Jacoby, Carl Johann Hermann - Der erste Brief des Apostels Johannes in Predigten ausgelegt - VII. Die Heiligung der Lebensstufen.
1. Joh. 2,12-17.
3. Die Heiligung des Alters.
Der Apostel Johannes, der ein Wort für Kindheit und Jugend hat, spricht auch ein Wort der Mahnung zu den Vätern, zu den gereiften Männern, zum müden Alter. „Ihr kennt den, der von Anfang ist“, ruft er ihnen zu. Ihr habt, will er sagen, Jesum Christum erkannt und in ihm das Wort, das im Anfang war, ihr habt in ihm den gefunden, von dem wir bezeugten: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort“ (Joh. 1, 1).
Es ist die höchste Stufe der Erkenntnis Jesu Christi, die der Apostel Johannes bei den Vätern der Gemeinde voraussetzt. Zu ihnen hegt er das Vertrauen, dass sich das Bild des Heilands immer mehr in ihrem Gemüte in seiner vollkommenen Herrlichkeit offenbart, bis sich in ihrem Geiste alles Menschliche in seiner Erscheinung als Spiegel göttlicher Hoheit und Gnade enthüllt hat. Er ist dessen gewiss, dass die Väter der Gemeinde in Christus das ewige Wort Gottes erkennen, das Wort der unendlichen Liebe, durch welches die Welt geschaffen wurde und nun wiederhergestellt, das Wort, in dem sich Gott seiner Menschheit voll und ganz erschlossen, in dem er zum letzten mal zu ihr geredet hat. Und weil sie in Christus den gefunden haben, der von Anfang ist, so ist er ihnen aller Menschheitsgeschichte Mittelpunkt und Ziel geworden, in dem ihr volles Leben, volle Genüge, volle Seligkeit und voller Frieden, volle Wahrheit und volle Heiligungskraft geschenkt ist. Dies haben sie erkannt, weil er ihnen der Grund geworden ist, auf dem ihr eignes Leben ruht, der Wegweiser, dem sie folgen, die Kraft, aus der sie schöpfen. Sie haben in ihm den König des Reiches Gottes, den Versöhner und Erlöser erblickt, haben ihm als dem Friedefürsten willig das eigne Herz geschenkt, seinem Dienst sich geweiht. In Christi Persönlichkeit und Christi Werk hat sich ihnen des himmlischen Vaters Wesen und Werk offenbart. Sie haben es erfahren, dass sie bei Gott sind, wenn sie bei dem Sohne find, in das Herz des Sohnes schauend, haben sie in das Herz Gottes selbst geschaut, und so haben sie nicht nur infolge von Belehrung und Überlieferung, sondern vermöge eignen Erlebens die höchste Stufe der Erkenntnis Jesu Christi erreicht und in ihm den gesehen, der von Anfang ist. In dieser Erkenntnis ist ihnen aber ein Ewigkeitsblick zu teil geworden, der ihrem irdischen Leben eine himmlische Verklärung verliehen, in dem sie eine neue Kraft zur Heiligung gewonnen haben. Die vollkommene Erkenntnis Christi schließt himmlische Kräfte zur Heiligung des Alters in sich. Dies haben die Völker jener Gemeinden erfahren, an welche der Apostel Johannes sein Sendschreiben richtete, dies können und sollen die Väter unserer Gemeinden erfahren. So sei denn
Die Heiligung des Alters durch die vollkommene Erkenntnis Christi
der Gegenstand unserer andächtigen Betrachtung. Wir erwägen, wie diese Erkenntnis unser Alter heiligt, seine Lust und sein Leid, seine Arbeit und seinen Frieden.
1.
