Hoffmann, Heinrich Friedrich Carl - Die Hure Rahab.
Josua Kap. 2.
Josua war durch Gottes Verheißung seines Sieges über die Kanaaniter gewiss. Dennoch brauchte er auch die menschlichen Mittel, welche nötig waren, um einen glücklichen Erfolg zu gewinnen. Er sendete Kundschafter aus, welche die Furt im Jordanfluss, Wege und Steige im jenseitigen Land, auch die Zugänge zu den festen Städten untersuchen sollten. Unter diesen Städten war Jericho die erste, welche die Heerscharen Israels erreichen mussten, und zu erobern hatten Josua war selbst einst mit Caleb und zehn Anderen als Kundschafter in das Land der Kanaaniter eingedrungen. Seine zehn Gefährten waren damals verzagten Herzens geworden und hatten das ganze Volk der Juden mutlos gemacht; daher hatte Josua zu Kundschaftern gewiss zwei Männer ausgesucht, die nicht zu den Klügsten und Tapfersten im Volk gehörten, sondern bewährte Männer voll Glaubens an Jehovah, voll Zuversicht zu Gottes Verheißungen, und voll Feuereifer Ihm zu dienen waren. Solche Leute waren die zwei, von denen unser Kapitel erzählt. Wir begleiten sie! Sie verließen das Heerlager des Volks Gottes und gingen über den Jordanstrom. Bald sahen sie die Mauern von Jericho, hinter denen schon die Sonne unterging. In der Dunkelheit eines sinkenden Spätabends schleichen sie sich verkleidet durch das Städtchen ein. Wo sollen sie sich hinwenden? Wo die Nacht zubringen? Wo sicher sein vor den heidnischen kanaanitischen Einwohnern Jerichos, die sehr wohl wussten, dass nur wenige Stunden entfernt die Israeliten lagerten, und dass sie heranrückten, um auch ihre Stadt anzugreifen? Wurden die zwei israelitischen Männer entdeckt und ergriffen, so waren sie Kinder des Todes. Wie mögen sie zu dem Hirten und Hüter Israels gebetet haben, dass Er ihnen den rechten Zufluchtsort für diese Nacht anweisen möge! Sie gehen durch die Straßen und vertrauen auf die Führung Gottes. Da sehen sie ein erleuchtetes Haus offenbar ist es eine Herberge in Jericho. In Gottes Namen treten sie ein. Die Wirtin des Hauses tritt ihnen entgegen; sie sieht es an den Gesichtszügen der beiden Fremdlinge, dass sie Israeliten sind, sie ahnt es wenigstens. Die Beiden bitten um Aufnahme, gespannt war das Weib ihnen antworten wird. Und siehe, sie ist mit Freuden bereit.
Ahnten die zwei Männer, mit was für einem tief versunkenen Weib sie es zu tun hatten? Was für ein verworfenes Gewerbe in diesem Hause getrieben war? Es lässt sich kaum anders denken. Aber wenn sie es ahnten wie? schämten sich die Israeliten nicht, in solch einem schlechten Hause zu bleiben? Nun, nicht Lust, sondern Not trieb sie dorthin; und wo sollten sie ein besseres Unterkommen finden in dieser Stadt, die wie Sodom und Gomorrha war? Damit wir kein unbilliges Urteil über die Rahab fällen, lasst uns bedenken, dass das ganze Kanaanitervolk mit Sünden der Wollust in entsetzlichem Maß bedeckt war, dass die Kanaaniter bei diesen Sünden nicht den mindesten Arg hatten, sondern offen bei ihren Götzenfesten der Unzucht frönten. Unter solch einem Volk war eine Person wie Rahab nicht schlimmer als die allermeisten ihres Geschlechts. Wenn wir wüssten, in welchen Umgebungen so viele Menschen, die man verworfen und unverbesserlich nennt, aufgewachsen sind und was für Luft sie von klein auf eingeatmet haben - wir würden, bei allem Abscheu gegen ihre Sünde, doch mit mitleidigerem Herzen auf sie sehen.
Das Benehmen der Rahab gegen die Kundschafter hatte durchaus nicht verdächtiges und unziemliches; im Gegenteil, sie kam ihnen mit Ehrerbietung entgegen; es lag etwas in dem Wesen dieser Heidin, das die israelitischen Männer nicht begreifen konnten.
