Funcke, Otto - Tägliche Andachten – Montag nach Sexagesimä bis Estomihi

Funcke, Otto - Tägliche Andachten – Montag nach Sexagesimä bis Estomihi

Montag nach Sexagesimä.

Die Menschenkinder gehen daher wie ein Schatten und machen sich viel vergebliche Unruhe.
Psalm 39, 7.

Wie ernst ziehen die Schatten über den Erdboden hin, bald klein und schnell schwindend, bald riesengroß und lange während. Aber was bleibt von ihnen? Nichts, ganz und gar nichts, weder von den kleinen, noch von den riesengroßen! Und so, sagt der Psalmist, ziehen die Geister der Menschheit über die Erde hin. Das ist ein betrübender, schier beleidigender Vergleich! Aber was wollen wir machen? Wollen wir uns etwa einbilden, dass von uns auf die Dauer mehr zurückbleiben werde, als von dem Schatten? Wahrlich nicht! - es sei denn dass etwas in dir lebte und aus dir heraus lebte, das nicht von dieser Welt war und also auch nicht mit ihr schwinden kann.

Also nur Schatten auf Erden! und doch machen wir uns so viel vergebliche Unruhe! Ach ja, unruhig ist das Leben und wir machen's noch viel unruhiger, wie es sein müsste. Jedem, der auf seinen Weg geachtet hat, wird das aufgefallen sein, wie man so gar nie zur Ruhe kommt hier unten. Freilich, oft denkt man: Nun wird's kommen! Noch Eins liegt vor mir, eine Sorge, ein Kampf, eine Arbeit; ist das überwunden, dann gibt's Ruhe. Aber ach, ist man nun glücklich über den besagten Berg, so zieht neue Unruhe in neuer Sorge, Arbeit und Anfechtung, schweren Wolken gleich, über den lichten Himmel; es kommt von einer Seite, woher man sich gar nichts vermutet hatte.

Und ob man in den äußerlichen Dingen zur Ruhe gekommen ist, so geht die innere Unruhe erst recht an. Stärker wie vorher dringt oft gerade in solchen Zeiten, wo äußerlich Alles zum Frieden gekommen ist, das Gefühl des innerlichen Unbefriedigtseins in die Seele hinein. Oder es ist Unruhe darüber, dass wir nicht richtig stehen, zu diesen und jenen unserer Mitmenschen, vielleicht zu unseren Allernächsten nicht. Oder es ist Unruhe um zukünftiges Unheil, das uns zu drohen scheint, oder Sorge und Unruhe um liebe Menschen, gefährdet scheinen. Ja, wir machen uns viel Unruhe, viel vergebliche Unruhe, und, (was das Schlimmste ist) die Unruhe, die nicht vergeblich ist, die Unruhe, aus der die wahre Ruhe geboren wird, - die machen wir uns so selten. Um Alles beunruhigen wir uns leicht und nicht um das, was aller Unruhe Springquell ist, um die Sünde die in uns wohnt. Nichts ist so leicht, darin der Mensch nicht seine Ruhe suchte; nur an dem Einen, der da ruft: „Kommt her zu mir, ich will euch Ruhe geben für eure Seelen!“ an diesem Einen, der's bewiesen hat und täglich beweist, dass Er Ruhe schaffen kann im Menschenherzen, selige, lebensvolle, unvergängliche Ruhe, - an dem Einen treibt der große Strom der unruhvollen Menschenkinder vorüber. Wer aber vor Ihm zum Stehen und demnach zum Knien gekommen ist, wer sich von Ihm sein sanftes, leichtes Joch hat auflegen lassen, wer zu seinen Füßen als ein lernbegieriger Schüler sitzt, der wird bald unseren Psalm, der so trüb und traurig lautet, lustig und schön machen können, dass es eitel Wohlklang, Trost und Himmelsmusik wird. Ja, wird er sagen, „freilich sind meine Tage wie einer Hand breit hier auf Erden, aber nach der Handbreit dieser Tage leuchtet mir der Morgen, dessen Sonne ewig nicht untergeht. Fahre ich hier unten auch nur wie ein Schatten über die Erde hin, doch bin ich berufen des herrlichen Gottes Kind zu sein und werde ewig, in sein Bild und Herrlichkeit verklärt, vor seinem Throne stehen. Ist hier meine Zeit eine unaufhörliche Unruhe, so weiß ich doch, eine Ruhe ist mir vorhanden, mit dem Volk Gottes, darin Leib und Seele ewig frohlocken werden. Muss ich hier auch einstimmen, dass alle Menschen so gar nichts sind, droben, im Lande der Vollendung, wird der staubgeborene Erdenpilger zum festen Bürger der goldenen Gottesstadt geworden sein.“

