Krause, Cäsar Wilhelm Alexander- Die Liebe sichert das Gesetz.
Predigt am achtzehnten Sonntag nach Trinitatis.
Erhalte uns in deiner Liebe, Gott! Du bist die Liebe! Amen.
Der gefährlichste Feind, den das gesellige Beisammenleben der Menschen in kleinerem oder größerem Vereine, im Familien-, Gemeinde- und Staatenverbande hat, ist die Selbstsucht. Derjenige, welcher sich durch irgend einen Zufall ganz allein und getrennt von aller menschlichen Gesellschaft befände, würde recht haben, wenn ihm sein eigenes Wohl allein der Maßstab seines Handelns wäre. In dem Augenblicke aber, da noch ein anderer Mensch zu ihm heranträte, würde dieses Recht sofort zum Unrechte werden, denn der Andere ist ihm gleich berechtigt, er hat Rechte auf ihn, und diese Rechte zu achten ist er verpflichtet. Sobald sich Menschen zu irgend einer Gesellschaft verbinden, muss es das Haupt- und Grundgesetz für Jeden sein, das Wohl des Ganzen über sein eigenes zu stellen, und wer gegen dies Gesetz fehlt, sündigt gegen die Gesamtheit. Gegen diese Unterordnung sträubt sich die dem Menschen eigentümliche Selbstsucht. Wer ihr huldigt ist unfähig, Andere zu beglücken, ja auch nur mit ihnen glücklich zu leben, und darum ist es die Hauptaufgabe aller Erziehung, die Kinder daran zu gewöhnen und darin zu üben, dass sie ihren Willen dem höheren Willen der Eltern und Lehrer unterordnen, damit sie einst in ihrem späteren Leben bereit sind, den höheren Willen des Gesetzes anzuerkennen, und sich ihm zu unterwerfen. Je freudiger und völliger sie es tun, je weniger es ihnen schwer wird, sich aus Rücksicht auf Andere und auf die Gesamtheit zu entäußern und zu opfern, desto besser ist ihre Erziehung gelungen, desto fähiger sind sie, ein Segen für ihre Umgebungen zu werden. Die Gesamtheit hat das Recht, von dem Einzelnen die Achtung der zu ihrem Wohle getroffenen Anordnungen und Einrichtungen zu fordern, ja ihn zu derselben zu nötigen, und ihre Verletzung zu strafen. - Wenn nun die Erziehung aller einzelnen Menschen so sorgfältig geleitet würde, und so vollständigen Erfolg hätte, dass sie, in die Welt eintretend, das Gesamtwohl immer dem Ihrigen überordneten, dass Jeder das Recht des Anderen freudig achtete, so wäre dadurch ein Zustand der vollkommenen Einigkeit und des Friedens unter den Menschen geschaffen. Ein solcher ist aber leider noch nicht vorhanden. Die Selbstsucht macht sich immer noch geltend; Eigennutz und Leidenschaft verhindern, dass die Menschen die Rechte der Anderen achten, und so wird das gesellige Beisammenleben der Menschen durch den beständigen Kampf der gegenseitigen Interessen beunruhigt, Einigkeit und Friede bleiben fromme Wünsche. Es werden Gesetze notwendig, welche Jedem seine Grenze anweisen, sie vor den Eingriffen der Anderen sichern, Streitigkeiten schlichten, und die Widerspenstigen und Gemeinschädlichen richten. Auf der Zweckmäßigkeit und auf der Heilighaltung der Gesetze ruht das Wohl der Länder und Gemeinden, und Derjenige, der sich ihnen völlig und freudig unterwirft, ist wahrhaft frei: frei von dem inneren Zwange seiner Leidenschaften, und von dem äußern Zwange der Gewalt. -
Dieser Satz ist in seiner Allgemeinheit auch wohl überall anerkannt; aber in Einzelnen nicht ebenso allgemein befolgt, und immer wieder ist es die Selbstsucht, welche sich gegen das Gesetz auflehnt und dasselbe gefährdet, indem sie ihr Urteil über dasselbe nicht von den allgemeinen Zuständen, sondern von ihrem persönlichen Verlangen ableitet. Wohl in keiner Zeit so sehr als in der jetzigen ist das Streben lebendig gewesen, die bürgerlichen und staatlichen Zustände durch eine fortschreitende Gesetzgebung zu verbessern, und dies Streben ist ein ehrenwertes, dem sich Niemand entziehen