Meine Lieben! Je weiter unser Leben fortschreitet, und je mehr wir uns der Grenze nähern, die unserm irdischen Dasein gesteckt ist, desto mehr sind wir geneigt, erinnernd in die Vergangenheit zurückzuschauen. Unser zeitliches Wirken hat das Arbeitsfeld gefunden, von dem wir voraussetzen, es werde uns bleiben, bis uns die Stunde des Feierabends schlägt, oder bis wir in die himmlische Welt gerufen werden. Wünsche und Hoffnungen, unter andern Verhältnissen unser Leben zu gestalten, bewegen uns nicht mehr; und, wenn sie noch von Zeit zu Zeit auftauchen, so schwinden sie doch bald. Sie ziehen durch unsere Seele flüchtigen Fußes, ohne sie lebhafter zu erregen. Wir haben uns daran gewöhnt, unser zeitliches Ziel als erreicht zu betrachten. Und ist wieder eine Reihe von Jahren verflossen, so bewegen wir den Gedanken in unserm Herzen, die Werkstätte unserer Arbeit zu verlassen und unser Erdenleben in Stille und Zurückgezogenheit zu beschließen. Und was wir kommen sahen, bald ist es eingetreten, die Stunde, die uns zum Feierabend ruft, hat geschlagen. Wir sind nun in der Stille. Was geschieht, wir erleben es teilnehmend mit, aber der Ton der Ereignisse klingt an unser Ohr, als käme er aus der Ferne. Wir begleiten die Geschicke der Völker und die Taten der Menschen bald mit freudigen, bald mit schmerzlichen Gefühlen, aber der Gedanke, dass wir nicht berufen sind, an der Lösung der Aufgaben mitzuwirken, welche die Gegenwart stellt, hält das Gemüt von lebhafterer Bewegung zurück. Nur die Wege, welche die Unsern beschreiten, erfüllen das Herz hier mit Bangigkeit und Trauer, dort mit hoher Freude. Aber nicht selten befremdet es uns auch, mit welchem Gleichmut, mit welcher Stumpfheit, oder um ein milderes Wort zu wählen, mit welcher geringen Erschütterung ein hohes Alter schmerzliche Geschicke naher Angehöriger aufnimmt und trägt. Für sich selbst begehrt es wenig. Die Hoffnung schweigt, der Blick richtet sich nicht mehr in eine zeitliche Zukunft, desto lieber und häufiger weilt der Geist in der Vergangenheit. Die Hoffnung ist von der Erinnerung abgelöst. Lust und Leid des Erdenlebens klingen in gedämpften Tönen wieder. Ereignisse, deren wir lange nicht gedachten, Persönlichkeiten, die nicht mehr auf dieser Erde weilen, Bilder aus verklungenen Tagen erwachen zu neuem Leben in unserm Bewusstsein, wie in einem Spiegel erscheint in der Seele das abgeschlossene Leben. Wir halten mit ihm Zwiesprache. Was sagt es uns, was sagen wir ihm? Blicken wir auf einen in Gott geheiligten Wandel zurück, dann erscheint uns unser Erdengang als ein herrliches Denkmal der göttlichen Barmherzigkeit und Güte. Wir vernehmen die Stimme des Herrn: „Ich habe dich je und je geliebt, darum habe ich dich zu mir gezogen aus lauter Güte“ (Jer. 31,3). Unser Leben ist uns zu einem Zeugnis von dem geworden, der von Anfang war, von dem Gott, dessen Gnade uns in Jesu Christo offenbar geworden ist, der durch Lust und Leid zu unserm Herzen geredet hat.
Lust und Leid ziehen sich durch jedes Menschenleben hindurch. Auch da, wo der Blick auf viele dunkle Tage zurückschaut, haben doch sonnige Stunden nicht gefehlt, und wer viele lachende Fluren durchschritten hat, musste doch auch durch dunkle Täler wandern. Wir sind durch Lust und Leid erzogen worden. Leidenszeiten haben sich für uns in Segenszeiten verwandelt, denn wir erkannten in ihnen unsers Gottes Weckruf: Erhebet eure Herzen von der Erde zum Himmel, von der Zeit zur Ewigkeit, vom Vergänglichen zum Unvergänglichen, kehret ein aus dem Weltgetriebe und schaffet eurer Seelen Seligkeit mit Furcht und Zittern (Phil. 2,12). Alles Kreuz schließt reichen Segen in sich, es ist gleichsam ein verkörpertes Gotteswort. Seine ernste Mahnung: „Die Welt vergeht mit ihrer Lust“ (Joh. 2,17), seine tröstende Verheißung: „Die Leiden dieser Zeit sind nicht wert der Herrlichkeit, die an uns soll offenbart werden“ (Röm. 8,18). So wächst und reift unter dem Kreuz der geistliche Mensch; wir lernen Geduld und Ergebung; Vertrauen, Zuversicht und Hoffnung erstarken. Wir werden in der zukünftigen Welt heimisch und ahnen ihre Herrlichkeit. So sind Kreuzeswege Führungen zu dem, der von Anfang ist, und ein geheiligtes Alter blickt dankbar auf sie zurück.
