Härter, Franz Heinrich - Das hat der Feind getan oder die Reformation des 16 Jahrhunderts gegenüber dem Abfall der neuesten Zeit

Unsere Welt ist ein Kampfplatz, worauf zwei Geistermächte mit einander um die Menschenseelen streiten: die himmlischen und die höllischen Mächte. - An der Spitze der ersten steht Jesus Christus, des Menschen Sohn, der im Namen seines Vaters durch Wahrheit und Recht das Reich behaupten soll; an der Spitze der höllischen Mächte steht der Satan, der in seinem eigenen Namen, als der alte Fürst dieser Welt, an sich reißt, was er kann, und fortwährend durch Lüge und Unrecht den Fortschritt des Reiches Gottes auf Erden zu verhindern sucht.

Diesen Kampf hat Jesus in dem Gleichnisse vom Unkraut unter dem Weizen geschildert. Er vergleicht das Himmelreich auf Erden dem Werke eines Menschen, der guten Samen auf Erden dem Werke eines Menschen, der guten Samen auf seinen Acker säte; da aber die Leute schliefen, kam sein Feind und säte Unkraut zwischen den Weizen und ging davon. Da nun das Kraut wuchs und Frucht brachte, da fand sich auch das Unkraut. Mit Schrecken sahen es die Knechte und sprachen zu dem Hausvater: Herr, hast du nicht guten Samen auf deinen Acker gesät? Woher hat er denn das Unkraut? Er sprach zu ihnen: Das hat der Feind getan! 1)

Die Bedeutung dieses Gleichnisses trat sogleich nach der Stiftung der Kirche Christi auf Erden hervor. Schon in der Pfingstgemeine sehen wir Uneinigkeit und Unreinigkeit unter den Christen zu Jerusalem. In den Gemeinen, die der Apostel Paulus stiftete zu Korinth und in Galatien, tritt eben dasselbe hervor. Sodann hoffte der Feind noch in den furchtbaren zehn Verfolgungen der Christenheit das ganze Werk des Herrn wieder zu zerstören. Als aber das Christentum im Anfang des vierten Jahrhunderts durch Constantin zur Staatsreligion erhoben wurde, musste der Widersacher wieder zum Unkrautsamen seine Zuflucht nehmen; er streute mit Erfolg im Morgenland die arianische Irrlehre aus, welche die ewige Gottheit Christi leugnet; und im Abendland die pelagianische Irrlehre, welche die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen verneint.

Viel furchtbarer jedoch wurde die Verwüstung der Kirche Christi nach den Kreuzzügen, unter der Macht es römischen Bischofs, der dem Volke das teure Wort Gottes untersagte, und Menschensatzungen, an der Stelle des ewigen Evangeliums, den Seelen auflud.

Ein tiefes Weh ging lange durch die ganze Kirche; man seufzte nach einer „Reformation an Haupt und Gliedern“ der Gemeine. Endlich, da die höhere Geistlichkeit ihre Pflicht fortwährend versäumte, trat von ihr unabhängig im sechzehnten Jahrhundert an verschiedenen Orten eine Reformation ins Leben, und brach sich Bahn durch alle Hindernisse hindurch.

Die Reformation des Teils der Kirche, der wir angehören, hat besonders treu am Worte Gottes gehalten, und wir dürfen sagen, dass die Kirche Augsburgischer Konfession ihrem Wesen nach am gleichförmigsten ist mit den ersten Christengemeinen.

Allein auch da bestätigte sich wieder das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen auf schrecklich betrübende Weise. Die reine Lehre war bei Vielen nicht mit einem göttlichen Leben verbunden; sie wurde zur toten Rechtgläubigkeit, die das Wort des Herrn: So ihr solches wisst, selig seid ihr, so ihr es tut2), ganz außer Acht ließ. Zwar fehlte es auch damals nicht an treuen Zeugen3); allein ihre Stimmen verschollen in der Masse, und unter dem giftigen Gezänke der sogenannten Orthodoxen verschwand der wahre Glaube, der durch die Liebe sich tätig erweisen sollte.