kann, der es mit seinem Vaterlande wohl meint. Aber wie viele Klagen hört man auch wieder, dass die Gesetzgebung unzureichend sei, dass die Gesetze entstellt, falsch gedeutet, übertreten werden, und wie sehr ist man geneigt, dies lediglich denen zur Last zu legen, welche nach dem bestehenden Rechte zur Gesetzgebung berufen sind? Man mag darin nicht immer unrecht haben; aber oft hat man's gewiss. Denn man vergisst, dass jede menschliche Gesetzgebung, auch die beste, doch immer den Stempel des Menschlichen, die Unvollkommenheit, an sich tragen muss; dass sie immer auf eine, möglichem Irrtume unterworfene, Beurteilung der Zustände sich gründet; dass wie die Umstände und Verhältnisse sich ändern, so auch die Gesetzgebung ihnen folgen muss; dass aber das Bedürfnis immer eher da ist, als seine Abhilfe, und dass daher nie ein Zeitpunkt eintreten kann, an welchem irgend eine größere menschliche Gesellschaft sprechen könnte: Jetzt sind wir mit unseren Gesetzen fertig. - Alle diese notwendigen Mängel würden jedoch so drückend nicht sein, zu so vielen Klagen nicht Veranlassung geben, wenn den Menschen nicht das fehlte, was über jedem Gesetze steht, ohne welches kein Gesetz das leisten kann, was es leisten soll, aus welchem allein gute Gesetze fließen, ohne welches sie nie die rechte Treue finden. Fragt ihr, was dies sei? Es ist die Liebe, die hohe, edle, sittliche, allgemeine Liebe, das alleinige Gebot des Christentums. Kein Gesetz kann segnen, wenn es nicht aus dieser Liebe entsprungen ist, kein Gesetz ist sicher, wenn diese Liebe nicht sein Schutz ist, wenn sie nicht zu seiner rechten Erkenntnis, zu seiner willigen Befolgung, zu seiner notwendigen Fortbildung, zu der von ihm geforderten Entäußerung die rechte Anleitung gibt. Alle Gebote, alle Gesetze sind in dem Einen enthalten: Du sollst Gott lieben über Alles, und deinen Nächsten, wie dich selbst. - Die Liebe nur sichert das Gesetz. - Das, geliebte Brüder, will ich euch heute beweisen, um euch zu überführen, dass wir sehr oft nicht das Gesetz, sondern nur unseren Mangel an wahrer Liebe anzuklagen haben, wenn wir den Druck unserer Zeit beseufzen. O gebe Gott dazu seinen Segen, damit wir erkennen, was Not tue, und immer völliger werden in der wahren Liebe, die Jesus Christus fordert. Amen.
(Gesang. Gebet.)
Evang. Matth. 22,34-46.
Herr, du hast Worte des ewigen Lebens! So rief begeistert Petrus unserem Heilande zu, und fand darin den Beweis, dass er wahrhaft sei Christus, der Sohn des lebendigen Gottes. Solch' ein Wort des ewigen Lebens ist es auch, das Jesus in unserem Evangelio ausspricht: Du sollst Gott lieben über Alles, und deinen Nächsten, als dich selbst. - Auch Moses hatte dies Wort in ähnlicher Weise schon gesprochen; aber es verschwand unter der Masse der Gebote und Vorschriften der äußeren Sitte, mit denen sein Gesetz seine Bekenner fast erdrückte. - Anders steht es im Christentume da, als der Angel- und Mittelpunkt der ganzen christlichen Sittenlehre, als ein Gebot, an das kein anderes heranreicht, als ein Grundsatz, aus welchem alle anderen Gesetze fließen, und welcher sie alle schon in sich enthält. - Gesetze, Verfassungen allein tun es nicht; sie sind starre, kalte Buchstaben, sie beglücken nicht das Einzelne, nicht das Ganze, wenn sie nicht wie ein erwärmender, belebender und befruchtender Sonnenstrahl die Liebe durchdringt. Sie ist der wahre Gottesodem, von dem berührt alles Edle gedeiht, alles Schwache und Gebeugte sich aufrichtet, vor dem der freche Sinn sich beugt, und die gewalttätige Hand erschlafft. Nur das Gesetz, das aus der Liebe hervorgegangen ist, das von der Liebe geleitet und geschützt wird, nur dies beglückt. Die Liebe sichert das Gesetz! Das wollte ich heute dartun.