Nicht lange sind sie in dem Hause, da treten Männer in den Hof desselben ein und rufen nach Rahab. Sie hört es ihr erster Gedanke ist, dass die Fremden in ihrem Zimmer entdeckt werden könnten, schnell verbirgt sie sie, so gut es im Augenblicke geht, sie treibt sie, ohne Verzug auf das flache Dach des Hauses zu steigen, und eilt hinaus.
Da stehen Abgesandte des Königs von Jericho. Der König hatte erfahren, dass israelitische Männer in die Stadt gekommen seien, und dass man gesehen habe, wie sie bei Rahab eintraten. Die Boten verlangen im Namen des Königs, dass die Beiden ihnen herausgegeben werden. Rahab gibt ihnen den Bescheid: „es sind ja Männer zu mir herein gekommen, aber ich wusste nicht, von wannen sie waren; sie sind noch vor Torschluss in der Finsternis wieder aus der Stadt gegangen, wer weiß wohin? Weit können sie noch nicht sein, jagt ihnen nach, so werdet ihr sie ergreifen.“ Die Dienstleute des Königs glauben ihren Worten - wie konnten sie denken, dass eine Jerichoerin gemeinschaftliche Sache mit den Feinden ihres Volkes machen würde? Zudem erfahren wir aus einer späteren Äußerung Rahabs, dass auf sie, wie auf alle Leute zu Jericho, ein Geist der Verwirrung und Bestürzung gefallen war. Schnell eilen die Boten des Königs zum Städtchen hinaus, um die, wie sie meinen, flüchtigen Kundschafter einzuholen. Rahab kehrt nun zurück in ihr Haus und steigt hinauf auf das Dach zu ihren Schützlingen.
Rahab hatte ihre Landsleute belogen. Allerdings befand sie sich in großer Verlegenheit. Wurden die Kundschafter bei ihr entdeckt, so war sie ziemlich gewiss, dass es ihr übel erging. Man wird ihre Lüge eine Notlüge nennen, und die meisten werden sie leicht entschuldigen. Wer selbst in bedrängter Lage zur Notlüge greift, und das tut fast Jedermann, der darf am wenigsten einen Stein auf sie werfen. Wenn uns aber das Gewissen so weit geschärft ist, dass wir jede wissentliche Unwahrheit verwerfen müssen: so werden wir die Rahab nicht rechtfertigen können. Sie redete, was vor Gott nicht recht ist, das haben wir einzuräumen; aber wir werden doch ihr Verhalten bald in milderem Licht ansehen müssen.
Den beiden Israeliten war das Benehmen der Rahab gewiss von Anfang an rätselhaft gewesen, - diese Bereitwilligkeit sie aufzunehmen, - diese Freundlichkeit, - diese ehrerbietige Scheu, das alles bei einer Heidin, gegen Feinde ihres Volks, es war ihnen unerklärlich. Sie sollten bald Aufschluss erhalten. Rahab spricht zu ihnen: „Ich weiß, dass der HErr euch das Land gegeben hat; denn ein Schrecken ist über uns gefallen vor euch, und alle Einwohner des Landes sind vor eurer Zukunft feige geworden. Denn wir haben gehört, wie der HErr hat das Wasser im Schilfmeer ausgetrocknet vor euch her, da ihr aus Ägypten zogt, und was ihr den zween Königen der Amoriter, Sihon und Og, jenseits des Jordan getan habt, wie ihr sie verbannt habt. Und seitdem wir solches gehört haben, ist unser Herz verzagt, und ist kein Mut mehr in Jemand vor eurer Zukunft; denn der HErr euer Gott ist ein Gott, beides oben im Himmel, und unten auf Erden.“
