hinter die Empfindungen des Familienhauptes zurücktreten ließ. Im Blick auf das allgemeine Landeswohl hätte er den Schmerz seines Vaterherzens mindestens mäßigen, seine Trauer der dankbaren Freude über die dem Lande widerfahrene Gotteshilfe unterordnen, mit dem Volke den Namen des Herrn preisen, und auch der Treue und Hingebung seiner opferfreudigen und todesmuthigen Krieger die ihnen gebührende Anerkennung nicht vorenthalten sollen. Doch blieb er auch unter dem Herrscherpurpur Vater, und nicht allein ein zärtlich liebender, sondern auch ein solcher, der aufrichtig vor Gott wandelte. Und auf welchem Wege sah er seinen Sohn so plötzlich dahingerafft, und wo hatte er dessen unsterbliche Seele nun zu suchen? Erscheint nicht sein Wunsch, daß er, der sich in der Gnade Gottes geborgen wußte, statt des verlornenen Kindes hätte sterben können, vollkommen gerechtfertigt, zumal da die Stimme seines Gewissens nie ganz verstummte, welche ihm zuraunte: „Deine Sünde ist es, David, die all dieses Unheil verschuldete?“ Wie könnte es unter diesen Erwägungen uns einfallen, den Mann Gottes zu verdammen, und bei seinem kläglichen: „Mein Sohn, mein Sohn!“ etwas Anderes als das tiefste Mitgefühl ihm entgegen zu tragen? War er in jenem erschütternden Augenblicke wirklich schwächer, als sich's gebührte, so kann es uns ja nur zum Troste gereichen, bald darauf wahrzunehmen, wie „die Kraft Gottes in solcher Schwachheit mächtig“ sei.
Die maßlose Trauer Davids unmittelbar nach dem glorreich errungenen Siege verfehlte freilich in den ersten Augenblicken auf die Gemüther der Getreuen Israels ihrer verstimmenden und niederschlagende Wirkung nicht. „Aus dem Siege des Tages,“ meldet die Geschichte, „ward ein Leid unter dem ganzen Volke; denn das Volk hörete, daß der König um seinen Sohn sehr bekümmert sei.“ Dem Heere, welchem der Aufrührer Absalon zu einem Gegenstand des tiefsten Abscheus geworden war, und das in dem Ende desselben nichts Anderes, als eine Verherrlichung der vergeltenden Gerechtigkeit Jehovas erblickte, deuchte der Gram, dem der König sich hingab, unmännlich, ja gottvergessen, und da es vernahm, daß der Kriegsherr nicht aufhöre, verhüllten Hauptes immer auf's neue sein: „Ach mein Sohn Absalon, mein Sohn, mein Sohn!“ zu wimmern, ward es endlich des ewigen Wehklagens überdrüssig, und stand schon im Begriffe, sich aufzulösen und zu zerstreuen. „Das Volk“ heißt es „stahl sich davon, wie ein Volk sich wegstiehlt, das, weil es im Streit geflohen ist, zu Schanden ward.“ 'So riß denn endlich auch dem Joab der Faden der Geduld. Gradesweges begab er sich zu seinem königlichen Herrn, und scheute sich nicht, ihm in seiner derben und rauhen Art das unzeitige und unangemessene Benehmen, dessen er sich schuldig mache, vorzuhalten. „Du hast heute,“ fuhr er ihn an, „alle deine Knechte, die deine Seele und die Seelen deiner Söhne, deiner Töchter und deiner Weiber errettet haben, schamrot!) gemacht; denn du stellest dich ihnen dar als Einer, der diejenigen lieb hat, die ihn hassen, und diejenigen hasset, die ihn lieben, und lässest merken heute, daß dir an deinen Hauptleuten und Knechten nichts gelegen ist. Ich sehe wohl, wenn dir nur Absalon noch lebte, und wir Andern alle im Streit gefallen wären, so deuchte dir's schon ganz recht zu sein.“ Nach dieser kühnen und herben Ansprache ertheilte er dem Könige den allerdings vernünftigen Rath, er solle sich ermannen, zu den Kriegern heraustreten, und huldreich anerkennende Worte zu ihnen sprechen, und fügte mit starker Betonung hinzu: „Ich schwöre dir bei Gott dem Herrn, gehst du nicht heraus und thuest also, so bleibt kein Mann die Nacht über bei dir, und das wird dir ärger sein, denn alles Uebel, das über dich gekommen ist von deiner Jugend an bis Hieher!