Ja, die Liebe sichert das Gesetz, denn sie gibt zu seiner Entstehung den rechten Anlass, zu seiner Erkenntnis den rechten Geist, zu seiner Erfüllung den rechten Trieb, für seine Lücken die rechte Ergänzung, für seine Lasten die rechte Ausdauer.
Schon diese wenigen Sätze werden es deutlich machen, welch' eine große Wahrheit in dem Ausspruche liegt: Die Liebe sichert das Gesetz. Lasst sie mich jetzt noch weiter ausführen.
Die Liebe sichert das Gesetz, denn sie gibt,
1) zu seiner Entstehung den rechten Anlass.
Die Liebe ist des Gesetzes Vater und Mutter; es wird von ihr gezeugt und geboren. Für dem Menschen auf seinem niedrigsten irdischen Standpunkte gibt es nur ein Recht - das des Stärkeren. Da schützt den Schwachen kein Gesetz; seine Schwäche ist sein Fluch: rechtlos ist er in die Hand des Stärkeren gegeben, und diese verfahrt mit ihm, wie mit einer rechtmäßigen Beute. Ach, dies Recht herrschte lange Zeit auf Erden, und das war eine böse, böse Zeit. Da war die Willkür der Stärkeren das Gesetz der Schwachen, das seine Entstehung nur in der Laune und Leidenschaft derselben fand, da konnte das Glück nicht gedeihen, da starb es unter dem ehernen Tritte der Gewalttat. Damals war aber der Geist Jesu Christi noch nicht der Führer der Menschen geworden. Je mehr er es wurde, je mehr sie die Verpflichtung des Wortes: Du sollst Gott lieben über Alles und deinen Nächsten wie dich selbst auch für sich erkannten; desto mehr mussten sie die Ungerechtigkeit jenes sogenannten Rechts erkennen, desto mehr musste die Gewalt dem Gesetze weichen. Da fingen die Mächtigen dieser Erde an zu fühlen, dass sie, wie sie ihre Macht von dem Herrn hätten, so auch für die Anwendung derselben dem Herrn verantwortlich seien, und dass diese Verantwortlichkeit sie um so schwerer drücken müsse, je weniger sie ihre Macht angewandt hätten, um ihre Menschenbrüder zu beglücken. Die Liebe lehrte sie, dass nicht bloß einzelne Stände, sondern alle Menschen ein Recht auf den Schutz des Gesetzes hätten, und dass der Seufzer des Gedrückten und Misshandelten zu Gott schreie. Das haben die edleren Naturen zwar zu allen Zeiten und unter allen Völkern erkannt, und sind dem Zuge ihres Herzens gefolgt. Aber die Liebe als ein allgemeines, auch über dem Gewaltigsten stehendes Gesetz zu allgemeiner Anerkennung gebracht zu haben, das ist das hohe Verdienst des Christentums. Es dringt darauf, dass die Gesetze nicht ihre Quelle haben in der Laune, in der Willkür der Mächtigen, sondern dass sie nur den Zweck haben, die allgemeine Wohlfahrt und Sicherheit, wie