Härter, Franz Heinrich - Die göttliche Gnadenordnung in einer Reihe von Betrachtungen - VIII. Wirkung der Predigt des Wortes vom Kreuz auf die Berufenen
Man lese mit Nachdenken nochmals die fünfte Betrachtung: Der Gnadenruf Gottes an die Sünderwelt.
Text: 1 Cor. 1, 23-24.
“Wir predigen den gekreuzigten Christum, den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit. Denen aber, die berufen sind, beides Juden, und Griechen, predigen wir Christum, göttliche Kraft und göttliche Weisheit.“
Der Apostel Paulus, da er zu den stolzen Korinthern kam, hielt sich nicht dafür, dass er etwas wüsste unter ihnen, ohne allein Jesum Christum, den Gekreuzigten1). Die Predigt von dem gekreuzigten Welterlöser ist das Mittel, wodurch die Seelen erweckt und in die Gnadenordnung eingeführt werden; wer sie aufnimmt, wird vom heiligen Geist erneuert. Allein, wo diese Predigt erschallt, geht auch das weissagende Wort Simeons in Erfüllung: „Siehe, dieser wird gesetzt zu einem Fall und Auferstehen Vieler in Israel, und zu einem Zeichen, dem widersprochen wird, auf dass vieler Herzen Gedanken offenbar werden2).“
Es geht durch die Predigt von dem Gekreuzigten ein Gericht, d. i. eine Scheidung unter den Menschen vor; die Einen spotten und toben dawider, während die Anderen sie nicht genug preisen können. Unter den Gebildeten zu der Apostel Zeiten gab es eigentlich nur zweierlei Leute, Juden und Griechen; jene hielten an ihren Satzungen fest, und wollten dadurch gerecht werden; die Griechen hielten sich an die Philosophie, und wollten dadurch den Weg der Seligkeit finden. So gibt es jetzt unter den Namenchristen Formelmenschen und Freidenker; wenn nun die Predigt des Evangeliums kommt, so zeigt sich, welches die Berufenen sind; diese nehmen die Predigt an, und werden dadurch in die Gnadenordnung gefördert; die Nichtberufenen bleiben kalt dagegen und widersprechen, besonders wenn vom Blut des Sohnes Gottes geredet wird.
Wirkung der Predigt von dem gekreuzigten Christus auf die Berufenen.
Sie ist ihnen göttliche Kraft und göttliche Weisheit.
1. Göttliche Kraft, zur Erweckung, zur Bekehrung und zur Heiligung.
Schon die Berufung ist ein Gnadenwerk Gottes, der uns entgegenkommt mit seiner Einladung zum großen Abendmahl3). Kommt, es ist Alles bereit! Selig sind, die zu dem Abendmahl des Lammes berufen sind4). Ja, Heil der Seele, die ihre Berufung erkennt, und erwidert durch dankbare Aufmerksamkeit! An ihr wird sogleich die Kraft der evangelischen Predigt offenbar; sie erwacht aus dem Sündenschlaf; das Herz geht ihr auf, wie der Lydia5), und sie fragt mit dem Kerkermeister: Was soll ich tun, dass ich selig werde6)? Da hört sie nun den ganzen Ratschluss Gottes, und sieht den Rettungsweg im Glauben an Christum aufgeschlossen. Doch dabei bleibt es nicht; der Geist Gottes, als Kraft aus der Höhe, treibt sie auch auf diesen neuen Weg, dass sie anfängt, vor dem Herrn zu wandeln als Gotteskind7). Das sind die nach dem Vorsatz Berufenen, denen nun alle Dinge zum Besten dienen8), selbst das Gefühl der eigenen Schwachheit und die demütigende Erinnerung an die Vergangenheit, wo sie in Unwissenheit und Sünden dahin gingen.
Und, weil die Seele jetzt wach bleibt, so ist es ihr ein rechter Ernst dem Gnadentrieb zu folgen; sie bekehrt sich von der Welt zu Gott. Die zuvorkommende Gnade wird ihr nun auch zur erneuernden Kraft, nach dem Wort des Herrn: „Siehe, ich mache Alles neu9)!“ Diese Erneuerung geschieht jedoch nicht ohne Schmerz; denn gleichwie in ein gelähmtes erstorbenes Glied das Leben wieder eintritt, so das Leben in die Seele; der Genesende meint, es werde schlimmer mit ihm, weil die Belebung den alten Tod verdrängt und kämpfend vorwärts schreitet; da kommt es ihm vor, als sei sein Zustand bedenklicher geworden. Allein die guten Engel freuen sich über den Sünder, der Buße tut10), und der erfahrene Arzt sagt: Gott sei Dank, denn das Leben kehrt wieder! - Die Buße ist nichts Anderes, als die schmerzliche Rückkehr zur Taufgnade; es ist nicht die Traurigkeit der Welt, sondern die göttliche Traurigkeit, die da wirkt zur Seligkeit, eine Reue, die Niemand gereut11).