“ - So Joab, freilich mit jenem strafbaren Uebermuthe, der ihm von seiner Jugend an eigen war, durch Davids Schwäche aber nur noch gesteigert wurde. Joabs Wort hatte den erwünschten Erfolg. David erwachte aus seinem schweren, düstern Traum, und sah das Ungeziemende seines Verhaltens ein. Er machte sich stark und ging heraus, und bald verbreitete sich durch das Volk die Kunde: „Der König sitzt Musterung zu halten unter dem Thore auf seinem Stuhle!“ Alsobald fanden sich die bereits zerstreuten Krieger wieder ein, und zogen in Reihe und Glied an ihrem Herrn vorüber. Dieser grüßte sie huldvoll und dem Anscheine nach siegesfreudig, und Jeder fühlte sich wieder befriedigt und erheitert. Im ganzen Lande wuchs fortan die Bewegung zu Davids Gunsten, wenn sie auch nicht überall schon die lauterste und aufrichtigste war. Bei einem großen Theile des Volkes jedoch war sie dies, und immer häufiger hörte man sagen: „Der König hat uns errettet von der Hand unsrer Feinde, und uns erlöset von der Philister Hand, und hat müssen aus dem Lande fliehen vor Absalon; nun ist Absalon, den wir über uns gesalbt hatten, im Streit gefallen. Warum seid ihr nun noch lässig, den König wieder einzuholen?“ Diese Vorstellungen fanden Anklang. Dem Könige selbst lag sonderlich daran, daß sich das Herz des Stammes Juda, seines Vaterstammes, in welchem die Empörung ausgebrochen war, ihm wieder zuwendete. Er beauftragte darum die Priester Zadok und Abjathar, hiezu das Ihrige zu thun. „Redet,“ sprach er zu ihnen, „zu den Weitesten in Juda, und saget ihnen: So spricht euer Herr: Warum wollt ihr die letzten sein, euren König wieder einzuführen in euer Haus? Seid ihr doch meine Brüder, mein Fleisch und mein Bein!“ An einer feierlichen Einholung durch das Volk mußte dem Könige als an einer öffentlichen und thatsächlichen Zurücknahme der Salbung Absalons gelegen sein. Und es kam eine solche wirklich auch zu Stande. Die Geschichte bemerkt: „Der Herr neigete das Herz Judas wie Eines Mannes. Sie sandten hin zum Könige und ließen ihm sagen: Komm wieder, du und deine Knechte!“ Und so trat David im Geleite einer von Ort zu Ort immer stärker anschwellenden Volksmenge die Rückkehr nach Jerusalem an. Der Zug gestaltete sich von einer Stunde zur andern wachsend zu einem festlichen Sieges- und Triumphzug. So sah denn der König schon jetzt das Gebet des 43. Psalms erhört, in welchem sich, ehe die Siegesbotschaft ihn noch erreichte, im Lager bei Mahanaim sein Herz vor Gott ergossen hatte. „Richte mich, Jehova,“ hatte er gesprochen, „und führe du meine Sache wider das unheilige Volk, und errette mich von dem Manne des Truges und der Ungerechtigkeit. Du bist der Gott meiner Stärke. Warum verstößest du mich, und lässest mich betrübt einhergehen unter Feindesdruck?“ Gottes Stunde hatte damals noch nicht geschlagen. „Sende dein Licht und deine Wahrheit,“ (d. i. deine Huld und deine Treue,) fuhr er fort, „daß sie mich leiten, und bringen mich zu deinem heiligen Berge, und zu deiner Wohnung, daß ich hineingehe zum Altare Gottes, zu dem Gott, der meine Freude und Wonne ist, und dir, meinem Gott, auf der Harfe danke.“ - Jetzt befand sich David auf dem Wege zu diesem ersehnten Ziele. Sich selbst ermuthigend hatte er damals sein Lied mit den Worten geschlossen: „Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir? Harre auf Gott; denn ich werde ihm noch danken, daß er meines Angesichtes Hülfe und mein Gott ist!“ Sein Vertrauen hatte ihn nicht getäuscht. Der Moment des Dankens und des Preisens war nun gekommen.
2.