des Einzelnen Recht und Glück zu begründen und zu wahren, das sie aber auch dann erscheinen, wenn sie nötig sind. Es wäre traurig, wenn nur das harte Gebot der Notwendigkeit, der unwiderstehliche Drang der Umstände das Gesetz sollte hervorrufen können; wo das der Fall ist, da herrscht die Liebe Christi nicht. Aber die Liebe ist es, welche vorsorgend umherschaut, ob sie irgend wo ein Bedürfnis erspähe, welche das aufkeimende Verderben im Keime erstickt, welche das aufwachsende Gute sorgsam pflegt und unterstützt; welche um des Heiles des Volkes willen, sich nicht bedenkt, Satzungen älterer Zeit, wenn auch durch das Alter Manchem ehrwürdig, oder durch Gewohnheit Manchem lieb, - so wie Rechte und Vorrechte, welche den freudigen Entwicklungsgang des Volkes lähmen, aufzugeben und aufzuheben; denn die Liebe kennt keinen Unterschied der Person, sie sucht nicht das Ihre, sie freut sich aber der Gerechtigkeit, sie will, dass Allen geholfen werde, sie gibt den rechten Anlass zu jedem entstehenden Gesetze. Solche Gesetze segnen aber auch - werden mit Dank aufgenommen, mit Freudigkeit befolgt, und wie ein teures Eigentum in den Herzen des Menschen bewahrt, während alle anderen als unnötige Bürden unwillig getragen und bereitwillig umgangen werden. - Mit Stolz auf seine Herrscher und mit Dank gegen Gott blickt unser Volk, Geliebte, zurück auf jene Zeit der Prüfung und der Trübsal, in welcher unsere neueste Gesetzgebung entstand, die solcher echten Liebe entsprossen ist, und darum auch den Grund zu des Vaterlandes Erhebung gelegt hat! O, bitten wir Gott, dass sie immerdar in unserem Staate walte, dass nur sie seine gesetzliche Ordnung gebäre; dann ist der Segen guter Gesetze uns gesichert. - Möchte es aber wie im Großen, so auch im Kleinen überall sein: in allen Häusern, in allen Familien, in allen Gemeinden. Auch dort müsse nur die Rücksicht auf das Wohl Aller, die wahre Liebe, das Verhältnis der Einzelnen, wie die allgemeine Ordnung regeln. Dort sind die Beziehungen des Menschen zu einander so nahe, und gehen so ins Einzelne, dass kein Gesetz umfassend genug wäre sie festzustellen. Auch da sichert, ja vertritt die Liebe das Gesetz, wehrt der Willkür des Starken, der Unterdrückung des Schwachen, und erweckt Alle zur Arbeit an dem gemeinen Wohl.
So ist es denn unzweifelhaft und in allen Fallen die Liebe, welche des Gesetzes Erscheinen sichert, indem sie zu seiner Entstehung den rechten Anlass gibt; sie sichert aber auch vor dem Missverständnisse, denn sie gibt
2) zu seiner Erkenntnis den rechten Geist.