Aber gesegnet sind auch die Wege, über die Gottes Barmherzigkeit Freude und Erquickung gebreitet hat. Denn, wenn es auch keinem Zweifel unterliegt, dass in den Zeiten, in denen wir auf ebener, von heiterem Licht beschienener Straße wandern, die Versuchung an uns herantritt, unsers Gottes zu vergessen und den vergänglichen Gütern der Welt zu dienen, so ist es doch ein schwerer Irrtum, hier nur Versuchungen, nicht auch Segnungen zu sehen. Gott zieht uns auch durch irdische Erquickungen, durch zeitliche Güter zu sich. Auch Tage der Freude bringen Früchte der Ewigkeit hervor. Vergängliche Gaben, aus Gottes Hand empfangen, bergen unvergängliche Güter in sich. Irdisches wird Himmlisches, Zeitliches Ewiges, wenn die Liebe Gottes geschaut und erfahren wird, die sich darin verbirgt zugleich und offenbart. Wenn wir, von Krankheit genesend, neue Kraft zurückkehren fühlten, wie jauchzte dann unser Herz auf zu dem Herrn unserm Gott und brachte ihm Opfer freudigsten Dankes! Wenn nach lange vergeblichem Harren doch endlich innig gehegte Wünsche sich erfüllten, dann beugten wir uns vor der überschwänglichen Gnade Gottes und bekannten mit Jakob: „Ich bin zu gering aller Barmherzigkeit und aller Treue, die du an deinem Knechte getan hast“ (1. Mos. 32,10). Mussten wir viele Tage durch ein dunkles Tal wandern, aber heraustretend erreichten wir grüne Auen und frische Wasser, dann sprachen wir mit Petrus: Herr, gehe von mir hinaus! ich bin ein sündiger Mensch (Ev. Luk. 5,8). Tage der Freude besitzen demütigende Kraft. Sie bezeugen uns die unendliche Barmherzigkeit unsers Gottes und unsere Unwürdigkeit zugleich. Unser Herz wird mit Vertrauen zum Vaterherzen Gottes erfüllt; in kindlicher Zuversicht befehlen wir dem Herrn unsere Wege und hoffen auf ihn, er wird es wohl machen (Ps. 37,5).
So leuchten dem geheiligten Alter, das der vergangenen Tage gedenkt, auch wie strahlende Gestirne die Zeiten der Freude. Es erkennt in ihnen Offenbarungsstätten der Gnade Gottes, die emporzog zu himmlischer Herrlichkeit, empor zu dem, der von Anfang ist, zu der ewigen Liebe und ihrem ewigen Mittler.
Das Leben eines Menschen, der den gefunden hat, der von Anfang ist und in Jesus Christus uns erschienen, ist ein Kunstwerk der erziehenden Gnade Gottes. Licht und Schatten, Freud und Leid ist in jedem Leben wunderbar gemischt; hier sind es hellere, dort dunklere Farben, in denen die Weisheit des Herrn das Bild ausgeführt hat, je nach den besonderen Anlagen, die entfaltet, nach den besonderen Aufgaben, die gelöst, nach den besonderen Versuchungen, die überwunden werden sollten. Aber immer erkennt ein geheiligtes Alter in dem seinem Abschluss entgegengehenden Lebensweg ein Denkmal der göttlichen Güte und bekennt mit dankbarem Herzen: „Lobe den Herrn, meine Seele, und, was in mir ist, seinen heiligen Namen! Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat“ (Ps. 103,1.2).
2.