In welch' eine gehobene Stimmung mußte den König bei seiner Rückkehr nach der heiligen Stadt die Erinnerung an jenes jetzt mit einer so herrlichen und überschwenglichen Erhörung gekrönte Gebet versetzen! Aus dieser Stimmung dankbarer und demuthsvoller Freude erklären sich auch leicht die Thaten einer wahrhaft königlichen, ja fast das gebotene Maß überschreitenden Großmuth, womit er seinen Weg bezeichnete. Zuerst begnadigte er seinen Neffen Amasa, den strafbaren Heerführer der Aufständischen , und begnügte sich damit noch nicht, ihm die wohlverdiente Strafe zu erlassen, sondern erhob ihn, den ohne Zweifel jetzt reumüthigen, sogar, wenn auch augenblicklich noch nicht ,durch offene Verkündigung, an Stelle Joabs, dem er wegen des an Absalon begangenen Todschlages von Herzen grollte, zur Würde eines Oberfeldhauptmanns seines Heeres. Bei Gilgal am Ufer des Jordans angelangt, sah er sich auf's neue von einer großen Schaar huldigender Männer aus Juda begrüßt. Sie waren herzugeeilt, um ihm über den Strom und noch eine Strecke weiter das Geleite zu geben. In gleicher Absicht fanden sich hier auch tausend Männer aus Benjamin ein, alle eifrig bemüht, dem Könige und seinem zahlreichen Gefolge bei der Ueberfahrt behülflich zu sein, und auch dadurch ihre Unterwerfung zu beurkunden. Die nicht am wenigsten Dienstfertigen unter ihnen waren der uns wohlbekannte Lästerer aus Bahurim, Simei, und der Schleicher und Fälscher Ziba mit seinen fünfzehn Söhnen und zwanzig Knechten, von deren Gegenwart er einen Achtung gebietenden Eindruck erhoffte. Beide Männer gebehrdeten sich um so unterthäniger, je mehr ihnen daran liegen mußte, die Schuld, die auf ihnen lastete, vergessen zu machen: ein Schauspiel kläglichster Gattung, wie es oft, namentlich nach niedergeworfenen Empörungen, sich zu erneuern pflegt. Simei warf sich dem Könige zu Füßen, und sprach: „Mein Herr, rechne mir die Missethat nicht an, und gedenke deß nicht mehr, daß des Tages, da mein Herr König aus Jerusalem ging, dein Knecht dich beleidigte.“ Mit diesem milden Ausdruck bezeichnete er die Nichtswürdigkeit, mit der er den König auf seiner Flucht einen „Bluthund“ gescholten, ja ihn mit Koth und Steinen beworfen hatte. „Der König,“ fuhr Simei fort, „nehme dies nicht zu Herzen!“ Eine starke Zumuthung an den König; aber nicht uns blos erscheint sie, wie wir gleich vernehmen werden, als solche. „Dein Knecht,“ sprach Simei weiter, „erkennet, daß er gesündiget hat.“ - Möchte er dies schon früher eingesehen haben! - „Und siehe, ich bin heute der erste gekommen unter dem ganzen Hause Josephs,“ (mit diesem Namen pflegten sich zur Unterscheidung von dem Stamme Juda, die übrigen Stämme als Gesammtheit zu bezeichnen,) „daß ich meinem Herrn, dem Könige entgegenzöge!“ - Dies also das ganze Verdienst, dessen der Elende sich zu rühmen hat! Dem Abisai, Davids nächstem Waffengefährten, beginnt schon beim Anblick des Buben das Blut in den Adern zu kochen, und vollends wird es ihm schwer, seinen Zorn in Zaum zu halten, als jene weh- und demüthige Abbitte des Heuchlers zu seinem Ohre dringt. „Wie,“ braust er auf, „dieser Simei, der dem Gesalbten des Herrn geflucht hat, sollte dem Schwert oder Strick entrinnen?“ David aber fiel dem nicht ohne Ursache Wuthentbrannten schleunigst in's Wort, und sprach abwehrend, wie damals auf der Straße bei Bahurim: „Was habe ich mit euch zu schaffen, ihr Kinder Zeruja, daß ihr mir heute wollt zum Satan werden? Sollte heute Jemand sterben in Israel? Meinest du, ich gedächte nicht daran, daß ich heute wieder über Israel König wurde?“ Ein tiefer Blick wird hier uns aufs neue in des Königes Herz eröffnet. In dem Gefühl der eigenen Unwürdigkeit vor Gott und in seiner Dankbarkeit für die ihm widerfahrene Gnade war er seines Muthes besser Herr, als Abisai. Wohl könnte man ihm vorwerfen wollen, daß er auch hier mehr als Privatmann, denn als theokratischer und zum Hüter des Gesetzes verordneter König gehandelt habe. Wir werfen uns aber nicht zu seinen Richtern auf, sondern freuen uns vielmehr des Edelmuths und der Milde des Königes als eines Zeichens, daß schon von dem Geiste des neuen Bundes, der die Feinde lieben, und die Fluchenden segnen lehrt, etwas sein Inneres durchwehte. Zu Simei gewendet spricht er: „Du sollst nicht sterben,“ ja schwört ihm, daß er nicht Rache an ihm nehmen werde. Später hat er sich freilich durch die Stimme seines Gewissens genöthigt gesehen, den Frevler zur Sühnung der durch ihn so gröblich verletzten Majestät des göttlichen Gesetzes dem Urtheilsspruche seines Nachfolgers auf dem Thron zu überweisen. Doch geschah dies lediglich aus zwingender höherer Rücksicht, und durchaus gegen seine persönliche Neigung.