Nun kam durch ein Gottesgericht in der eingeschlafenen Kirche ein ganz unerwartetes neues Übel zum Vorschein. In Folge der blutigen Verfolgungen, welche in Frankreich über die reformirte Kirche ergingen, und als unvermeidliche Reaktion des natürlichen Gefühls für Recht und Menschlichkeit gegen diese Gräuel, waren im Schoß der römischen Kirche unsers Vaterlandes die Grundsätze falscher Weisheit ausgestreut worden4). Viele hatten sie begierig aufgenommen, und mit Macht breiteten sie sich auch über das protestantische Deutschland aus. Die wuchernde Macht des Unkrauts wurde nach und nach an der Kirche des Herrn schauerlich offenbar, und ihr letztes Ziel kündigte sich als unausbleiblich an, nämlich ein völliger Abfall des größten Teils der Christenheit.

Da rufen nun unsere Gegner aus der römischen Kirche: Seht, was euer Protestantismus hervorgebracht hat! - und wohl auch die kleine Zahl der Gläubigen unter den evangelischen Christen fragt mit Schrecken, wie die Knechte den Hausvater im Gleichnisse: Woher hat er denn das Unkraut? - Doch die Antwort ist und bleibt: Das hat der Feind getan!

Wahrlich, die Reformation ist an dem Abfall nicht schuld, sondern es ist eine feindliche Macht hinterlistig eingeschlichen, und hat den Höllensamen falscher Lehre unter den guten Weizen des himmlischen Evangeliums gestreut; das müssen wir klar und kräftig in unserm innersten Bewusstsein feststellen, dass das Verderbnis des Unglaubens nicht durch unsere Reformation veranlasst wurde, sondern dass es hervorging aus einer Einwirkung, die mit den Grundsätzen unserer Reformation im völligsten Widerspruch steht.

Solches wollen wir heute besonders beherzigen zur Ehrenrettung des heiligen Reformationswerkes und zum Troste unserer Seelen, die mit Kummer sehen, wie in der Kirche des Herrn das Unkraut wuchert. Der Gegenstand unserer Betrachtung sei darum:

Die Reformation des sechzehnten Jahrhunderts gegenüber dem Abfall der neuesten Zeit.

Zwei Stücke haben wir darzutun. Erstens: Die Grundsätze unserer Reformation stehen im schroffsten Gegensatz mit den Grundsätzen des Abfalls. Zweitens: an den Früchten beider wird es kund, dass die Reformation nicht Schuld am Abfall ist.

1) Zwischen den Grundsätzen der Reformation und den Grundsätzen des Abfalls ist ein schroffer Gegensatz,

Denn die Grundsätze der Reformation lassen sich in folgenden zwei Sätzen zusammen fassen:

  1. Die Heilige Schrift, als göttliche Offenbarung, ist der Grund unsers Glaubens.
  2. Das Christentum ist der Gläubigen göttliche Erlösung aus den Banden der Sünde.

Alle Gottesmänner, die im sechzehnten Jahrhundert die Reformation einführten, gingen von dem ersten dieser beiden Grundsätze aus; sie stellten die Heilige Schrift als göttliche Offenbarung hoch über alles menschliche Ansehen. Jedes menschliche Ansehen, das der Heiligen Schrift widerspricht, ist eine Anmaßung, die wir nachdrücklich verwerfen, sie mag nun eine kirchliche oder eine philosophische sein.

Die kirchliche Anmaßung verbietet dem Volk, die Heilige Schrift zu lesen, im Widerspruch mit dem Worte Gottes, das uns sagt: Suchet in der Schrift5); lernet sie von Kindheit auf6); tut nichts dazu noch davon7), und bleibt dabei in freudiger Glaubenszuversicht, dass, was geschrieben steht, dem das ewige Leben gebe, der es glaubt und danach tut. Wo die Seelen unter der Gewalt des päpstlichen Verbots geknechtet sind, herrscht der Aberglaube, der als eine gefährliche Krankheit die Kirche verwüstet, die weltliche Macht der Priesterschaft aufrecht hält, und zuletzt ein feindliches Ablösen von allem positiven Christen-Glauben herbei führt.

Durch die Reformation wurde die Heilige Schrift dem Volk wiedergegeben; Niemand darf uns nun das Kleinod rauben, in welchem uns die Seligkeit zugesichert ist. In vielen Millionen Exemplaren wird das teure Bibelbuch verbreitet, und jedes Volk besitzt bald den heiligen Schatz in seiner Sprache, den ein Jeder, welcher lesen kann, benutzen darf und soll.