Mit dem Bußschmerz kommt von selbst der wahre Glaube, der das Heil in Christo ergreifet, und den der Heilige Geist in den Büßenden wirkt. Eine bußfertige Seele kann es nicht begreifen, wie sie so lange konnte gleichgültig an den wichtigsten Belehrungen der Heiligen Schrift vorübergehen, die jetzt ihre Freude, ihr Trost und der Gegenstand ihrer ganzen Aufmerksamkeit geworden sind. Besonders wird ihr die tiefe Bedeutung der Wahrheit klar12), dass Jesus Christus von Gott uns vorgestellt ist zu einem Gnadenstuhl durch den Glauben an sein Blut, damit Er die Gerechtigkeit, die vor Ihm gilt, darbiete, indem, dass er Sünde vergibt, welche bis anhero geblieben war unter göttlicher Geduld13).
Die Größe dieser Geduld wird ein Gegenstand seiner anbetenden Bewunderung, und ein innerliches Verlangen die noch übrige Gnadenzeit treuer zu benutzen, da die Geduld aufgehört hat durch völlige Vergebung aller Sünden, erfüllt die dankende Seele.
Und nun schreitet sie kräftig in ihrer Bekehrung voran, aus Glauben in Glauben; und es wird ihr klar, was das heißt: Der Gerechte wird seines Glaubens leben14). Wer auf diesem Wege beharrt, und sich nicht mehr lässt vom Feind irre machen, weder durch Sicherheit noch durch Zweifel, kommt durch gründliche Bekehrung zur völligen Erneuerung in Christo. Ist Jemand in Christo, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, es ist Alles neu geworden15).
Die Bekehrung leitet die Seele in das verborgene Leben mit Christo in Gott16). Sie geht durch die enge Pforte auf den schmalen Heiligungsweg, auf welchem die Gnade sie zur Vollendung bringt. Dies ist eigentlich des Christentums höchstes Ziel, wohin zuletzt alle Belehrung des Evangeliums weist. Die vollendende Gnade kann man auch die heiligende Gnade nennen. Die Heiligung ist aber nur bei denen möglich, welche die Erweckung zur Bekehrung, und die Bekehrung zur Erneuerung geführt hat. Es gibt Toren genug, die kaum erweckt und noch nicht bekehrt, schon Heilige werden wollen; solche werden aber gewöhnlich entsetzlich zu Schanden, und sind auch schuld daran, dass das Christentum von seinen Feinden arg verunglimpft wird. Davor behüte uns, lieber himmlischer Vater!
Eine wahrhaft bekehrte Seele ist der Berufung treu geblieben, und ihr ganzes Bestreben geht darauf hin, ihren Beruf und Erwählung fest zu machen17); denn jetzt erst erkennt sie gründlich die wichtige Warnung in den Worten des Herrn: „Viele sind berufen, aber Wenige sind auserwählt18).“ Der Herr sagte dies Wort, bei Gelegenheit der Arbeiter, die zu verschiedenen Zeiten in den Weinberg berufen wurden, und des königlichen Hochzeitmahles, wo ein Gast das Hochzeitkleid nicht angenommen hatte. Bei den Ersten war engherzige Berechnung vorhanden, die sich einbildete, mehr verdient zu haben, als die Zuletzt berufenen, und darum sich nicht wollten an dem Gnadengroschen begnügen lassen; bei dein Anderen war hochmütige Einbildung auf eigene Gerechtigkeit im Hintergrund, dass er dachte, des Kleides nicht zu bedürfen, welches die Großmut des Königs einem Jeglichen anbot, zur Ehre seines Sohnes. In beiden Fällen war zwar die göttliche Kraft vorhanden, welche die Berufenen herbei holte, zu den Arbeitern und zu den Gästen, aber die göttliche Weisheit fehlte, welche das Herz demütig macht, denn:
2. Die göttliche Weisheit bringt Licht, Leben und Liebe durch Christum in das Herz;
das Licht kommt durch die Lehre Jesu, für die, welche als Jünger und Jüngerinnen Ihm zu Füßen sitzen; lernet von mir, sagt der große Meister, denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig, so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen19). Die ewige Weisheit lehrt nicht stolzes Wissen, sondern wie wir den Zweck unseres Daseins erreichen sollen, in der Nachfolge des Herrn. Da wird uns erst recht klar, wie verfehlt es ist, wenn wir über Andere herrschen wollen; des Menschen Sohn ist ja nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene, und gebe sein Leben zur Erlösung für Viele20). Der ist sein rechter Schüler, der Alles, was ihm Gott anvertraut hat, anwendet, denen wohl zu tun, die seiner Hilfe bedürfen; denn Christus hat gesagt: „Wer mir dienen will, der folge mir nach, und wo ich bin, da soll mein Diener auch sein, und wer mir dienen wird, den wird mein Vater ehren21).“
In der Nachfolge Christi ist viel zu lernen; im Lichte des Evangeliums erscheint uns Manches ganz anders, als im Lichte der Weisheit dieser Welt; die himmlische Weisheit stellt uns das Ziel und den Zweck unseres Lebens vor die Augen; die Unwissenheit verschwindet, und die erleuchtete Seele freut sich nun zu verstehen, durch die Erneuerung ihres Sinnes, welches da sei der gute, der wohlgefällige und der vollkommene Gotteswille22).