Nach Simei erschien vor dem Könige der Sohn Jonathans, Mephiboseth, und in welchem Aufzuge trat dieser vor ihn hin! Seit dem Tage, an dem der König vor seinem Sohne Absalon fliehend Jerusalem verlassen hatte, hatte Mephiboseth vor Trauer weder an die Reinigung seiner Füße noch seines Bartes, noch seiner Kleider gedacht. „Warum zogest du nicht mit mir, Mephiboseth?“ redete der König ihn an. „Mein Herr König,“ erwiederte er, „mein Knecht,“ (Ziba, der Verwalter,) „betrog mich. Ich gedachte, einen Esel satteln zu lassen, und darauf dem Könige nachzureiten; denn dein Knecht ist lahm. Aber Ziba richtete den Befehl, den ich ihm ertheilte, nicht aus. Ueberdies hat er deinen Knecht vor meinem Herrn, dem Könige, verleumdet. Aber mein Herr König ist wie der Engel Gottes,“ (d. i. er durchschaut Alles.) „Thue nun, was dir gefällt. Meines Großvaters ganzes Haus waren Leute des Todes,“ (des Todes werth erachtet,) „vor meinem Herrn Könige. Doch setztest du deinen Knecht unter die, so an deinem Tische essen. Woher nähme ich Recht und Anlaß Klage zu führen über meines Herrn Königes Verfahren?“ - So Mephiboseth. Der König entgegnete nicht ohne sichtbare Bewegung des Gemüthes: „Rede nicht weiter von diesen Dingen. Einst sagte ich: Du und Ziba theilet den Acker miteinander, und dabei soll es auch sein Verbleiben haben.“ David nemlich hatte dem Mephiboseth, dem Sohne Jonathans, den Ziba als Verwalter des ihm an Ackergütern Sauls belassenen Erbtheils bestellt, und demselben die Nutznießung eines Theils dieser Ländereien, nicht aber ein Eigenthumsrecht an denselben zugesprochen. Auf die Verschwärzungen hin, durch welche später Ziba den Mephisobeth dem David verdächtigte, hatte dieser allerdings in Uebereilung den Verleumder, dem er zu hastig Glauben geschenkt, mit dem Ertrage des ganzen Erbes belehnt. Nun erkannte der König den nichtswürdigen Betrug, den Ziba ihm damals gespielt hatte; doch bewog ihn auch hier sowohl die Bedeutung des festlichen Freudentages, als die Beschämung, die er über seinen damaligen Mißgriff empfand, Gnade vor Recht ergehen zu lassen, und statt den Lügner noch nachträglich zur Strafe zu ziehen, ihn in das frühere Verhältniß wieder einzusetzen, und seine Ansprüche auf die Hälfte des Gewinns von den genannten Erbgütern neu zu bestätigen. Mephiboseth antwortete auf die Bestimmung des Königes: „Ziba nehme es auch ganz dahin, nachdem mein Herr König mit Frieden wieder heimgekommen ist!“ Ein edler Zug dies, der den König in der Ueberzeugung von Mephiboseths Unschuld nur bestärken konnte, und die Milde, die er ihm bewies, vollkommen rechtfertigte.