Man hört so oft darüber klagen, dass die Gesetze doch so vieldeutig seien, dass ihnen der rechte, klare, einfache Ausdruck fehle, der den Irrtum und die böswillige Verdrehung ausschließe, und jedem Einzelnen sogleich das Verständnis desselben sichere. Aber mit Unrecht hebt man das als einen Mangel irgend einer bestimmten Gesetzgebung hervor, sondern es ist das gemeinsame Los aller menschlichen Gesetze. Das Wort des Menschen ist immer nur ein unvollständiger Ausdruck seines Gedankens. Dieses mag noch so klar, noch so deutlich sein, es ist unmöglich einen ihm völlig und allein entsprechenden Ausdruck zu finden. Die allereinfachste Rede lässt das Missverständnis und eine falsche Deutung zu, und je zusammengesetzter sie ist, desto mehr steigt die Gefahr der falschen Auffassung. Nun sind aber die verschiedenen Verhältnisse, in denen Menschen zu einander stehen können, so vielfach, dass auch die Gesetzgebung eine höchst zusammengesetzte werden muss, indem es ihre Pflicht ist, auf alle diese Verhältnisse einzugehen. Wollte sie für alle Fälle bloß Grundsätze aufstellen, was freilich das Einfachste wäre, so würde sie der Willkür derer, die sie anwenden sollen, zu viel Spielraum lassen. Alle möglichen Fälle aber vorauszusehen, und bestimmte Vorschriften für sie bereit zu halten, ist unmöglich, und so wird immer unter den vorhandenen einzelnen Vorschriften eine Auswahl der am Meisten passenden stattfinden müssen. Da ists denn nun die Liebe allein, welche den rechten Geist zu der rechten Erkenntnis des Gesetzes gibt, welche dadurch die Erreichung der Absicht des Gesetzes sichert. Wer mit Leichtsinn oder Böswilligkeit an das Gesetz herangeht, wer sich die Arbeit leicht machen will oder wer mit Fleiß sucht, ob er nicht etwas finden könne, das Gesetz zu beugen oder ihm zu entschlüpfen, seinen klaren Sinn zu entstellen, dem wird es an einem Erfolge nimmer fehlen, dem wird es immer möglich sein, auch der Ungerechtigkeit den Schein des Gesetzlichen zu geben. Und gewiss, wo man über des Gesetzes Entstellung klagt, da ist es gewöhnlich nur die Nachlässigkeit oder Böswilligkeit, welche solche Klage verschuldet. Wer aber mit Liebe zur Sache, mit Liebe zur Gerechtigkeit, mit Liebe zu Gott und den Menschen das Gesetz anwendet, als nur zur Förderung und Sicherung besonderer und allgemeinerer Wohlfahrt gegeben, der ist dadurch am Wirksamsten vor dem Missverständnisse und dem Missbrauche desselben geschützt: Die Liebe ist's, die das Gesetz sichert, denn die gibt zu seinem Verständnisse den rechten Geist. - Es ist damit gerade so, wie mit der Urkunde unseres Glaubens, mit dem Worte Gottes in der heiligen Schrift. Wer dieselbe nur mit der Absicht zur Hand nimmt, um an ihr zu mäkeln, sie zu bekritteln und sie verdächtig zu machen, dem wird es dazu an Stoff und Gelegenheit nicht fehlen. Wer aber mit wahrer Liebe zu Gott und seiner Offenbarung in derselben sucht, wie sie von Christo und von der Wahrheit zeuge, dem gibt diese Liebe auch den rechten Geist, dass er in ihr die unerschöpflichen Schätze der Weisheit erkennt, das Licht seines Lebens, den Grund seines Glaubens und seiner Hoffnung in ihr findet. - Gewiss, in den meisten Fällen liegt weniger in seiner mangelhaften Beschaffenheit, als in dem Mangel an Liebe, an redlichem Willen der Grund der falschen Deutung und schlechten Anwendung der Gesetze. Auf den Geist kommts auch hier an, in welchem sie aufgefasst und angewandt werden, und die Liebe gibt den rechten Geist dazu, sie sichert des Gesetzes richtiges Verständnis, und
3) sie gibt auch zu seiner Erfüllung den rechten Antrieb.