Unter Lilien jener Freuden
Sollst du weiden,
Seele schwinge dich empor!
Als ein Adler fleug behende,
Jesu Hände
Öffnen mir das Perlentor.
Löse, erstgeborner Bruder,
Doch die Ruder
Meines Schiffleins, lass mich ein
In den sichern Friedenshafen
Zu den Schafen,
Die der Furcht entrücket sein.

Dienstag nach Sexagesimä.

Nun, Herr, wes soll ich mich trösten? Ich hoffe auf dich.
Psalm 39, 8.

„Wie ohnmächtig ist der Mensch! Es ist nicht not, dass das ganze Universum sich waffne, um ihn zu vernichten, ein Hauch, ein Tropfen Wassers genügt, um ihn zu töten! Aber wenn auch das Universum ihn vernichtet, so ist der Mensch doch größer. Denn er weiß, dass er stirbt, aber das Universum weiß nicht, dass es ihn vernichtet.“ So sagt Pascal in seiner großartigen Weise. Es ist schön, was er sagt. Aber ich höre doch die Leser fragen: ist das Alles? Besteht darin die ganze Herrlichkeit und der ganze Vorzug des Menschen, dass er weiß, dass er stirbt? Mag ein Philosoph sich damit trösten: „Ich bin größer denn alle Kreatur, denn ich weiß, dass ich sterbe; ich sterbe mit Bewusstsein“,

Wahrlich, uns scheint das ein trauriges, höchst unerbauliches Privilegium, so lange wir nichts Anderes wissen, als dass der Tod das Ende des Lebens ist. Eben diese Wissenschaft kann uns nur Angst machen und alle Lebenslust und Lebensfreudigkeit hinwegnehmen. Auch der Psalmist wusste, dass er sterben müsse; ja, er bittet Gott, ihn das recht bedenken zu lehren. (V. 5.) Er malt es aus, wie wir hörten, dass der Mensch nur ein über die Erde ziehender Schatten sei, seine Tage nur eine Hand breit, dabei sein Leben voll zerreibender Unruhe, ganz und gar nichts, nichtig durch und durch. (V. 6 und 7.) Aber über dem Allen ist ihm nur so viel trauriger zu Sinnen geworden und von allem Trost verlassen wehklagt er: „Herr, wes soll ich mich trösten?“ Wir fühlen es durch: Er hat Umschau gehalten in aller Kreatur, um irgend einen Punkt zu finden, wo sein angstvolles, unruhiges Herz Anker werfen könne. Wie das Täublein Noah hin und herflatternd die Stelle suchte, wo ihr Fuß ruhen könne, - diese Stelle aber nicht fand und sich darum wieder zu der rettenden Arche kehrte, von welcher es ausgeflogen war, - so schwingt sich die geängstete, hin- und hergefegte Seele des heiligen Sängers hinauf zu Gott, dem Ursprung ihres Seins, und sucht in Ihm stille Ruhe und festes Fundament. „Ich hoffe auf dich! ich hoffe auf dich, o mein Gott und Herr.“

