Goetz, Christoph Wilhelm - Kurze Betrachtungen über die Leidensgeschichte Jesu - Neunte Betrachtung.
Wenn vor den Lockungen der Sünde
Dein Bild aus meiner Seele flieht,
Und sie mich in die tiefsten Schlünde
Der Thorheit und Zerstreuung zieht;
Bin ich's nicht auch, der treulos spricht:
Ich kenne meinen Heiland nicht? -
So laß mir dann dein Bild erscheinen,
Mich hören deine Lehre dann.
Wohl mir, wenn noch mein Auge weinen,
Mein Herz noch Reue fühlen kann.
Wie deinem Freund vergibst du mir,
Und ewig trennt mich nichts von dir!
Text: Joh. 13, V. 33. 36-38.
Wo ich hingehe, da könnet ihr nicht hinkommen! Spricht Simon Petrus, zu ihm: Herr, wo gehest du hin? Jesus antwortete ihm: Da ich hingehe, kannst du mir diesmal nicht folgen, aber du wirst mir hernachmals folgen. Petrus spricht zu ihm: Herr, warum kann ich dir diesmal nicht folgen? Ich will mein Leben für dich lassen. - Jesus antwortete ihm: Solltest du dein Leben für mich lassen? - Wahrlich, wahrlich, ich sage dir, ehe der Hahn krähet, wirst du mich dreimal verläugnen!
In einer sehr bedeutungsvollen Unterhaltung finden wir, nach dieser Stelle, Jesum mit Petrus. Feierlich erklärt Ersterer seinen Jüngern, sie könnten ihm auf dem schweren Gange, den er jetzt zu machen habe, nicht folgen. Alle vernehmen still diese feierliche Erklärung, nur. Petrus begreift nicht, welchen Weg es geben könne, auf dem er seinem Herrn zu folgen gehindert wäre; darum fragt er erstaunt: Herr, wo gehest du hin? und als Jesus ernster noch hinzufügt: er könne ihm diesmal unmöglich folgen; da sucht er jeden Zweifel seines Meisters an seiner Treue mit der Versicherung zu widerlegen, er sey bereit, das Höchste, was der gefahrvollste Weg mit sich bringen könne, nemlich selbst sein Leben, zu opfern. Christus weißsaget ihm sofort seinen Fall, aber Petrus beharrt in seinem Vorhaben und vertraut seiner Kraft. Halten wir nun, was wir vernahmen, zusammen mit dem, was wir später von dem Eintreffen der Vorherverkündigung Jesu erfahren, denken wir an Petrus Fall, welch ein Spiegel für das menschliche Herz ist dann diese Begebenheit! Welch eine ernste Mahnung, sich nicht selbst zu viel zu vertrauen! Doch wir werden dies alles deutlicher erkennen, wenn wir betrachten: Was uns Petrus lehrt, der sein Leben für den Herrn lassen will? Es leite uns bei dieser Betrachtung theils das in unserm evangelischen Abschnitte Gegebene, theils, was wir in andern biblischen Stellen, in Beziehung auf die Gesinnung dieses Jüngers, finden.
Dreifach ist die Lehre, die uns hier ertheilt wird:
Die schwerste Kunst ist, sich selbst zu kennen; je mehr wirkliche Vorzüge, desto leichter allzugroßes Selbstvertrauen: Die, welche die Versuchung nicht fliehen, sondern sie überwinden wollen, unterliegen gewöhnlich.
Unter den Jüngern Jesus war Petrus einer der ausgezeichnetsten. Freudig verließ er einst seinen Erwerb, um dem Rufe Jesu, Menschen zu fahen, seine Mitbrüder für die ewige Wahrheit zu gewinnen, zu folgen. Muthig und kräftig stand er an seines Herrn Seite, und zu ihm allein hatte der Herr gesprochen: Du sollst Petrus, d. i. Fels heißen, und auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen und selbst die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwinden. - Petrus griff in jener düstern Nacht, wo Jesus gefangen genommen wurde, zum Schwert, um seinen Herrn und Meister, zu schützen, und zeigte durch dies alles, so wie in der Folge durch seine Reue und seine muthige Verbreitung des ewigen Wortes der Wahrheit, die edle, große, kräftige Gesinnung, welche ihn erfüllte, und dennoch kannte er sich selbst nicht recht. Die Worte: ich will mein Leben für dich lassen; seine wiederholte Erklärung, er werde ihm folgen, und seine nachherige Verläugnung Jesu, belehren uns nur allzudeutlich von diesem Mangel an Selbsterkenntniß. Selbsterkenntniß ist so selten, als wahre Weisheit selten ist. Sie fehlt uns allen. Fast jeder kennt seinen Freund, seinen Nachbar, seinen Bruder besser, als sich selbst. Wir haben ein scharfes Auge für alles Tadelnswerthe an andern und sind blind für das Tadelnswerthe an uns. Unser häufiges Richten anderer, unser Absprechen über ihr Treiben und Leben; unser Gewahrwerden des Splitters in deß Bruders Auge und unsere Blindheit für den Balken in unserm Auge; dies alles zeugt von unsrer mangelhaften Selbsterkenntniß. Der Mensch warnt so oft den Freund vor Gefahr, vor Mißgriff - und die Gefahr, in der er sich befindet, den Mißgriff, den er zu thun eben sich anschickt, erkennt er nicht. Ja, wir kennen uns nicht; unsere eignen Fehler, Schwächen, Gewohnheiten, Neigungen, Thorheiten und Sünden, sind uns so häufig verborgen. Und von dieser Unklarheit über sich Selbst, ist niemand ausgenommen. So groß auch das Maß der Kenntnisse und Einsichten