Gerhard, Johann - Tägliche Uebung der Gottseligkeit – Das vierte Capitel.

Gerhard, Johann - Tägliche Uebung der Gottseligkeit – Das vierte Capitel.

Prüfung des Lebens nach der Regel der ersten Gesetztafel.

Heiliger Gott, gerechter Richter, du hast uns dein Gesetz gegeben; und gewollt, daß dasselbe die Richtschnur für alle unsere Handlungen, Worte und Gedanken sey, so daß Alles, was mit dieser Richtschnur nicht übereinstimmt, in deinem Gericht als Sünde angerechnet werde! So oft mir dieser hell-leuchtende Spiegel klar vor Augen steht, durchschaue ich meine Häßlichkeit, und schaudere am ganzen Menschen zusammen. Ich soll dich, mein Gott, über Alles lieben; aber wie oft liebe ich die Welt, und vergesse deiner Liebe! Ich soll dich, mein Gott, über Alles fürchten; aber wie oft willige ich in Sünden, und gedenke nicht deiner Furcht! Du verlangst, daß ich dir, mein Gott, über Alles vertraue; aber wie oft wanket mein Herz im Unglück, und zweifelt bekümmert und ängstlich an deiner väterlichen Sorgfalt! Ich soll dir, mein Gott, von ganzem Herzen gehorchen; aber wie oft widerstrebt mein hartnäckiges Fleisch diesem Vorsatz des Gehorsams und nimmt mich bisweilen in der Sünde gefangen! Heilig sollten meine Gedanken seyn, heilig und rein die Begierden; aber wie oft wird der Ruhm eines ruhigen Gemüthes durch eitle und gottlose Gedanken zerrüttet. Ich soll dich, mein Gott, von ganzem Herzen anrufen; aber wie oft schweift das Gemüth beim Gebete umher und wird über die Erhörung ängstlich bekümmert! Wie bin ich zum Gebete so träg, und so furchtsam, ein Vertrauen zu fassen! Wie oft betet wohl die Zunge, und ich bete dich doch nicht im Geist und in der Wahrheit an! Wie vergesse ich oft deiner Wohlthaten so gänzlich! Täglich gießest du deine Wohlthaten reichlich auf mich aus, und doch ergieße ich mich nicht täglich wieder in Dank für deine Wohlthaten gegen dich. Mit welcher Kälte denke ich an deine unermeßlichen und unendlichen Gaben, mit denen du mich überhäuft hast! Wie gering ist meistens die Ehrerbietung in meinem Herzen! Ich gebrauche deine Gaben, und doch preise ich dich nicht als Geber! Ich hänge an den Bächlein, und eile nicht zur Quelle. Dein Wort ist ein Wort des lebendigmachenden Geistes, aber ich hindere es oft, daß es nicht Frucht bringen kann, und vernichte das Werk des heiligen Geistes in mir selbst. Ist der Funke eines guten Vorsatzes entzündet, so lösche ich ihn öfters aus, und verlange nicht ängstlich einen Zuwachs an Gaben.

Für diese und alle meine Sünden und Mängel. biete ich dir, mein Gott, den reinsten und vollkommensten Gehorsam deines Sohnes dar, der dich in den Tagen seines Fleisches von ganzem Herzen vollkommen liebte, und mit ganzem Herzen aufs Vollkommenste dir anhing, in dessen Thaten, Worten und Gedanken kein Flecken der Sünde gefunden ward, kein Fleckchen selbst der kleinsten Schuld. Was mir fehlt, das schöpfe ich gläubig aus seiner Fülle. Um dieses deines geliebten Sohnes willen erbarme dich deines Knechtes, o Herr! Amen.

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