Zuletzt erschien noch ein Mann, den wir mit ungemischterer Freude begrüßen können. Der alte achtzigjährige Ackersmann aus Roglim, Barsillai, ist es, derselbe, der in Gemeinschaft mit andern seiner Landsleute den König im Lager bei Mahanaim mit allerlei überbrachten! Vorrath so erfreulich überraschte. Zu der Zeit, da Tausende rings umher in den Aufruhrstaumel sich mit fortreißen ließen, hatte Barsillai sich die Nüchternheit zu bewahren gewußt, und in seiner Treue gegen den König auch nicht einen Augenblick gewankt. Mit gesundem, klarem Blick hatte er bald erkannt, daß die ganze Absolonische Bewegung nur eine entschiedene Gottvergessenheit zu ihrem Grunde, die ärgste Lüge zu ihrer Waffe, und nichts Geringeres, als den Umsturz aller von Gott gesetzten Ordnungen zu ihrem Ziele hatte. Ueberdies sah er in David nicht etwa einen Gebieter, der sich selbst auf den Thron geschwungen habe, sondern seinen „König von Gottes Gnaden,“ und in der Empörung gegen ihn eine majestätsverbrecherische und hochverrätherische Auflehnung gegen den Allmächtigen selbst. Da er nun von der siegreichen Dämpfung des fluchwürdigen Aufruhrs hörte, jauchzte seine Seele zu dem Herrn der Heerschaaren auf; denn dieser Triumph bedeutete ihm die Rettung nicht allein der heimischen Sitte, Zucht und Ordnung, sondern vor Allem der Ehre des Namens Jehovas. Wie hätte er darum unter den Ersten fehlen können, die den durch des Herrn starken Arm so herrlich wieder erhöhten König beglückwünschend und huldigend begrüßten? Nach einem weiten, aber trotz der Bürde seiner Jahre rüstig zurückgelegten Marsche traf er bei dem wogenden Festgeleite grade in dem Momente ein, da der König im Begriffe stand, die Fähre, die ihn über den Jordan hinüber führen sollte, zu besteigen. Kaum aber hatte David den alten treuen Freund in dem Volksgedränge wahrgenommen, als sich sein Angesicht in erhöhtem Freudenglanz verklärte. Hätte ihm doch eine liebere und willkommenere Begegnung nicht werden können, als dieser schlichte und ehrliche Landmann. Unverweilt schritt er dem „sehr trefflichen Manne,“ wie die Geschichte ihn nennt, entgegen und reichte ihm, wahrscheinlich von dem lieben Alten mit einem: „Der Gott unsrer Väter lebt noch, mein Herr König!“ begrüßt, auf's herzlichste seine Rechte. „Du sollst mit mir hinüber ziehen;“ redete er ihn an; „ich will dich versorgen bei mir in Jerusalem.“ Ja, Barsillai sollte künftig sogar mit dem Könige in dessen Schlosse wohnen, und mit ihm an seinem Tische essen. Fast könnte es scheinen, als habe die Herablassung und Gnade des Königes hier wieder die Grenze des Geziemenden überschritten. Aber in Tagen, wie die damaligen in Israel, pflegt, wie schon bemerkt wurde, das Gold der Treue in demselben Grade im Preise zu steigen, in welchem Alles, was Rang, Stand und Titel heißt, als Flitterwerk zu erbleichen beginnt. Gleich dem „Feuer des Goldschmieds“ sind solche Zeiten. Vieler Menschen Gesinnungen werden in ihnen offenbar. Die Hülse fällt, der Kern tritt in die Erscheinung, und der Kittel des bewährten Arbeitsmannes überstrahlt den Hermelin der Würdenträger, die das Gleichgewicht verloren.