Aber ein geheiligtes Alter schaut mit dem Ewigkeitsblick auch auf des Lebens Arbeit und Frieden. Es blickt auf des Lebens Arbeit! Zur Arbeit sind wir berufen, in ihr finden wir Befriedigung. Ihr belastendes Übermaß drückt nieder, aber angemessen unserer Kraft, erfüllt sie mit Lust. Arbeit ist Gottes Gebot, aber auch Gottes Gabe. Arbeit ist unsere Pflicht, der wir uns nicht entziehen dürfen, aber auch unser Recht, das wir mit Freude ausüben. Alle großen Männer im Reiche Gottes waren treue, eifrige, hingebende Arbeiter. Das Leben unsers Heilandes war eine große Arbeit zur Rettung der Menschheit. „Ich muss wirken die Werke des, der mich gesandt hat, so lange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann“, so bezeugt er selbst (Ev. Joh. 9,4). Rastlos arbeitet er im Werk der rettenden Liebe, hier an den kleingläubigen Jüngern, dort an seinem im Weltsinn versunkenen Volk. Er denkt nicht an sich, nur an des Vaters Willen, an der Seinen Heil, an das himmlische Reich, seine Grundlegung, seinen Bau. In dieser Arbeit verzehrt sich seine Seele. Und die Nachfolge der Apostel wird auch Nachfolge in der Arbeit. Ein Paulus darf bekennen: „Ich habe viel mehr gearbeitet denn sie alle“ (1. Kor. 15,10). Und wo immer ein Menschenherz sich entschließt, in den Dienst Jesu einzutreten, da gelobt es auch, für ihn zu wirken, an seinem Reich zu bauen. Das Arbeitsfeld liegt für den einen hier, für den andern dort, die Kraft ist hier größer, dort geringer, aber gleich sei die Treue. Die Treue entscheidet über des Arbeiters Wert. Auch zu dem Knecht, der nur zwei Zentner empfangen, aber sie treu verwaltet hatte, spricht sein Herr: „Ei du frommer und getreuer Knecht, du bist über wenigem getreu gewesen; ich will dich über viel sehen; gehe ein zu deines Herrn Freude“ (Matth. 25,23). Und die Verheißung unsers Gottes ruft uns zu: „Sei getreu bis in den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben“ (Offenb. 2,10).
Ein geheiligtes Alter blickt auf die Arbeit des Lebens zurück mit dankbarem Herzen. Denn es ist etwas großes, für Gott, für sein Werk, in seinem Namen arbeiten zu dürfen. Ehrt es uns, im Dienst eines hohen Herrn, im Dienste des Königs zu stehen, fällt ein Abglanz seiner Hoheit und Würde auf unser Tun, wie hoch werden wir nun gestellt, da der König aller Könige, der Herrscher über alle Welt, uns nicht für zu gering hält, sein Werk in unsere Hände zu legen! Und wie groß ist das Arbeitsfeld, das den Seinen zugewiesen ist! Jede Arbeit, die das zeitliche oder ewige Wohl des Nächsten fördert, seinen Geist erquickt, bereichert, heiligt, seine leibliche Kraft bewahrt oder wiederherstellt, Hindernisse auf seinem Wege forträumt, seine Bahn ebnet, Strahlen der Freude auf sie hinleitet, jede Arbeit, die wertvollen Zwecken des Menschen dient, kann und soll als Stein in das Bauwerk des göttlichen Geistes eingefügt werden. Kein solcher Dienst ist so niedrig, dass er vom Bauherrn müsste zurückgewiesen werden; er wird durch Demut, Gehorsam, Treue und Glauben geadelt und verklärt. So darf ein geheiligtes Alter dankbar bekennen: Auch meine Arbeit ist nicht vergeblich gewesen, auch sie hat Gottes Werk gefördert, auch sie hat Gott angenommen. Wohl mischt sich vielleicht in den Ton des Dankes auch die Klage: Gering nur war der Erfolg meiner Arbeit, oder die Stimme des Vorwurfs: Wie oft war ich lässig, wie oft suchte ich meine, nicht Gottes Ehre; aber Lob und Dank werden mächtiger und lassen diese Laute verhallen. Hatten wir einen harten Acker zu bestellen, der trotz aller Mühe im Schweiße des Angesichts nur spärlich Frucht trug, wir wissen, dass in dem großen Haushalt Gottes auch auf die kleine Ernte unsers Ackers gerechnet war. Sind wir oft träge gewesen oder eifrig, aber im Eifer um die eigne Ehre, wir wissen, im Selbstgericht der Buße erfahren wir Vergebung. Denn unser Herr und Gott ist unser Vater, gnädig und barmherzig. In Christo haben wir ihn erkannt als die Liebe, die Mitleid mit unserer Schwachheit hat, die des Reuigen Schuld zudeckt, ihn nicht anschaut, wie er ist durch sich selbst, sündig, elend, ohnmächtig, sondern, wie er ist in Christo, und wie er in ihm wird. So dürfen wir, wenn auch gedemütigt und beschämt, doch dankbar auf unsere Erdenarbeit zurückschauen. Dankbare Freude an vollbrachtem Lebenswerk bleibt des geheiligten Alters unentreißbares Gut.