Durch diese Erkenntnis bekommt das Leben des Christen erst seine wahre Bedeutung; alle seine Zweifel werden gelöst in der seligen Erfahrung, welche prüft was das Beste sei, nämlich was uns vorbereitet auf den Tag Jesu Christi, zur Ehre und zum Lob Gottes23). Alles, was nicht zu diesem Zweck führt, erscheint ihm als eitel und lässt ihn gleichgültig; was aber das innere Leben fördert, ist ihn wichtig und wünschenswert. Die Stellen der Heiligen Schrift bekommen nun einen ganz anderen Sinn. Nehmen wir zum Beispiel nur Eine bekannte Psalmstelle: „Unsere Missetat stellst du vor dich, unsere unerkannte Sünde in das Licht vor deinem Angesicht. Darum fahren alle unsere Tage dahin durch deinen Zorn; wir bringen unsere Jahre zu, wie ein Geschwätz(Ps. 90,8-9).“
O Gott, wie unnütz ist bisher mein Tun und Treiben gewesen! War Doch mein verflossenes Leben wie Eine Sünde; meine Tage sind unnütz dahin geschwunden, und ich habe meine Jahre wie ein Geschwätz zugebracht! Ich sehe es endlich ein und danke Dir für diese ernste Belehrung. Aber durch deine Gnade soll es jetzt anders werden; mein Heiland, Du tatest so Großes für mich, und ich habe so wenig noch für Dich getan! Lass doch mein ganzes Leben ein Opfer deiner Liebe werden!
Dieser Wunsch, in heiliger Liebe gefasst, gibt nun die völlige Weisheit in das demütig gewordene Herz; das ist, was der Heilige Geist in den gründlich Bekehrten wirkt, wenn er die Liebe Gottes in das Herz ausgießt24). Sie rühmen sich auch der Trübsale, dieweil sie wissen, dass Trübsal Geduld bringt; Geduld aber bringt Erfahrung; Erfahrung aber bringt Hoffnung; Hoffnung aber lässt nicht zu Schanden werden. Denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in ihr Herz durch den heiligen Geist, welcher ihnen gegeben ist.
Der ist wahrhaft weise geworden, in welchem der Entschluss zur heiligen Tat reift, sein Leibes Leben Dem, der sich für uns blutend am Kreuz geopfert hat, darzubringen zum Opfer, das da lebendig, heilig und Gott wohlgefällig sei; dadurch wird der Rest seines Lebens ein wahrer Gottesdienst25). In solchen Seelen ist nun der Zweck der Gnadenordnung vollkommen erreicht; der Heilige Geist kann in ihnen sein Werk vollenden, in Licht, Leben und Liebe, und eine freudige gottselige Gewissheit erfüllt sie in der Stunde des Heimganges, durch die Zuversicht: Mein Freund ist mein, und ich bin sein! Amen.
Gott, welcher seinen Sohn mir gab,
Gewährt mir Alles in dem Sohne;
Nicht nur sein Kreuz, nicht nur sein Grab,
Auch seine Herrlichkeit und Krone.
Was Liebe immer geben kann,
Was Er geredet und getan,
Was Er geleistet und gelitten,
Was er gewonnen und erstritten,
Ja selbst sein Leib und Blut ist mein:
Mein Freund ist mein, und ich bin sein!