Wie verhielt sich Barsillai zu dem großmüthigen Anerbieten seines königlichen Herrn? Nicht anders, als es von dem schlichten, bescheidenen und verständigen Manne zu erwarten stand. Tief rührte ihn des Königes Gnade; aber was dieser ihm in Ausficht stellte, nöthigte ihm doch ein wohl gemeintes schalkhaftes Lächeln ab. „Wie lange,“ sprach er, „werde ich annoch zu leben haben, daß ich mit dem Könige hinauf sollte gen Jerusalem ziehen? Achtzig Jahre bin ich heute alt. Wie möchte ich kennen, was gut und böse ist und was nicht,“ (d. i. was in den hohen Kreisen sich schickt und was die Sitte fordert,) „und wie,“ fährt er harmlos scherzend fort, „sollte ich schmecken, was ich esse und trinke,“ (die künstlich zubereiteten Gerichte der königlichen Tafel, die für mich nicht sind, der ich an meiner ländlichen Hausmannskost mein ganzes Genüge habe.) „Und wie soll ich hören,“ sprach er weiter, „was die Sänger und Sängerinnen singen?“ Ich verstehe mich, auf die hohen und feinen Künste nicht. Mir singen die Vögel in den Bäumen, die meine Hütte umschatten. „Warum sollte dein Knecht meinen Herrn König weiter beschweren? Dein Knecht soll ein wenig gehen mit dem Könige über den Jordan. Warum will der König mir eine so große Vergeltung thuen?“ Ich that ja nicht mehr als was ich zu thun schuldig war. „Laß drum deinen Knecht wieder umkehren, daß ich sterbe in meinem Ort, und begraben werde bei meines Vaters und meiner Mutter Grabe.“
Kann man Lieblicheres hören, als diese in Einfalt gesprochenen und zugleich von so gesunder Verständigkeit zeugenden Worte? Welch ein heiterer und friedsamer Geist weht daraus uns an, und wie beschämt dieser Barsillai so manche unsrer heutigen Alten, die, je mehr die Jahre ihr Abtakelungswerk an ihnen verrichten, um so eifriger darauf versessen sind, das Schwinden ihrer Kräfte hinter schillernde Umhängsel eitler Würden, Titel und hoher Verbindungen zu verbergen. Sie wissen nichts von dem Leben in Gott, im Blick auf welches der Apostel spricht: „Ob auch unser äußerlicher Mensch verweset, so wird doch der innerliche von Tage zu Tage erneuert.“ Mit dem natürlichen Leben stirbt ihr Alles ihnen ab, und sie sind bankbrüchig, sobald ihnen das, was „Fleisch vom Fleisch geboren“ ist, dahingeht. Barsillai hatte seinen Schatz im Himmel, die Gnade seines Gottes war sein Kleinod; und so zählte er seine Jahre ohne Verdruß, ja mit der stillen Hoffnungsfreude, daß er bald das Angesicht dessen schauen werde, den er liebte, und auf den er festiglich vertraute. Diese Aussicht übte auf ihn einen verjüngenden Einfluß, und ließ ihn in sein Grab hinunter blicken wie in sein Bette. Er hatte durch den Glauben die Welt überwunden und stand über ihr. Nicht als hätte er aus einem mißverstandenen Begriff von dem Ernste des Lebens dasjenige grämlich verachtet, was auch die Erde schon an reinen Freuden darzubringen hat. Mit Danksagung wird er's hingenommen haben; aber ein Geringes war es ihm auch, es zu entbehren. Er war, wir wiederholen, was wir früher schon einmal von ihm bemerkten, kein schroffer, engherziger Rigorist. Er dachte bei dem königlichen Anerbieten nicht, er müsse als der „Stillen im Lande“ einer, von alledem, was nun einmal zu dem nöthigen Pomp eines Fürstenhofes gehört, sich ängstlich ferne halten. In der That war er schon wie wenige seiner alttestamentlichen Glaubensgenossen in seinem Innern zu evangelisch frei gestellt und zu gesund am Glauben, um eines so befangenen Urtheils fähig zu sein. Er wußte, unrein sei nichts, was mit kindlich lauterem Danke zu Gott genossen werden könne, und so mancherlei, was an und für sich freilich eitel und nichtig sei, könne nun einmal zur Erhöhung des nothwendigen Glanzes eines Fürstenthrones nicht entbehrt werden. Ihn gelüstete aber nicht nach solchen Dingen. Die Herrlichkeit, die er am Throne des Königes aller Könige fand, ließ in ihm alle' irdische in einem sehr abgeblaßten Lichte erscheinen. O wie der Anblick solch eines mit seinem ganzen Herzen von der Scholle gelösten und zur Freiheit in Gott hindurchgedrungenen Mannes so wohl thut! Durch die Macht seines Glaubens ist er selbst ein König. Welt, Tod und Grab liegen überwunden zu seinen Füßen. Eine Heiterkeit, die allen Stürmen trotzt, umleuchtet als Diadem seine Stirn. Ein unvergleichlich herrliches Erbe wartet sein im Himmel. Und wie er Niemanden hinieden zu beneiden hat, so hat er auch Niemanden und Nichts zu fürchten, sintemal „Alles sein“, indem er selber „Christi, Christus aber Gottes ist.“