Aber auch als eine Stätte des Friedens erscheint ihm das nun mit schnellem Schritte seinem Ziele entgegeneilende zeitliche Leben; als eine Stätte des Friedens trotz der Kämpfe, die mit dem Erdengange unauflöslich verbunden waren. Denn leben heißt kämpfen, als Christ leben heißt, eifrig, heißt, unablässig kämpfen. Nur wenigen ist es beschieden, auf den Kampf um die äußeren Bedingungen des irdischen Lebens verzichten zu dürfen, auf vielen lastet schwer die Sorge um das tägliche Brot. Aber auch da, wo das Erdenglück zu wohnen scheint, findet Leid und Kummer Eingang und fordert viel Geduld, viel Entsagung, viel Selbstverleugnung. Eigne Trübsal muss ergeben getragen, der Unsern Schmerz mit getragen werden. Kämpfende, betende Liebe ringt um der Kinder Rettung und Bewahrung. Die Versuchung der Weltsünde, der die Begierde des Fleisches willig begegnet, soll überwunden werden. Unser Leben ist eine Stätte des Kampfes und doch auserwählt zu einer Stätte des Friedens. Denn wir atmen Friedensluft mitten in den Stürmen der Welt, wenn unser Herz in dem ruht, der von Anfang ist, in unserm Gott und Erlöser, wenn wir dem Heiland folgen, der in der heißesten Kampfesarbeit und in der dunkelsten Leidensnacht doch in des Vaters Schoß sein Haupt niederlegte. Mag es sein, dass wir nur in seltenen geweihten Stunden sprechen: „Bin gleich wie ein stilles Meer, voll von Gottes Preis und Ehr“,1) nur in seltenen geweihten Stunden auf die Höhe des Berges der Verklärung steigen, die Welt und uns selbst vergessen, um im Anschauen der Herrlichkeit Gottes auszuruhen. Mag es sein! Wir wissen, dass wir nicht zu seligem Genuss, sondern zu Arbeit und Tat berufen sind. Sechs Tage Arbeit und ein Tag Sabbatruhe ist nach Gottes Willen unsere Lebensordnung. Wir wissen, dass die Stunden heiliger Erhebung, himmlischer Erquickung uns geschenkt werden, zu erneuter Arbeit erneute Kraft zu gewinnen. Aber der Friede Gottes, der höher ist denn alle Vernunft (Phil. 4,7), der Friede, den Jesus Christus uns gegeben und gelassen hat (Joh. 14,27), ist mehr als diese Sabbatruhe, mehr als dies selige Genießen, das dem einen häufiger, dem andern seltener zu teil wird, das dieser ersehnt und, wenn er es erlangt hat, mit vollen Zügen in sich aufnimmt, in dem jener eine überschwängliche Gnade erkennt, auf die er kaum zu hoffen wagte, der Friede Gottes ist ein höheres Gut. Wir besitzen es, wenn die Gewissheit der Gotteskindschaft in Christo das Herz erfüllt, so dass wir allezeit rufen können: Abba, lieber Vater (Röm. 8,15), wir haben es gewonnen, wenn wir bekennen dürfen, auch zu mir hat mein Gott und Vater gesprochen: Deine Sünde ist dir vergeben; es ist unser eigen geworden, wenn wir uns auf allen Wegen, wie rau und dunkel sie auch sein mögen, von der Vaterhand Gottes geleitet wissen; wir spüren die beseligende Kraft des Friedens in Gott, wenn wir in allen Arbeiten und Kämpfen, wie sehr sie uns beugen, in der Erkenntnis reichen Trost schöpfen, dass wir Kämpfer und Arbeiter