Was sehen wir aus den Worten dieses Weibes? Hier ist ein verworfenes Weib, eine Heidin, die mitten im finsteren Land zum Glauben gekommen ist. Sie glaubt, dass ihre Götter tote Götzen sind; sie gibt dem Gotte Abrahams, Isaaks und Jakobs die Ehre, dass Er allein der rechte, einige, wahrhafte Gott sei. „Der HErr euer Gott ist ein Gott, beides im Himmel und auf Erden. Er hat allein Gewalt in der Welt, es ist außer Ihm keine andere Gottheit.“ Davon hat sie eine völlige Gewissheit, eine solche Gewissheit, dass sie es wagt, mit Gefahr ihres eigenen Leibes und Lebens zwei Bekenner dieses Gottes bei sich aufzunehmen. - So groß, so herrlich ist in ihren Augen dieser Gott Israels, dass sie nicht daran zweifelt: Er wird Seinem Volk den Sieg geben, und die Kanaaniter, ihre Landsleute, werden unterliegen. Noch wenige Jahre vorher hatte das jüdische Volk nicht so viel Zutrauen zu Gottes Verheißung, um zu glauben, dass es durch die allmächtige Gotteshilfe Kanaan erobern werde. Selbst dem Josua war es so schwer, fest daran zu glauben: dass ihn der HErr durch eine außerordentliche Erscheinung und Zusprache aufrichten und stärken musste (vgl. Josua Kap. 1.) Dagegen diese Heidin Rahab bekennt mit einer Zuversicht, als wäre sie eine Prophetin: „Ich weiß, dass euch Israeliten der HErr das Land geben wird.“ Der Untergang ihres Volkes war ihr gewiss, sie wollte gerne errettet werden darum schlägt sie alles in die Schanze, um sich die zwei Israeliten zu Freunden zu machen und durch sie dereinst beschützt zu werden. So ist denn ihre Tat für die Kundschafter, eine herrliche, ewig denkwürdige, von Gott mit Ehre gekrönte Glaubenstat, und dieses Weib selbst mit ihrem verborgenen Glaubensschatz im Herzen, ein Wunder Gottes vor unseren Augen. Sie ist mitten unter den Heiden eine Seele, wie jener Heide, der Hauptmann von Kapernaum, wie jenes kanaanäische Weib, das dein HErrn nachschrie. Über diese Zwei ruft Jesus staunend aus: „Wahrlich, solchen Glauben habe ich in Israel nicht gefunden.“ Jesus erstaunte über diese, wie sollten wir nicht staunend still stehen vor dieser Kanaaniterin in Jericho? Kennt ihr die lange Reihe der Glaubenshelden, die der Apostel Eb. 11. aufzählt: Abel, Henoch, Noah, Abraham, Sarah, Isaak, Joseph, Moses, Gideon, Samuel? Unter diesen strahlenden Namen ist dort auch der Name Rahab eingeschrieben, Eb. 11,13.: „Durch den Glauben ward die Hure Rahab nicht verloren mit den Ungläubigen, da sie die Kundschafter freundlich aufnahm.“
Diese Heidin ist schon im Herzen eine Gläubige, während sie noch in Jericho, außer aller Gemeinschaft mit dem Volk Gottes wohnt; diese verächtliche Verworfene ist eine Auserwählte vor Gott; diese Gemeine ein Gnadenwunder Gottes. Da hat Gottes Hand einmal in die Finsternis des heidnischen Wesens, in den Schlamm eines gemeinen, fluchbeladenen Sündenlebens hineingegriffen und hat diese Eine Heilige und Herrliche hervorgebracht, und stellt sie hier uns vor die Augen, dass wir an ihr sehen sollen, was Glauben ist. Obgleich Jericho noch feststeht, so sieht die Heidin ihre Vaterstadt schon überwunden und zerstört; obgleich die Kinder Israel noch jenseits des tiefen Jordan lagern und keinen Fußbreit Landes von Kanaan besitzen: so sieht Rahab sie schon im Besitz des Landes. Danach handelt sie, sagt sich los von ihrem Volk und wendet sich dem Volke Gottes zu. Das ist Glaube! eine solche göttliche Gewissheit im Herzen, durch die man nicht mehr auf das Gegenwärtige und Sichtbare sieht, weil man das Unsichtbare und Zukünftige gewiss hat, - eine Kraft Gottes, durch die man die sichtbare Welt mit ihrer Lust, ihren Schrecknissen verachtet und von sich stößt, und dafür sein Heil in der unsichtbaren Welt sucht, in der Gnade Gottes, im Reich Christi, im Gehorsam gegen die Gebote des HErrn, im Vertrauen auf die göttlichen Verheißungen.