ist, die sich Einzelne erworben haben, so scharf auch ihr Blick das Thun und Treiben der Menschen durchschaut; so gereift und sicher treffend auch ihr Urtheil ist, sich selbst kennen sie doch nicht. Wenn wir dies Wort, daß die Erleuchtetsten aller Zeiten, als die Quelle aller Weisheit priesen - lerne dich selbst kennen recht benützten, wenn wir klarer über unsere Denkungs- und Handlungsweise, über unsere Kräfte und über unsere Mängel wären; längst schon müßte ein anderes Geschlecht auf Erden wandeln; längst schon müßte die Zeit gekommen sein, die Jesus herbeizuführen erschien, wo alle wiedergeboren wären in ihm, zu neuem Leben, wo alle der Geist der Wahrheit heiligend durchdränge, alle die Welt im Siege des Glaubend überwunden hätten. Ja, da der Herr in das Seine kam, würden ihn die Seinen nicht ausgestoßen, sie würden ihn angenommen haben. Aber wir stehen von der Weisheit, die durch Selbsterkenntniß kommt, ferner, als ein Petrus, der sich selbst nicht erkannte. Das Wort der Wahrheit ist uns aufgeschlagen; das Wort der Wahrheit kündiget sich uns im Herzen und in allem an, was um uns ist; aber es dringt nicht in uns, und Tausende stehen heute, wie sie vor Jahrzehnden standen, nicht gereifter, nicht geheiligter, nicht besser. Das ist unsre Blindheit mit sehenden Augen, unser Mangel an Selbsterkenntniß; es trifft uns das Wort: wir sind blind und Leiter der Blinden. Die Welt erkennt ihre Sünde nicht, darum bleibt sie in der Sünde. Wäret ihr blind, so hättet ihr keine Sünde; nun ihr aber sprechet, wir sind sehend, so bleibet eure Sünde. … lasset uns Gott bitten, daß er uns das rechte Verständniß, gebe, und unseres eignen Herzenstiefen uns klar mache, damit wir zunehmen an der Weisheit, die ihm wohlgefällig ist.
Das Beispiel des Jüngers Petrus lehrt uns, wie leicht große Vorzüge zu allzugroßem Selbstvertrauen verleiten. Große Vorzüge hatte Petrus unstreitig. Der Herr selbst hatte sie mit der Erklärung, seine Kirche auf ihn gründen zu wollen, anerkannt. Petrus hatte sie durch seinen Muth und seine Entschlossenheit, durch seine Bereitwilligkeit Irdisches hinzugeben, um Unsichtbares, Ewiges zu erfassen, und durch seine Einsicht und seinen Feuereifer bewiesen. Aber eben diese Vorzüge verleiteten ihn zu dem Glauben, mehr leisten zu können, als er im Stande war. Ich will mein Leben für dich lassen, sprach er, und doch war seine Festigkeit im Guten noch nicht so begründet, seine Stärke in der Liebe noch nicht so unbesiegbar, daß sie das größte der Opfer freudig hätte bringen können. Große Vorzüge verleiten zu allzugroßem Selbstvertrauen. Daraus, erklärt sich die wunderbare Erscheinung, daß die größten Vorzüge häufig mit den größten Schwächen sich gepaart finden; daß gerade Menschen, welche außerordentliche Kenntnisse besitzen, in den wichtigsten Dingen von dem schlichtesten Verstande an Einsicht übertroffen werden; daß Menschen, welche in dem Einen sehr Ungewöhnliches leisten, in einem Andern aller Thatkraft ermangeln. Ist uns ein Werk gelungen; sind wir geneigt anzunehmen, jede Anstrengung ausdauern zu können. Wurde uns einmal Beifall, rechnen wir gerne ein andermal sicher dar auf. Siegten wir einmal in gefahrvollen Augenblicken; leicht geschieht es, daß wir in jeder Gefahr zu überwinden hoffen. Die ein kleines Uebel geduldig trugen; wähnen oft gerüstet zu seyn für jeden Schmerz: Die in einem beengten Augenblick durch die Kraft des Glaubens und Vertrauens sich über ihren Jammer erhuben; halten sich für stark genug, mit diesen Waffen nimmer zu erliegen. Vorzüge verleiten leicht zu allzugroßem Selbstvertrauen, und wo solche Vermessenheit sich findet, da flieht man auch die Versuchung nicht, sondern wähnt, sie überwinden zu können, und unterliegt, wie uns das Beispiel des Jüngers Petrus zeigt. Der Herr hatte ihm ausdrücklich gesagt: Da ich hingebe, kannst du mir diesmal nicht folgen; es kam ja dies Wort aus seines Lehrers Munde, aus dem Munde, der nur Wahrheit und Weisheit verkündete. Warum beschied er sich nicht, daß Jesus besser verstünde, als er, was geschehen könne und solle? Aber vielleicht das Andenken an früher erwiesene Entschlossenheit, an die Bedeutung des Namens, den er trug, weckte ein allzugroßes Selbstvertrauen. Es würde mich entehren, denkt er wohl bei sich selbst, auch nur einen Augenblick meinen Meister zu verlassen; deshalb begleitet er ihn in das Richthaus. Unnöthig war hier seine Gegenwart. Vielleicht das Gefühl hievon, die fremde Umgebung, die Anerkennung der Uebermacht der feindlichen Gewalt, die sich ihm aufdrängt, die Fragen: Bist du nicht auch einer von ihnen? - Deine Sprache verräth dich! Sah' ich dich nicht? - sie benehmen ihm alle Entschlossenheit, er läugnet abermal und zum dritten Male, seinen Freund und Meister zu kennen.