Gottes sind, für ihn streiten, zu seines Reiches Wachstum schaffen und wirken; wir fühlen des Friedens Macht und Stärke, wenn wir in den Tagen, da wir die Last des Kreuzes tragen, mit dem Psalmisten sprechen können: „Gott legt uns eine Last auf, aber er hilft uns auch“ (Ps. 68,20) Dieser Friede will uns in unsere Arbeiten und Kämpfe folgen, wir können ihn in dem heißesten Streit, in den dunkelsten Stunden erfahren. Deshalb soll und kann unser Leben beides zugleich sein, eine Stätte des Kampfes und eine Stätte des Friedens. Und ein geheiligtes Alter schaut mit dem Ewigkeitsblick, welches dasselbe auszeichnet, auf die Vergangenheit zurück und erkennt in ihr einen Weg, den es in der Kraft himmlischen Friedens zurückgelegt hat. Das Kreuz, das getragen werden musste, die Opfer, die gefordert wurden, die Entsagung, die geübt, das Ziel, das erreicht werden musste, die dunklen Täler, durch welche die Wanderung führte, die Hoffnung, die nicht erlosch, die Treue im Glauben, in der Liebe, in der Heiligung, dieser Bau christlicher Lebensgestaltung, er ruhte auf der Friedensmacht, welche die Gnade Gottes in das Herz gesenkt hatte. Ohne sie wäre Mut und Freudigkeit gewichen, ohne sie hätte sich Ohnmacht und Verzagtheit, die unter der Last zusammenbricht, oder Ungeduld und Trotz, welche träge und willkürlich abschütteln, was Gott auferlegt, der Seele bemächtigt. Nun aber habt ihr, teure Väter und Mütter in den Gemeinden des Herrn, in langem Leben das Wesen heiliger Friedenslüfte gespürt und es erfahren, dass der Friedensfürst, der von Anfang ist, euch immer nahe gewesen ist. Durch ihn wurde euer Leben ein Leben des Friedens in einer Welt des Kampfes.
Und so seid ihr uns, die wir noch nicht die Stufe eines höheren Alters erreicht haben, Führer und Vorbilder, zu denen wir aufschauen, denen wir folgen. Euer Leben erscheint auch uns als ein Denkmal der göttlichen Gnade und als eine Offenbarung der göttlichen Herrlichkeit. Ihr predigt uns beides, die Vergänglichkeit aller sichtbaren, die Unvergänglichkeit aller unsichtbaren Güter. Ihr lehrt uns, ewige Güter suchen, Güter, die bleiben. Segen geht von euch aus. Einem gesegneten Tag ist ein gesegneter Abend gefolgt. Euer Erdentag hat sich geneigt, aber der Anbruch eines neuen himmlischen Tages ist nahe gekommen. Der Weg ist nicht mehr lang, aber vielleicht recht schwer. Die Last gebrechlichen Alters drückt nieder. Aber Gottes Gnade gibt die Kraft, auch schwere Last zu tragen. Sein heiliger Friede weiche nicht von euch, sein himmlischer Trost halte euch aufrecht. Und wenn ihr aus der streitenden zur triumphierenden Gemeinde gerufen werdet, möge das Simeonsbekenntnis das letzte Wort, wenn auch nicht der Lippen, so doch eures Geistes werden: „Herr, nun lässt du deinen Diener im Frieden fahren, denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen, welchen du bereitet hast vor allen Völkern, ein Licht zu erleuchten die Heiden, und zum Preis deines Volks Israel“ (Ev. Luk. 2,29-32). Amen.