So wird durch das geschriebene Wort Gottes die ewige Wahrheit wieder auf den Leuchter gestellt. Vergebens spricht der römische Bischof das Anathema über die Bibelgesellschaften aus8), die frohe Botschaft zieht dennoch als ein Engel Gottes in alle Lande9) und bringt Licht und Leben dahin, wo vorher die Macht des Todes auf den Völkern lag10). Wer dieses Lebenslicht gläubig im Herzen aufnimmt, über dem geht auf der Herr mit stiller Herrlichkeit, Jesus Christus, der Sohn vom Vater voller Gnade und Wahrheit.

Was sollte, was konnte dagegen der Feind der Menschheit tun? Er bekam freilich darüber einen großen Zorn, und bot Alles auf, um dem Gotteslichte der Heiligen Schrift seine finstern Mächte entgegen zu stellen. Mit bloßem Verbot und roher Gewalt der Inquisition richtete er jetzt nichts mehr aus, er musste neue Lügenkünste ersinnen, damit er das lebenbringende Wort den Menschen wieder raubte.

Siehe da, die Weisheit dieser Welt, die irdisch, menschlich und dämonisch ist11), tritt jetzt auf und sucht die Seelen zu überreden, die Bibel sei nicht Gottes Wort, sondern bloßes Menschenwerk, das keinen Glauben verdiene. Um aufgeklärt zu heißen, müsse man sich durch eine dreiste Leugnung des Inhalts der Heiligen Schrift frei machen von dem, was bisher als Glaubensregel in der Christenheit gegolten hat.

Wo diese Ansicht in die Herzen eingeschlichen ist durch die Schlangenlist des Lügners und Mörders von Anfang, wird dem Werk der Reformation ein unübersteigliches Hindernis in den Weg gelegt, und die Menschen sinken von Stufe zu Stufe tiefer in den Unglauben, welcher der völlige Tod der Seelen ist. An die Stelle des Christentums tritt ein neues Heidentum, wo Niemand mehr danach fragt, was Gottes Willen sei; sondern der Eigenwille knechtet die Sklaven der Sünde, und bindet sie ins Verderben, dass sie keine Erlösung mehr wollen.

Denn der Hauptirrtum des Abfalls der neuern Zeit wird vorzüglich wider den zweiten Grundsatz der Reformation aufgestellt. Die Reformatoren des sechzehnten Jahrhunderts lehrten nämlich einstimmig und nachdrücklich des Menschen Erlösungsbedürftigkeit, und zeigten der Welt die göttliche Heilsanstalt im Licht des Evangeliums.

Der zweite Grundsatz unserer Reformation heißt: Kein Mensch kann durch eigenes Verdienst selig werden, weil das adamische Geschlecht ein gefallenes Geschlecht ist; alle Menschen aus Adam sind Sünder von Natur und können nur durch die erlösende Gnade Gottes in Christo Jesu die Seligkeit erlangen, wenn sie glauben an Ihn.

Dieser Grundsatz ist anfangs zwar hauptsächlich dem Ablasskram entgegengestellt worden, der auf die frechste Weise für schnödes Geld die Vergebung der Sünden feilbot; ein wahrer Seelenmord des Lügners von Anfang. Allein die Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben an Jesum Christum ist keine Negation gewesen, sondern die positivste Affirmation, das ist das ewige Evangelium selber, welches Ja und Amen ist, und Allen, die auf Erden sitzen und wohnen, allen Heiden und Geschlechtern und Sprachen und Völkern verkündigt werden soll12).

Warum der Feind der Menschheit wider diese Lehre sich wütend erhob, lässt sich leicht erklären. Sobald eine Seele das erglaubt und ergriffen hat, was als Bedingung unserer Erlösung von Gottes wegen uns vorgeschrieben worden, hat auch der Widersacher seine Macht über sie verloren; der Ankläger ist verworfen, der sie Tag und Nacht vor Gott verklagte13), und der Sohn Gottes hat sie frei gemacht14).

Vor den Reformation konnte der Feind durch falsche Werkheiligkeit die Menschen martern und verblenden, und hatte, weil das Evangelium ihnen vorenthalten war, im Gesetz eine fast unbeschränkte Macht über sie. Nun aber war es anders geworden, die verdammende Wirkung des Gesetzes und der Betrug der eigenen Gerechtigkeit hatten aufgehört; jeder reuige Sünder konnte in der freien Gnade Gottes den Trost der Vergebung finden und mit Freudigkeit in einem neuen Leben wandeln, als reich gesegnetes Gotteskind.