Wenn die Edelsten und Trefflichsten unseres Geschlechtes solche schwache Augenblicke haben, welches Gefühl ergreift und Schwächere, Sündigere dann?
Wir müssen die Versuchung fliehen, nicht sie suchen und überwinden wollen. Freilich ist es groß und schön, sich selbst zu besiegen, muthig den gefahrvollen Kampf zu bestehen, und, da alle Tugend nur durch Kampf, durch Ueberwindung der Versuchung sich bewährt zeigt, eine so bewährte Tugend zu zeigen. Aber der Mensch kennt sich, wie wir erst betrachteten, selbst nicht. Er sucht wohl selbst die Versuchung auf, weil es seinem Ehrgeize schmeichelt, sich als muthvoll, furchtlos, wirklich tugendhaft gepriesen zu sehen; oder weil er die Kraft nicht hat, dem Reize zu widerstehen, den eben das Hineinbegeben in solche Gefahr für ihn hat. Der Mensch, der eitle Thor, betrügt sich so oft selbst. Was ihm angenehm ist, was seinen Sinnen schmeichelt, das sucht er. Warnt ihn nun doch sein Gewissen vor der Gefahr des Falls, so überredet er sich selbst, es wäre feige, dem Versuchenden nicht nahe treten zu können, ohne zu fallen. Siehe, er naht sich und - fällt!
Ja, es ist groß, sich selbst zu besiegen, aber gesucht darf die Versuchung nicht werden. Das Leben ist ein fortgesetzter Kampf und bietet in seinem gewöhnlichen Laufe Gelegenheit genug, dar, Stärke zu beweisen.
So bald irgend ein Streben, irgend ein Verhältniß zu Dingen oder zu Menschen, dem Frieden unseres Herzens, dem Heile unserer Seele Gefahr droht; dann ist es hohe Zeit, es zu fliehen. Keine Einrede, keine Bemäntelung, Entschuldigung, beruhigende Zurede aus uns selbst und von andern werde gehört; sondern fliehen, wenn es möglich ist, fliehen um jeden Preis, mit freudigem Darbringen jedes Opfers, so theuer es uns auch sein mag, fliehen müssen wir die Versuchung, denn der Teufel gehet umher, wie ein brüllender Löwe und suchet, welchen er verschlinge. Keiner kann sagen, was er in der Stunde der Versuchung leistet, und die Macht des Bösen übt an allen ihre Gewalt, und wer mit seiner bessern Ueberzeugung unterhandelt, ist schon vom Unrecht besiegt.
Darum, um dieser Selbsterkenntniß willen, die uns Noth thut; um eines bescheidenen Vertrauens willen in unsere Kraft, auch bei allen Vorzügen, eine Bescheidenheit, die dem Menschen so oft fehlt, um endlich zu rechter Zeit noch die Versuchung zu fliehen, lasset uns des Zurufe des Herrn eingedenk seyn: Wachet und betet, daß ihr nicht in Anfechtung fallet; denn der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach!
Ja, mit heiligem Ernste lasset uns wachen; wachen über jedes unsrer Worte, über jeden unsrer Schritte, über jedes Verhältniß, in dem wir uns befinden! Stärke lasset uns von Gott erflehen für die gefahrvollen Augenblicke, in die wir ungeahnet uns versetzt sehen, um in Versuchungen, denen wir nicht entfliehen können, zu liegen. Wachen und beten lasset uns, daß wir nicht erliegen!
Wach, und hab auf dich wohl acht,
Trau nicht deinem Herzen,
Leicht kann, wer es nicht bewacht,
Gottes Huld verscherzen;
Denn es ist, voller List,
Weiß sich wohl zu heucheln,
Und sich selbst zu schmeicheln.
Darum bet‘ auch stets dabei,
Bete bei dem Wachen,
Gott muß dich von Trägheit frei,
Und behutsam machen.
Er verleiht Munterkeit
Auf dem rechten Pfade,
Durch erbetene Gnade! - Amen.