Wir fragen: „Wie ist es möglich gewesen, dass diese arme Heidin den wahren Gott kennen gelernt hat und an Ihm gläubig geworden ist?“ Sie selbst gibt uns darüber Auskunft. Durch Gerücht waren unter den Völkern jener Gegend die großen Dinge, welche an den Israeliten geschehen waren, bekannt geworden; man hatte gehört, wie sich vor ihnen bei ihrem Auszug aus Ägypten das Schilfmeer geteilt hatte, wie die verfolgenden Ägypter von den Wellen verschlungen worden waren. Vierzig Jahre war diese Geschichte schon her, aber das Gedächtnis daran war wieder aufgefrischt worden, als die Israeliten den Grenzen Kanaans nahe gekommen waren und die Könige der Amoriter, Og und Sihon, geschlagen hatten. So viel hatten diese Taten Gottes bei den unwissenden Heiden gewirkt, dass sie ahnten: Jehovah müsse ein mächtiger Gott sein. Sie fürchteten sich vor Ihm - aber diese Furcht war kein Glaube. Furcht ist Abneigung, gegen den schrecklichen Gott - Glaube ist gerade das Gegenteil, ist Hinneigung des Herzens zu dem HErrn. Rahab glaubte, ihr Herz neigte sich diesem starken mächtigen Gott zu, ihr Seele fand Wohlgefallen an allem, was sie von Ihm hörte; eine Stimme in ihr sagte: Das ist der wahre Gott, ein Gott, wie du ihn gebrauchst, ein anderer Gott als deine Götzen.
Also durch das Hörensagen von Gottes großen Taten kann ein empfängliches Herz solch einen festen, starken Glauben gewinnen, wie Rahab? O wie beschämend! Wir haben Gottes sicheres und deutliches Wort, wir haben das Zeugnis der Apostel und Propheten. Es wird gepredigt Jahr aus, Jahr ein, die allergrößte, gnadenreichste Tat Gottes, das Wunder, dass Gott selbst auf Erden wandelte, dass der herrliche Sohn Gottes die Schande des Kreuzes erduldet und eine ewige Erlösung für uns erfunden hat. Und das hört und hört man, und Viele bleiben in Zweifeln hängen, Viele zweifeln nicht, aber glauben auch nicht. Wann führe ihnen einmal eine Erschütterung durchs Herz, wie diese Botschaft ohne Gleichen sie wirken muss, sobald sie in Wahrheit erkannt und geglaubt wird? Wie selten rafft sich einmal einer so weit auf, dass er sich gesteht: „ich muss alle meine Kraft und mein Vermögen dran setzen, um dieses wunderbare Wort von Christo recht zu verstehen; es ist wert, dass ich alle meine Gedanken und Sinne darauf richte.“ Wie selten, dass dieses gewisse teuer werte Wort von Christo einem Menschen sein ganzes Leben umwirft, dass er sich entschließt: „ich muss von vorne zu leben anfangen, dies große Wort von dieser großen Gnade muss einen neuen Menschen aus mir machen.“ O Herr Jesu, Du kannst weit, weit in Deiner hochbegnadigten Christenheit suchen, ehe Du solchen Glauben an Dich in ihr findest, wie Rahabs Glaube an Jehovah und an Seine herrliche Macht!