Was tat der Feind? Er verdoppelte seinen Eifer, und warb sich seine Helfershelfer vorzüglich in den Reihen Derer, die von Amtswegen berufen waren, der Menschheit das Kleinod des Evangeliums zu bewahren. Sein Hauptaugenmerk richtete er auf die Schulen, worin die Zeugen der erlösenden Wahrheit sollten herangebildet werden. Wenn die Quellen vergiftet sind, breitet sich der Tod von selber überall aus.

Und dieses höllische Beginnen ist ihm leider gar mächtig gelungen. Im schroffsten Gegensatze mit den Grundsätzen der Reformation wurden folgende zwei Behauptungen aufgestellt:

  1. Der Mensch hat von Natur die göttliche Offenbarung in Vernunft und Gewissen, und braucht keine Bibel. Wir müssen unsere eigenen Erlöser sein durch die Beobachtung der Moral des Christentums.
  2. Es ist unmöglich, die Vielgestaltigkeit des ersten dieser beiden Grundsätze darzulegen, weil Jeder seine eigene Vernunft hat und danach urteilt, sobald keine geschriebene göttliche Offenbarung anerkannt wird. Doch alle Widersacher der Bibel vereinigen sich in dem Bestreben, auf alle nur erdenkliche Weise die Heilige Schrift zu verdächtigen, zu widerlegen und zu verwerfen.

Aus dem Schoß der römischen Kirche ging in Frankreich das Verderben aus im vorigen Jahrhundert15); es breitete sich aber bald auch über Deutschland mächtig aus16). Vor 50 Jahren hörte man unter Andern einen gelehrten Orientalisten in Halle17) mit erstaunlichem Scharfsinn und beißendem Witz über alle heiligen Männer des Alten Testaments absprechen, und die ganze Bibel als eine Sammlung von Mythen, das ist als ein Fabelbuch, behandeln. Dies sollte die jungen Theologen bereiten zum heiligen Predigtamt! Der Unkrautsame fraß um sich. Zwanzig Jahre später geht aus der Tübinger Hochschule ein Gelehrter aus18), der mit großem Aufwand von Wissenschaft ein Buch schreibt, das er „Leben Jesu“ nannte, und in welchem er dartut, dass Alles, was im Neuen Testament sich findet, nur eine Sammlung von Sagen sei, die keinen geschichtlichen Grund haben. In der allerneuesten Zeit erscheint nun von der Hochschule in Paris aus, ein anderes „Leben Jesu“19), welches, mit allem Aufwand von schriftstellerischer Kunst und Gewandtheit, unsern Herrn und seine Apostel als betrogene Betrüger darstellt. In England dagegen schreibt ein Bischof20) ein Buch, worin er denselben schimpflichen Verdacht wider Moses, den größten Propheten des alten Bundes, ausspricht. Der vielen andern, in letzteren Jahren erschienenen Schriften nicht zu gedenken, die zum einzigen Zweck haben, die Seelen im Glauben an das Wort Gottes irre zu machen. Die Widersacher der Bibel nennen das: die Kritik, das heißt, das Vernunftgericht über die geschriebene Offenbarung.

Was würden nun unsere Reformatoren sagen, wenn sie in unsern Tagen Rundschau hielten in den protestantischen Ländern und Schulen? Allein, da hat man auch schon die Antwort für sie bereitet. Wir sind, so heißt es, weiter als ihr! Ihr seid noch in eurem alten Wahn befangen, wir sind Kinder des Fortschrittes.

Und nun frage ich, ob man das einen Fortschritt nennen kann, wenn von der ewigen Wahrheit zur Seligkeit, die auf dem Grunde des Wortes Gottes sich wie ein Lebensbaum entfalten soll, man auf den beweglichen Sandgrund der Menschenmeinungen fortrückt, wodurch die Erbauung der Christenheit unmöglich und der Ruin der Kirche unvermeidlich wird. Jene Unmöglichkeit und diesen Untergang der Kirche sehen auch die Vernunftleute, die sich Denkgläubige zu nennen pflegen, gar wohl ein; sie bieten darum dem Volk die schmeichelnde Lehre der Selbsthilfe dar, und das ist ihr zweiter Grundsatz, der mit der Reformation im schneidenden Widerspruch steht.