In Gott sich hineinretten aus dem Geist der Zeit heraus, das heißt in den Geist der Ewigkeit, der Unvergänglichkeit und des Lebens sich hineinretten. Jeder kann es erfahren, dass ihm, so viel näher er sich zu Gott herandrängt, so viel lauterer und kindlicher er mit ihm verkehrt, so viel gewisser wird ihm das Jenseits, so viel leuchtender strahlen ihm die Sterne der Ewigkeit, so viel gewisser wird es ihm, dass es nicht aus mit ihm sein kann, ob auch Leib und Seele verschmachten möchte.

Das war auch der Hoffnungsstand der alttestamentlichen Gläubigen. Obgleich sie in der Theorie und im Bekenntnis sehr wenig Klarheit über das Leben nach dem Tod hatten, in diesem: „Ich hoffe auf dich!“ ging ihnen die Sonne auf. Sie hatten das Grundgefühl, dass der Gott, dem sie dienten und vor dem sie in Einfalt wandelten, der Gott, der sich nach dem Namen sterblicher Menschen den Gott Abraham's, Isaak's und Jakob's nannte, - der Gott, der im ganzen Leben, in allem Lieb und Leid, Kampf und Streit ihres Herzens Trost und Licht war, dass der auch mitten im Tod sie nicht könne sterben und verderben lassen. So ließen sie sich fallen in das Dunkel, da ihr Gott wohnte, nicht zweifelnd, dass auch Finsternis Licht sein müsse vor ihm.

Wir Kinder des neuen Bundes haben's leichter zu glauben. Der leibhaftige Gottmensch, der vor uns steht, ist die persongewordene Antwort des heiligen Gottes auf alle bangen Fragen unseres zitternden Herzens im Todesland. Wer je an seinen Herzen geatmet hat, der hat auch etwas von den Kräften der zukünftigen Welt erfahren, von den himmlischen Lichtgewalten, die ihn durchleuchteten und durchschauerten und ihm Freudigkeit geben laut zu rufen: „Ich werde nicht sterben, sondern leben!“ Man erfährt's in seiner Schule und Nähe, dass hier unten schon im stillen Herzensgrund die Erneuerung in das heilige Gottesbild langsam angebahnt wird und das finstere Bild der Sünde mehr und mehr verbleichen muss. Man ahnt es, ja man weiß es fester und fester, dass ein großer Tag wird kommen, wo das Alte vergehen und alles neu werden wird, leiblich und geistig, innerlich und äußerlich. Aber nicht aus der einmal gewonnenen Erkenntnis und Erfahrung Christi haben wir diese Gewissheit, sondern nur dann, wenn wir, wie der Psalmist, uns fort und fort aus dem Element der Sünde und des Todes dieser Welt hineinretten in die Arme unseres Wiederbringers: „Herr, wes soll ich mich trösten? Ich hoffe auf dich!“

Meine Seele gleicht der Taube,
Die sich birgt im Felsenstein;
Wird der Erde nicht zum Raube,
Zu dem Himmel fliegt mein Glaube,
Dringt in Jesu Herz hinein.

Mittwoch nach Sexagesimä.

Höre mein Gebet, Herr, und vernimm mein Schreien, und schweige nicht über meinen Tränen; denn ich bin beides, dein Pilgrim und dein Bürger, wie alle meine Väter.
Psalm 39, 13.