Sehen wir, wie dieser Rahab sich ihr Herz umgekehrt hat, als sie von den großen Taten Jehovahs hörte, so mögen wir immer wieder fragen: Wie ging es zu, dass gerade diese Seele so kräftig sich dem lebendigen Gott zuneigte? Wie, lags vielleicht darin, dass sie eine so elende Sklavin der Sünde, eine mit Schande beladene Person gewesen war? Hatte sich vielleicht in ihr das Gewissen geregt, das doch auch in Heiden wohnt? Die Schrift sagt uns darüber an dieser Stelle mit ausdrücklichen Worten nichts. Aber soviel wissen wir aus Gottes Offenbarung: dass das Gewissen Gottes einziger Bundesgenosse im natürlichen Menschen ist. Daher sind wir wohl auf der rechten Spur, wenn wir sagen: Durch das Gerücht von den schrecklichen Gerichten Gottes über die Ägypter und Amoriter mag das schlummernde Gewissen der Rahab aufgeweckt sein; ihr Sündenleben ist in seiner wahren grauenvollen Gestalt vor ihre Seele getreten; sie hat mit Zittern an das gerechte Gericht Gottes gedacht, das über sie kommen möge, wenn dieselben Israeliten sich gegen Kanaan heranwälzen würden. Gerade zu ihr kamen nun die zwei Kundschafter in das Haus. Ein Mensch mit beunruhigtem Gewissen spähet und spürt nach Fingerzeigen Gottes und hat ein scharfes Auge für sie. Wie sollte nicht Rahab eben darin, dass sie mit den zwei israelitischen Männern in Berührung kam, einen Fingerzeig Gottes erkannt haben, dass nach Gottes Rat ihr noch Heil und Rettung widerfahren könne? Sie hängt ihr Herz an den einigen lebendigen Gott, der Seine Bekenner zu ihr schickte; sie glaubte, dass Er Gedanken des Frieden mit ihr habe; sie bewies ihren Glauben durch ihre Glaubenstat. - Seht, wie Gottes Augen wachen, wie sie auf jede einzelne Seele sehen, die in Not kommt über ihre Sünde! Und wenn sie mitten in dem sodomitischen Jericho wohnte: Er sorgt dafür, dass ihr Heil und Rettung angeboten wird. Er nötigt sie mit verborgenen Gnadenzügen zum Glauben. Er tut Alles, um sie von ihren Sünden selig zu machen.
Es möchten euch nun einige Bedenken bei dieser Geschichte aufgestoßen sein, die beseitigt werden müssen, damit wir den vollen Genuss an ihr und den vollen Segen von ihr gewinnen können:
1. Rahab - denkst du vielleicht - mit solchem Glauben an Jehovah im Herzen, und doch daneben einen verworfenen Wandel? Lieber Mensch, sie war eine Verworfene. Aber dafür will ich wohl einstehen: seitdem ihr Herz vor Jehovah zittern und doch zugleich an Ihm Wohlgefallen finden lernte, hat sie nimmermehr den Mut gehabt, ihre Sünden wieder zu tun; fürwahr, sie hatte von ihrem vorigen Wandel abgelassen, noch ehe die Kundschafter ihr Haus betraten!
2. Du sagst: sie glaubt - und doch lügt sie, um den Kundschaftern zu helfen? Wundere dich nicht, dass ihr Jehovahglaube in der Angst auf ein verbotenes Mittel fällt. Wer will von der Heidin verlangen, dass sie klar einsieht, dass auch das Lügen in der Not vom Übel ist? Viele wollen Christen sein und wissen noch nicht so viel! Es klebt ihrer Glaubenstat noch Unreinigkeit und Schwachheit an, natürlich. Aus Gnaden sieht Gott bei ihr, wie bei allen Gläubigen, den guten Kern, nicht den unreinen Beisatz, als Glauben an. O was hätten wir für Hoffnung, wenn nicht der HErr gerne übersähe, was wir bei unserm Glauben aus Unwissenheit doch noch fehlen!
3. Du sagst: Aber ist Rahab nicht zur Verräterin geworden an ihrem Volk? Nimmer. Sie handelte im Glauben, dass ihr Volk von Gott verworfen sei, und dass Israel allein Gottes Volk sei. So war es ihre heilige Pflicht, auf die Seite Israels zu treten und sich von ihrem Volk zu scheiden. Ihre Pflicht war: ihre eigene Seele zu retten, darum musste sie eiligst an den Israeliten Barmherzigkeit üben, und dadurch beweisen, welchem Gott sie dienen wolle.
Alles weitere in der Geschichte ist nun ganz einfach und klar. Rahab bat die Kundschafter, sie sollten dafür sorgen, dass die Israeliten, wenn sie Jericho erobern würden, sie selbst und ihre ganze Familie, Vater, Mutter, Brüder und Schwestern verschonten. Ein schöner Zug an ihr, diese Verwandtenliebe. Die Israeliten taten dies Gelöbnis unter der Bedingung, dass Rahab sie nicht verriete, und dass sie, wenn die Heerschar Israels heranrückte, ihre ganze Verwandtschaft in ihr Haus sammeln sollte. Noch in der Nacht half sie dann den Beiden zur Stadt hinaus. Da sie auf der Stadtmauer wohnte, war es ihr leicht, sie an einem Seil aus dem Fenster herniederzulassen. Dies Seil sollte sie am Hause hängen lassen, damit die Israeliten bei der Belagerung der Stadt ihre Wohnung heraus erkennen und schonen konnten. So schieden die beiden Israeliten von ihr.