Zwar wird anfangs, weil doch das Volk einmal daran gewöhnt ist, noch mit einer gewissen Achtung von Jesu Christo geredet; allein nicht so, als ob er der Erlöser wäre, der uns durch sein verdienstliches Leiden und seinen blutigen Kreuzestod von unsern Sünden erkauft hat; o nein! - das ist Aberglauben und Torheit! Christus hat uns durch seine Lehre von der Unwissenheit in göttlichen Dingen erlöst, und durch sein Beispiel uns das Vorbild aller Tugenden gegeben, danach wir trachten sollen; und das können wir, wenn wir nur ernstlich wollen.

Man darf wohl sagen, dass in dieser Ansicht der höchste Triumph des Feindes liegt; denn da wo diese einmal herrschend geworden, ist auch die Seele von den Wurzeln des Lebens abgeschnitten, und auf die eigene Kraft, das heißt auf die natürliche Ohnmacht des Menschen verwiesen; und so entsteht ein Christentum ohne Christus, wobei wir nichts mehr von dem übrig haben, was die Reformatoren als den einzigen Grund der Seligkeit verkündigten. Die stolze Wissenschaft hat den Glauben verdrängt; der Fürst dieser Welt hat den Christengemeinen ihr Kleinod, das Evangelium, geraubt, und sie wieder unter das Naturgesetz, das heißt unter den Tod gefangen genommen. Wer den Sohn Gottes nicht hat, der hat auch das Leben nicht21).

Die Reformation ist daran gewiss nicht schuld, sondern: Das hat der Feind getan! Der Feind hat unter den Weizen das Unkraut gesät, beide wachsen nun neben einander auf, und wir müssen warten, dass sie ihre Früchte bringen; denn an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen22).

2) Die Früchte beweisen es bereits und werden es noch schlagender beweisen,

dass der Abfall unserer Tage nicht von unserer Reformation herrührt, sondern, im Gegenteil, durch die Abweichung von ihren Grundsätzen entsteht.

Die erste Frucht dieses Abfalls ist das Aufhören des Glaubens an die Heilige Schrift des Alten und des Neuen Testaments. Es ist höchst merkwürdig, wie sich Unglauben und Aberglauben hierin vereinigen, um dem Menschen diesen festen Grund zu rauben, auf welchem unsere ewige Hoffnung steht; daher kommt es, dass die römische Kirche sich gegen das Unwesen des Philosophismus unserer Tage meistens gar duldend und schonend verhält; die Verteidiger des Papsttums sagen, dass die sogenannten Denkgläubigen (Rationalisten) ihre Verbündeten sind, und manche Seelen aus dem Protestantismus wieder in den Schoß der römischen Kirche zurücktreiben.

Es gibt allerdings nicht wenige Beispiele, dass Personen, im trostlosen Unglauben der neuern Zeit hin und her flutend, endlich in die römische Kirche sich zur vermeintlichen Rettung flüchten, weil darin noch eine gewisse positive Kirchenlehre festgehalten wird, die man ihnen als Rettungsanker darbietet; und manche der eifrigsten Verteidiger wurden dem Papsttum auf diesem Wege gewonnen, weil sie die Vernunftlehre in ihrer Nichtigkeit aus trauriger Erfahrung erkannt hatten. Solche Seelen sind oft recht edel gesinnt, und ein wahrer Verlust für die evangelische Kirche; hätten sie in früheren Jahren das teure Wort Gottes in seiner Kraft an ihren Herzen erprobt, so wären sie der Reformation dankbar treu geblieben, während sie statt dessen im Wahn stehen, die protestantische Kirche selbst sei von der Wahrheit abgefallen, indem sie nur die Grundsätze des Abfalls der neuern Zeit kennen gelernt haben.

Doch ist die Anzahl solcher redlichen Seelen nur klein gegen die Masse derer, welche mit Vergnügen unsere Epoche begrüßen, wo man glaubt, was man will, ja im Grunde nichts mehr zu glauben nötig hat, dabei dennoch ein Glied der Kirche bleiben und ihre äußerlichen Vorteile genießen kann durch einen falschen Protestantismus, der in seiner Weisheit sich brüstet. Die Frucht dieser Selbsthilfe des Unglaubens gestaltet sich bereits unzweideutig in unsern Tagen als ein stufenweises Abwärtsgehen auf dem geistigen Gebiete der Menschheit, bis zur grundsatzlosen Unsittlichkeit.