Nicht für den Einzelnen, für Alle sind die Gesetze da, um einem Jeden die Grenze seines Rechts und den Umfang seiner Pflicht anzuzeigen. Wer jene Grenze überschreitet und diesen Umfang der Pflicht nicht ausfüllt, tut dem Anderen Unrecht, und das will das Gesetz verhüten und bestrafen. Das Gesetz fordert daher oftmals Leistungen oder Entsagungen, denen die Neigungen der Menschen widerstreben. Was wird ihm nun den Gehorsam sichern? Die Liebe ist's allein; die Anerkennung seiner Notwendigkeit und Nützlichkeit, das herzliche Bestreben zu der öffentlichen Ordnung und allgemeinen Wohlfahrt mitzuwirken, aus welchem selbst die Bereitwilligkeit entspringt, um derselben willen auch zu leiden. - Oder sollte etwa die Furcht vor der Strafe ein sichererer Hüter des Gesetzes sein? Ach, es gibt Mittel genug, das Gesetz zu umgehen, sich Straflosigkeit zu sichern, den bösen Taten den Schein des Rechts und des Anstandes zu gewinnen; Mittel genug, um im Verborgenen zu freveln - und überhaupt kann die Furcht wohl ein Antrieb werden, etwas zu unterlassen, nimmer aber eine Pflicht in solchem Umfange zu erfüllen, dass dem Geiste des Gesetzes dadurch wahrhaft genügt ist. Man kann aber auch vor dem Buchstaben des Gesetzes unbescholten dastehen, und dennoch seinem Geiste nach eine volle und gehäufte Schuld auf sich geladen haben. - Die Liebe allein sichert des Gesetzes Erfüllung. Kein anderer Beweggrund irgend einer Art könnte die Mutter zu allen Opfern, den Vater zu der rechten Treue bewegen, und wo aus einem Hause die Liebe entflohen ist, da wird kein Gesetz den Frieden und das Glück wieder einbürgern. - Darum ist es das einfachste und sicherste Mittel, den Gesetzen Gehorsam zu verschaffen, wenn man sie so einrichtet, dass sie selbst Zeugen sind von ihrer Zweckmäßigkeit und von der Liebe, aus welcher sie hervorgegangen. Dann werden sie auch Liebe für sich, und dadurch Gehorsam gewinnen, zugleich aber auch dem Liebe erwerben, der sie gegeben hat. Versucht es nur, dies Mittel anzuwenden, ihr Eltern, gegenüber euren Kindern, ihr Herrschaften, gegenüber euren Dienstboten, ihr Vorgesetzten, gegenüber euren Untergebenen; sucht euch die Liebe derselben zu gewinnen! Lasst eure Vorschriften, auch wenn das Wort streng und die Pflicht schwer ist, doch den Geist der Liebe atmen, lasst sie nur hervorgehen aus der väterlichen Sorge für das wahre Wohl dessen, was euch anvertraut ist; richtet sie so ein, dass ihre Zweckmäßigkeit und Notwendigkeit einleuchtet, und lasst sie niemals als Ausflüsse böser Laune oder gehässiger Willkür erscheinen, und seid es versichert: die Klage über den ungehorsam wird, wenn auch nicht ganz aufhören, doch viel seltener werden. - Gesetzgebungen, die nicht aus der Liebe, sondern aus der Selbstsucht, der Laune und der Ungerechtigkeit hervorgingen, haben oft ganze Völker zur Verzweiflung getrieben -: die Geschichte droht mit ihren Beispielen! Die Namen von Gesetzgebern aber, die mit Gerechtigkeit und Liebe es waren, hat eben dieselbe Geschichte dem segnenden Andenken der spätesten Nachwelt überliefert. - Ach, lasst euch von Jesu lehren, ihr Alle, die ihr irgendwo und irgendwie zu gebieten habt. Liebt Gott über Alles, und weil ihr Gott liebt, so liebt auch eure Brüder. Liebt sie wie euch selbst, und was ihr in ähnlichen Fällen für euch nicht wünschen mögt, das legt auch keinem Anderen als Zwang auf. Gerechtigkeit und Billigkeit haben ihren gemeinsamen Grund in der Liebe, und sie allein sichert das Gesetz, weil sie für seine Erfüllung den rechten Antrieb und auch
4) für seine Lücken die rechte Ergänzung darbietet.