David wußte die Ablehnung Barsillais durchaus zu würdigen. „Du thust wohl daran,“ mochte er denken, „daß du auf deinem Acker verbleiben willst. Ist doch auch ein Königsschloß kein Eden; ach, oftmals viel eher eine prunkende Grabstätte des Friedens und der Freude, als deren Tempel!“ Doch gab der König ihm zu verstehen, wie er ihm gar gerne irgend eine Huld erweisen möchte. Da sprach der Alte hindeutend auf seinen hinter ihm stehenden Sohn: „Siehe, da ist dein Knecht Chimeham, den laß mit meinem Herrn Könige hinüber ziehen, und thue ihm, was dir wohlgefällt.“ Er weihte denselben hiemit, in welcher Stellung immer es dem Könige belieben möchte, dem Dienste des Vaterlandes. „Wohl,“ erwiederte der König, „Chimeham soll mit mir gehen, und ich will ihm thuen Alles, was du wünschen magst; dazu sei dir auch gewährt, was du etwa sonst von mir erbitten möchtest.“ Er sprach's, und wir werden hören, daß der König Wort gehalten hat. Er schloß hierauf den Alten Angesichts des ganzen Volkes in seine Arme, küßte und segnete ihn zum Abschied, und zog seine Straße fürder. Barsillai aber kehrte bewegt und das Herz von Segenswünschen und Fürbitten für seinen leutseligen Herrn voll zu seiner Hütte in Roglim zurück, wo er wahrscheinlich bald nachher im Frieden Gottes entschlafen ist. Die Begegnung mit dem Könige an der Jordansfuhrt blieb ihm bis an das Ende seiner Tage seiner lieblichsten Lebenserinnerungen eine, sowie auch David selbst sie den erquicklichsten Scenen seines Sieges- und Triumphzuges in die heilige Stadt beigezählt haben wird. Nachdem David also unter dem Huldigungsjubel des Volkes im Namen Gottes seinen Thron wieder eingenommen, widmete er seine ganze Thätigkeit fortan der Wiederherstellung der vielfach durchlöcherten Ordnungen des Reiches, und traf zugleich die ausgedehntesten Vorbereitungen zum Tempelbau. Das Volk aber feierte die erneuerte Thronbesteigung seines Königes mit dem von diesem selbst gedichteten 21. Psalm, und stimmte in Gemeinschaft mit dem erhabenen Gebieter, der sich im Geiste allezeit mit seinem Volke zu einer Einheit zusammenschloß, auf's freudigste bewegt in denselben ein. „O Herr, der König freuet sich in deiner Kraft, und wie sehr fröhlich ist er über dein Heil! Du gabst ihm seines Herzens Wunsch, und weigertest ihm das Verlangen seiner Lippen nicht. Du überraschtest ihn mit Segnungen des Glücks, und setztest eine goldne Krone auf sein Haupt. Um Leben bat er dich,“ (d. i. um Fortdauer und Beständigung seines Hauses,) „und du gabst ihm Leben immer und ewiglich,“ (du verhießest - 2. Sam. 7, 13. - der Herrschaft seines Samens eine ewige Dauer, nemlich in dem Messias). „Groß ist seine Ehre durch dein Heil; Herrlichkeit und Pracht legtest du auf ihn. Du setzest ihn zum Segen ewiglich, und erfreust ihn mit Freuden deines Angesichtes. Denn der König hoffet auf den Herrn, und durch die Gnade des Höchsten wird er nicht wanken. Deine Hand, (o David,) wird finden alle deine Feinde; deine Rechte wird finden deine Hasser. Du wirst sie machen wie einen Feuerofen (vor Scham), wenn du sie anblickst. Der Herr in seinem Zorne wird sie vernichten; Feuer wird sie verzehren. Ihre (der Gottlosen) Frucht wirst du von der Erde vertilgen, und ihren Samen aus den Menschenkindern. Denn sie dachten Uebels wider dich aus, und machten Anschläge, die sie nicht auszuführen vermochten. Du wirst sie zur Schulter machen,“ (d. h. sie schlagen, daß sie dir als Fliehende nur den Nacken zeigen;) „aber doch wirst du, (ihnen den Weg vertretend,) mit der Bogensehne ihnen in's Antlitz zielen. Preis dir, o Herr, ob deiner Kraft. Besingen und loben wollen wir deine Stärke!“ -