Mit hochmütiger Einbildung wird zuerst die Meinung erzielt, dass es zur Menschenwürde gehört, sich von aller positiven Religion loszusagen; Vernunft und Gewissen, heißt es, sind Gottes Licht und Gottes Stimme in uns; die Natur ist das Buch Gottes, worin wir die ewigen Gesetze der Tugend lesen können; das ist die höhere Stufe, auf der die selbstständigen Denker sich blähen. Aber nun werden auch die zwei andern Fragen hervorgeholt, welche als Grundlage jener Gesetze gelten sollen, nämlich: über das Wesen Gottes und über die Fortdauer der Menschenseele nach dem Tod.

Da kein Schriftwort mehr als Regel gelten darf, so verschwimmt das menschliche Denken in das All der Schöpfung; und ganz nahe liegt nun der Gedanke, dass die Gottheit, die sich in den Naturgesetzen offenbart, mit diesen Gesetzen einerlei sei, und dass das Naturleben das Leben Gottes ist. So gehen ganz leise die Philosophen23) zum Pantheismus über, und die Kreatur wird vergöttert; folgerichtig muss nun der Mensch sich selber vergöttern; denn ist sein Leben nicht auch Gottes Leben in ihm, sein Gedanke und Wille Gottes Gedanke und Wille?

Da sind wir nun schon auf dem Standpunkt des Heidentums angelangt, welches Geschöpf und Schöpfer verwechselt. „Da sie sich für Weise hielten, sind sie zu Narren geworden24)

Von dieser Stufe geht es nun tiefer in die Untersuchung der Lebensfrage, was aus dem Menschen wird nach dem Tode seines Leibes. Die Antwort darauf weist natürlich alle Schriftlehre ab; denn die Auferstehung Christi ist ja nur ein Mythus, eine Fabel! - Wer bürgt uns aber dafür, dass, bei der Auflösung des Leibes in die Elemente, sich nicht auch der geistige Teil des Menschen in die Gottheit, nämlich in das All, auflöse? Die Wahrscheinlichkeit wird zur kühnen Behauptung. Die Fortdauer und das Gericht werden abgeleugnet. So sind wir nun vom Pantheismus auf den Materialismus gekommen, das heißt auf die Ansicht, dass unser Bewusstsein im Sterben aufhört, und dass demnach der Tod eine Vernichtung unserer Persönlichkeit mit sich bringt25).

Das wäre, meint man, wohl genug, so weit gekommen zu sein; doch nein, es geht noch eine Stufe tiefer. In der Naturentwicklung haben sich ja nach und nach die Dinge umgestaltet; aus den niedrigeren Gebilden der Schöpfung haben allmählich höhere Ordnungen sich entwickelt; der Mensch war deshalb auch schon von Uranfang an da, aber noch nicht in der jetzigen Vollkommenheit, sondern er war anfangs nur: „ein Affe“, der allmählich erst zum Menschen ausgeartet ist26).

Das wäre also die hohe Menschenwürde, von der die Denkgläubigkeit so viel zu rühmen wusste; mit ihren konsequenten Vernunftschlüssen bringt sie uns dahin, dass wir die Affen als unsere Ahnen begrüßen müssen.

An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen! - Ist das Protestantismus, ist das die Frucht der Reformation des sechzehnten Jahrhunderts? Wahrlich nein, das steht im schroffsten Gegensatz mit den Lehren unserer Reformatoren; und wenn wir gefragt werden: Aber woher kommt denn das frevelnde Beginnen der Irrlehrer, die den Grundsatz der freien Schriftforschung so entsetzlich missbraucht und zur frechen Willkür des zügellosen Menschenwahnes verdreht haben? so antworten wir mit dem Hausvater im Gleichnis: Das hat der Feind getan, es ist sein neuestes Meisterstück. Denn es war ihm gar verdrießlich, dass der Glaube an das geschriebene Gotteswort wieder aufgekommen war; und weil er dasselbe nicht mehr verbieten konnte, so suchte er im Unglauben die Seelen davon abzubringen, und dadurch ihre Rettung unmöglich zu machen.

Die Wirkung des Unkrautsamens falscher Lehre wird sich aber erst recht im allgemein werdenden Abfalle kund tun; denn die Menschen müssen an den verderblichen Früchten das Werk des Feindes ganz gründlich erkennen lernen. Dagegen erklären wir feierlich, dass die Reformation an diesem Verderben keine Schuld hat, sondern das einzige Mittel, uns vor dem Abfall zu bewahren, wird sein, dass wir zurückkehren zu den Grundsätzen unserer Reformation, und uns mit neuem Ernst und größerer Treue an das geschriebene Wort Gottes halten, in welchem ebensowohl des Menschen Erlösungsbedürftigkeit, als auch seine hohe Würde unerschütterlich von Gottes wegen uns bezeugt werden.