Es ist ebenfalls ein gemeinsamer Mangel, den alle menschlichen Gesetze haben, dass sie lückenhaft und unvollständig sind. Es ist schon nicht einmal möglich, alle vorhandenen Fälle zu berücksichtigen, geschweige denn alle in der Zukunft möglichen im Voraus zu ahnen, und daher kommt notwendig jener Mangel, den die Menschen ihren Gesetzen so oft vorwerfen. Es ist allerdings ein Mangel, der oft in hohem Grade nachteilig werden kann - aber nur da, wo der Buchstabe, nicht da, wo der Geist der Liebe herrscht. Denn ist es etwa so unbedingt notwendig, dass wir, ein Jeder für uns, ein bestimmtes geschriebenes Gesetz haben? Hat nicht Gott seinen Willen auch in unser Herz geschrieben? Waren nicht, wie Paulus spricht, die Heiden, obwohl sie das Gesetz nicht hatten, sich selbst ein Gesetz, und bewiesen dadurch, dass des Gesetzes Werk in ihr Herz geschrieben sei, dass ihr Gewissen sie bezeugte und ihre Gedanken sich untereinander anklagten und entschuldigten? Schaffe nur hinfort aus deinem Busen das selbstsüchtige, steinerne Herz; schaffe nur in dir ein durch christliche Liebe erweichtes Herz, so bedarfst du gar keines Gesetzes. Du darfst dann nur dem Drange dieses Herzens folgen, und der Geist des Herrn, der dann in dir lebt, wird dich in alle Wahrheit leiten, alle Gebote werden dann von dir in dem Einen erfüllt werden: Du sollst deinen Nächsten lieben, als dich selbst! - Wahrlich, wer bei jeder guten Tat erst bedächtig mit sich zu Rat gehen will, ob ihn denn auch ein Gesetz dazu verpflichte; wer dann, wenn sein Inneres ihn von einer Tat abmahnt, erst untersuchen will, ob denn auch ein bestimmtes Gesetz ihm Solches verbiete, der wird nie etwas Gutes und Großes vollbringen, wohl aber wird er wider die Warnungen seines Gewissens in die Stricke des Bösen geraten. Mag das Gesetz schweigen, wenn die Liebe gebietet, dann frisch ans Werk! Wenn aber die Liebe verbietet, auch wenn kein bestimmtes Gesetz entgegensteht, dann schone deines Gewissens. -
Seht Jesu Christi heiliges Walten! Die Liebe war sein Trieb, und nur in ihr finden wir die ganze Erklärung seiner Herablassung, seiner hingebenden Treue, seines aufopfernden Todes. Durch sie wurde er der gute Hirte, der er war, und hat seine Liebe bewiesen dadurch, dass er sein Leben ließ für seine Freunde. Jeder andere Beweggrund des Handelns hat seine Grenzen. Sei's die bloße Buchstabentreue, oder Eigennutz, oder Eitelkeit und Ehrsucht, oder Furcht; sie treiben es bis zu einem gewissen Punkte, wo sie ihr Ziel erreicht haben, aber weiter nicht. Die Liebe aber hört nimmer auf, wenn auch Alles endet; sie tut sich nie genug, sie ist ihr eigener Trieb, - und mag das Gesetz noch so viele Lücken und Mangel haben, die Liebe ergänzt sie alle und gibt ihm die Fortbildung deren es bedarf, um immer zeitgemäß und fördersam zu bleiben. Darum kann den Christen auch Gesetzesunkunde, darum können Mängel und Lücken des Gesetzes ihn nimmer entschuldigen, wenn er Böses tut; denn die Liebe zeigt ihm überall Gottes Willen, sie sichert das Gesetz; sie gibt für seine Lücken die rechte Ergänzung und endlich
5) für seine Lasten die rechte Ausdauer.