Rahab blieb noch eine Weile unter ihrem Volk und in ihrer Stadt, obwohl sie im Herzen schon einem andern Volk angehörte: den Israeliten. Sie wartete gespannt auf den Tag, wo die Heerscharen der Israeliten heranrücken und die Stadt von allen Seiten ängstigen und belagern würden. Im Glauben wusste sie, dass ihr kein Leides geschehen würde, sie stand im Bund mit Israel; sie konnte noch in hartes Gedränge geraten, aber durchs Schwert der Israeliten konnte sie nicht fallen. So lebt ein Christ, in dem der Glaube Kraft und Leben geworden ist, mitten in der Welt, und ist nur ein Fremdling, er gehört zu einer andern Welt, er ist Bürger im oberen Jerusalem. Wenn er auch noch nicht aufgenommen ist in die Menge der vollendeten Gerechten, der vielmal 1000 Engel: so hat er doch Berufung und Anwartschaft dazu. So wartet auch der Christ auf die Stunde, wo der Feind heranrücken wird, der für ihn kein Feind mehr ist: der Tod. Wo Andere den Tod kommen sehen, sieht er seine Erlösung nahen. Wo der Mensch nur den Würger mit dem hauenden Schwert herandrängen sieht, sieht ein Christ Scharen von Engeln, Brüderscharen, die ihn aus Jericho nach Zion holen wollen. Freilich, wenns zur Entscheidung kommt, wirds wohl noch gar hart und sauer hergeben; es ist auch für erweckte und erleuchtete Christen eine überaus seltene Gnade, dass sie wie im Traum oder wie im Triumph hinübergenommen werden. Aber die Zuversicht haben sie, dass das letzte Ende herrlich sein wird. Unter den anstürmenden Israeliten war Josua ihr Freund, das wusste Rahab. In den anstürmenden Schrecknissen des Todes ist unser Josua, der Heiland Jesus, gegenwärtig. Er sieht das rote Band, das zum Fenster heraushängt, sieht das sehnliche Verlangen der ringenden Seele nach Ihm und Seiner Hilfe und wird Sein beschworenes Wort ihr halten: „Ich will wieder zu euch kommen und euch zu Mir nehmen, dass ihr seid, wo Ich bin.“
Was für Herrlichkeiten wird er dann der ganz erlösten Seele geben? Man kanns ahnen, auch aus dieser Geschichte. Was ist aus der elenden, schändlichen, verworfenen Heidin Rahab geworden? Die Stammmutter unsers HErrn Jesu Christi. Sie ward in die Bürgerschaft Israels aufgenommen, ward Boas Mutter von Boas stammt Obed, von Obed Isai, von Isai David und von David weiterhin der Sohn Marias. Jesus schämt sich nicht, dass eine Rahab seine Ahnfrau ist, weil die größte Sünderin durch den heiligen Geist eine Büßerin und Gläubige wurde. Unaussprechliche Gnade für die Kanaaniterin! Zwar hängt ihr immer noch der Beiname von ihrem ehemaligen, bösen Gewerbe an! Aber nur zum Lobe der barmherzigen Gnade Gottes; durch sie hat sie einen strahlenden Namen empfangen und gehört zu den Auserwählten im Reiche Gottes. Das kann der HErr aus einer solchen Seele schon auf Erden machen was muss das für ein Name im Himmel sein, den Niemand kennt, welchen die empfangen werden, welche durch Seine Gnade aus Sündentiefen in die Gemeinde der Heiligen sich retten lassen, was für eine Seligkeit, welche zubereitet ist, dass sie in der letzten Zeit an denen offenbar werde, die ihre Kleider waschen und sie helle machen im Blut des Lammes und durch den Glauben in Christo Jesu bewahrt werden bis ans Ende?
O HErr, schreib meinen Nam' aufs Beste
Ins Buch des Lebens ein,
Und bind mein' Seel' fein feste
Ins schöne Bündelein
Derer, die im Himmel grünen
Und vor Dir leben frei,
So will ich immer rühmen,
Dass Dein Herz treue sei.
Amen.