Wir lesen auf dem ersten Bibelblatt, dass der Mensch ursprünglich geschaffen ward zum Bild Gottes; und in dem Geschlechtsregister Jesu, das bis auf den ersten Adam hinausgeführt ist27), heißt es: Adam war Gottes! Wir sind deshalb nicht „mit Vernunft begabte Tiere“, sondern wir sind göttlichen Geschlechts28).

Die Sünde aber und alles Elend, das uns anklebt, ist eine Folge nicht der uns angeschaffenen Unvollkommenheit, sondern des Abfalls von Gott, unserm Ursprung, wodurch das göttliche Ebenbild in uns verwüstet worden ist.

Das Gottesbild in der gefallenen Menschheit ist jedoch nicht unwiederbringlich verloren; es wird durch ein Wunder der Gnade wiederhergestellt in denen, die durch den heiligen Geist zur Gemeinschaft mit Christo durchdringen und neu geboren werden29). Wenn wir von Herzen an Jesum Christum glauben, so werden wir verklärt in dasselbe Bild von einer Klarheit zur andern30), bis wir zuletzt sagen können: das Alte ist vergangen, siehe es ist Alles neu geworden31).

Die Hoffnung dieser Erneuerung ist aber an das Wort Gottes geknüpft, welches allein uns den Weg, die Wahrheit und das Leben in Jesu Christo zeigt32).

Darum halten wir, was wir haben, dass Niemand unsere Krone nehme; und wir sehen voraus, dass auch in der römischen Kirche manche Seelen zum Glauben an die Bibel sich wenden werden, um sich vom Untergang zu retten mit der Gemeine zu Philadelphia, in der kommenden Weltversuchungsstunde33).

#Alle hingegen, die nicht mehr das geschriebene Wort Gottes bewahren, sie mögen nun zur römischen oder protestantischen Kirche gehören, werden haufenweise abfallen und dem Antichristus sich zuwenden, der seinen Anhängern materielles Glück versprechen, doch auch Alle verfolgen wird, die dem gekreuzigten Christo auf Golgatha treu bleiben wollen. Auf eine solche Verfolgungszeit müssen wir uns gefasst machen.

Da wird sich aber zeigen, wo die Wahrheit liegt; denn die kleine Herde, die auf das Wort Gottes und auf die Erlösung in Christo Jesu ihre ganze Hoffnung gründet, wird gewiss in dieser letzten Feuerprobe sich bewähren. Gleichwie die Märtyrer der apostolischen Zeit vorzogen, Vermögen, Freiheit, ja das irdische Leben zu lassen, lieber als dass sie den heidnischen Götzen Weihrauch gestreut hätten, so wird es auch in unsern letzten Tagen gehen; es werden treue Zeugen auftreten, mitten in der treulos gewordenen Christenheit, und werden, wie Martin Luther, vor Kaiser und Reich, also auch vor allen hohen und niedern Dienern des Fürsten dieser Welt feierlich erklären, dass sie sich einzig berufen auf das geschriebene Wort und auf Jesum Christum, den eingeborenen Sohn Gottes, unsern Erlöser voller Gnade und Wahrheit.

Doch nicht dies allein; es wird dazu an der abtrünnigen Christenheit die Drohung erfüllt werden, die der Heiland den ungläubigen Juden seiner Zeit zurief34): „Das Reich Gottes wird von euch genommen und den Heiden gegeben werden, die seine Früchte bringen.“ Ja, zu den Heiden geht nun das geschriebene Wort in allen Sprachen der Erde, und bringt ihnen, trotz des Abfalles so Vieler unter uns, durch die evangelische Mission die Botschaft des Heils. Wenn aber das Zeichen erfüllt ist, wovon Jesus Christus sprach35): „Es wird gepredigt werden das Evangelium vom Reich in der ganzen Welt zu einem Zeugnis über alle Völker; und dann wird das Ende kommen“, was nicht mehr ferne sein kann, so schlägt auch die große Gnadenstunde für das blinde Israel; die Decke weicht von seinen verblendeten Augen, und sie werden Den erkennen, in den sie gestochen haben; sie werden Ihn beweinen, an Ihn glauben, und als den einzigen Heiland Ihn aller Welt verkündigen36).