Das Gesetz legt Pflichten und Lasten auf, auch solche, die mit gleicher Schwere das ganze Leben hindurch drücken. Es fordert Geduld und Selbstüberwindung, weil es mit unseren Wünschen im Widerspruche steht. Was gibt die Kraft, jenen Druck geduldig zu tragen, diese Selbstüberwindung nicht zu scheuen und nimmer zu ermatten in der treuen Erfüllung der Pflicht? Nur die Liebe zu Gott und zu den Brüdern vermags! Für seine Kinder arbeitet der Vater im Schweiße seines Angesichts; das Gesetz legt ihm ja die Pflicht auf, sie zu versorgen. Die Mutter pflegt und wartet sie, denn solches ist nach dem Gesetze ja ihre Pflicht. Aber welches Gesetz wäre im Stande die völlige Gewissenstreue, die heilige Pflicht des Vaters gegen seine Familie, der Mutter gegen die Kinder ihres Herzens zu bezeichnen, und sie dann zu nötigen, die Kraft, die Hingebung und Entsagung zu bewähren, welche ihr heiliger Beruf von ihnen verlangt? O wie ist das Gesetz doch so unkräftig, wie sind des Gesetzes Werke doch so ungenügend! Nur die Liebe vermags, die Liebe gibt Kraft und Heldenmut auch den sonst Schwachen und leicht Verzagten. Keine Vorschrift, kein Gebot, keine Drohung - die Liebe allein sichert das Gesetz, und gibt für seine Lasten die rechte Ausdauer. Ja die Liebe verträgt auch das Unrecht, das das mangelhafte Gesetz vielleicht dem Einzelnen zufügt. Sie ringt nach des Gesetzes Besserung, aber sie bricht und verachtet es nicht. Es ist auch keineswegs selten, dass um des gemeinsamen Wohles willen der Vorteil des Einzelnen geopfert werden muss, und solches Verfahren erscheint dann diesem oft als Unrecht. Die wahre Liebe stellt sich auch dann nicht ungebärdig, sondern sie trägt es um der Brüder willen. Wahrlich nur aus der Liebe stammt die rechte Ausdauer für die Lasten des Gesetzes. Ist damit nicht aber die Wahrheit meines Satzes erwiesen, dass die Liebe es ist, welche das Gesetz sichert? Gewiss ist es ein großes Glück für ein Land, weise Gesetze zu haben; - aber sie tun es allein nicht, wenn nicht im Geiste der Liebe sie gehandhabt werden. Es ist ein großes Unglück für ein Land, schlechte Gesetze zu haben; aber wenn die Liebe sie handhabt, so werden selbst sie erträglich. Gewiss ist es eine heilige Pflicht für einen Jeden nach dein Maße der ihm anvertrauten Kräfte und der ihm gewordenen Stellung dazu mitzuwirken, dass die Gesetzgebung des Vaterlandes eine immer bessere und segensreichere werde. Aber wen bei diesem Streben nicht der Geist der Liebe leitet, die treue Sorge für das allgemeine Wohl, der trifft das Rechte nie, denn nur die Liebe sichert das Gesetz! Erkennt daraus, Geliebte, wie viel höher die Liebe steht, als das Gesetz und wie viel heiliger sie ist, da es ohne diese Schutzwehr nicht bestehen kann! Das ist aber so natürlich, denn das Gesetz stammt, von den Menschen, die Liebe stammt aus Gott, der selbst die Liebe ist, und dessen Liebe gegen uns zur Tat geworden ist, durch die Sendung Jesu Christi. Von ihm, von seinem Evangelio kommt die Liebe, welche das Gesetz sichert, darum ist es auch nur in dem Lande recht gesichert, dessen Herrscher und Bewohner von dem Geiste Jesu Christi erfüllt sind. Da entspringen aus diesem Geiste weise Gesetze, werden in diesem Geiste gehandhabt, befolgt, und fortgebildet, da vergütet die Liebe die Lasten, die sie auferlegen. Das reine Evangelium von Jesu Christo ist der Schutz der Staaten, seiner Gesetze und seines Wohles; das reine Evangelium ist aber da nicht, wo es sich nur um unfruchtbaren Glaubensstreit, um totes Satzungswesen handelt, wo wohl gar der Geist geknechtet und der Zeuge der Wahrheit verfolgt wird, sondern da, wo des Geistes Freiheit geehrt, und das Leben in der Liebe geübt wird. Da ist der Geist des Herrn, da wohnen Gottes Kinder, da ist auch das Gesetz gesichert. O, gebe Gott, dass es bald allgemein so sei auf Erden. Wir aber, Geliebte, wollen dazu beitragen, dass dieser Wunsch in Erfüllung gehe, und das können wir, wenn wir wenigstens für uns treu das Gebot erfüllen: Du sollst Gott lieben über Alles, und deinen Nächsten, als dich selbst. Amen.