Dann kommt die große Erquickungszeit auf Erden37), wonach die seufzende Kreatur sich sehnt, und die Treubewährten werden im Reich der Herrlichkeit mit ewiger Freude gekrönt.

Bis aber Solches geschieht, gehen wir noch durch sehr ernste Tage, wo der Feind, welcher wohl weiß, dass er wenig Zeit hat, die Kirche Christi furchtbar verfolgt38). Da wird es heißen bei Denen, die im Kampf ausharren: Hier ist Geduld der Heiligen; hier sind, die da halten die Gebote Gottes und den Glauben an Jesum39).

Mag nun bis dahin der Widerspruch gegen das teure Wort Gottes in neuen Angriffen schriftlich und mündlich sich von allen Seiten erheben und wiederholen; wir lassen uns nicht irre machen! - Das Unkraut unter der guten Saat können wir nicht ausraufen, aber wir sprechen gottgelassen: das hat der Feind getan! und warten getrost auf den Alles entscheidenden Erntetag, wo die Gerechten leuchten werden wie die Sonne in ihres Vaters Reich.

Wer Ohren hat zu hören, der höre40). Amen.

1)
Matth. 13,24-30
2)
Joh. 13,17
3)
Johannes Arndt, Philipp Jakob Spener, August Herrmann Franke.
4)
Der bekannte Skeptiker Bayle sagte, in einer an Ludwig XIV. gerichteten Schrift, solches sehr richtig voraus: „Irrt euch nicht, eure Triumphe sind Siege des Deismus, und nicht Siege des wahren Glaubens. Ich möchte nur, dass ihr diejenigen hörtet, die keine andere Religion haben als die der natürlichen Billigkeit. Sie betrachten eure Taten als einen unwiderleglichen Beweis für ihre eigenen Ansichten. Und wenn sie überlegen, welche Verwüstungen und blutige Gräuel eure römische Kirche über die ganze Welt, seit sechs bis sieben Jahrhunderten, gebracht hat, so müssen sie unwillkürlich ausrufen: „Gott ist seinem innersten Wesen nach zu gut, um der Urheber solcher Gräuel, und deshalb auch irgend einer positiven Religion zu sein. Er hat dem Menschen nur das natürliche Gesetz im Gewissen offenbart; aber während die Leute schliefen, kamen die Feinde des Friedens und säten den Unkrautsamen ins Feld der natürlichen Religion, indem sie besondere Religionen stifteten, von denen sie im Voraus wussten, dass eine ewige Ernte von Krieg und Blutvergießen und allen möglichen Ungerechtigkeiten daraus erwachsen würde. Es empört sich zwar unser Gewissen gegen solche Gotteslästerungen; allein eure Kirche wird einst vor Gott dieselben zu verantworten haben, denn ihr Geist, ihre Lehren und ihre Taten erzeugen dieselben in den Herzen jener Leute.“„ (Anno 1685.).
5)
Joh. 5,39
6)
2. Timoth. 3,15-17
7)
5. Mos. 4,2. Kap. 12,32. Off. 22,18.19
8)
z.B.: Pius VII, der im Jahre 1817 die Bibelgesellschaften für eine Pest erklärte.
9)
Offenb. 14,16.
10)
Jesaj. 60,1-3.
11)
Jak. 3,15
12)
Off. 14,6.7.
13)
Off. 12,10
14)
Joh. 8,31-36
15)
Durch Voltaire, Diderot, d'Alembert, La Mettrie.
16)
Durch Friederich II. u. A.
17)
Gesenius
18)
David Strauß
19)
Von Renan, Prof. an der Sorbonne.
20)
Colenso, Bischof zu Natal, in Südafrika.
21)
1 Joh. 5,12.
22)
Matth. 7,16 und 20.
23)
Spinoza, Hegel, u. s. w.
24)
Römer 1,22 und 25.
25)
Feuerbach, Moleschott, u. s. w.
26)
Dies lehrt ausdrücklich Professor Vogt in Genf.
27)
Lukas 3,38
28)
Apostelg. 17,28-29
29)
Joh. 3,1-8
30)
2. Korinth. 3,18
31)
2. Kor. 5,17
32)
Joh. 14,6
33)
Offenb. 3,7-13
34)
Matth. 21,43
35)
Matth. 24,14
36)
Sachar. 12,10
37)
Apostelg. 3,20
38)
Offenb. 12,13-14
39)
Offenb. 14,12.
40)
Matth. 13,43
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