Wie so kläglich und herzbeweglich das klingt! Der ganze Psalm, (den man langsam und feierlich lesen muss, so, dass man nach jedem Vers ein wenig feiert,) der ganze Psalm ist ein stetiger Kampf, wie das Auf- und Niederwogen der Wellen eines tief zerrissenen Herzens. Das Regiment Gottes in der Welt ist dem Dichter gar zu bunt und wunderlich erschienen; er konnte keine Gerechtigkeit darinnen finden. Zwar hat er sich vorgesetzt, dass er nicht sündigen will mit seiner Zunge, (V. 1), nicht murren, nicht klagen. Als er aber dann wieder hinschaute, wie's sich trieb und drängte, ist's ihm zu heiß geworden im Herzen und in den erschütternden Klagen, die wir vernommen haben, bejammerte er des Lebens Nichtigkeit. Dann aber hat er in Gott Anker geworfen: „Herr, wes soll ich mich trösten? Ich hoffe auf dich“. Nun ist's stille, aber nicht lange. Bald übermannt es ihn wieder. Der bittere Spott der Feinde, der Jammer über die leiblichen Trübsale und die innere Verderbnis drücken zu hart. „Höre mein Gebet, vernimm mein Schreien, verbirg dich nicht vor meinen Tränen!“ - nicht wahr, die Worte tönen wie die angstvollen Hilferufe eines Versinkenden, der schon lange vergeblich nach einem Retter gespäht hat. Aber doch hören wir zugleich die Stimme des Glaubens, der wieder Grund fasst: „denn,“ so fährt der Psalmist fort, „denn ich bin beides, dein Pilgrim und dein Bürger“. Das lautet so, als ob er sagte: du kannst mich nicht lassen, du musst mich hören; denn ich bin der ich bin: dein Pilgrim, der zu dir zieht, und du bist der du bist: mein Gott und also auch mein Erbarmer.

So schreibt auch der Verfasser des Hebräerbriefs (11,13 und 14) von den Glaubenshelden des alten Bundes: „Diese alle haben bekannt, dass sie Fremdlinge auf Erden sind“; und weiter macht er daraus den Schluss: Diejenigen, die sich Fremdlinge nennen, sprechen damit aus, dass sie ein Vaterland suchen. Das Tier ist kein Pilgrim und Fremdling auf Erden. Es ist hier unten recht eigentlich zu Hause. Hat es hier auf Erden seine Zeit verlebt, so ist sein Zweck und seine Bestimmung erreicht. Mit seinem Tode ist auch sein Ende und sein Ziel erreicht. Ach, und unzählige Menschen erniedrigen sich zum Tiere, indem auch sie erklären, dass sie von der Erde durchaus befriedigt seien, dass auch sie jenseits des Grabes nichts mehr suchen und erwarten. Bei denen ist kein Pilgersinn! In dem Bekenntnis: „Ich bin ein Gast und Fremdling auf Erden“ liegt ausgesprochen, dass wir hier im irdischen Leben nur auf dem Weg sind, der zur Heimat führt. Diese untere, durch Sünde und Tod verwüstete Welt ist das Land der Fremdlingschaft, wo unsere Seele nicht zu Hause ist; das Vaterhaus liegt überwärts dieser Welt und Zeit. „Vorwärts“! ist also die Losung des Pilgers; er darf sich durch nichts, was ihm auf dem Weg vorkommt, hemmen und halten lassen. Aber diesem äußeren, „vorwärts“ entspricht auch ein inneres „vorwärts“, denn die Zeit der Wanderschaft und des Kampfes ist auch die Zeit der Schule und Zubereitung, darin er soll tüchtig gemacht werden, vor des Vaters Angesicht und in des Vaterhauses lichten Hallen würdig zu erscheinen.

Wenn aber die Alten schon festhielten, dass sie Fremdlinge seien, wie viel freudiger sollten wir Kinder des neuen Bundes unsere Pilgerschaft führen! Denn dunkler war ihnen das Land der Fremde und ungewisser das Ziel. Seit das Kreuz Jesu Christi in den Erdboden dieser Todeswelt eingegraben wurde, ist des Todes Stachel zerbrochen und die Macht der Finsternis in ihrem innersten Grund erschüttert. Ein lauterer Brunnen der seligsten Hoffnung ist unter dem Kreuz auf Golgatha allen ewigkeitsdurstigen Herzen aufgesprudelt, und ein Strom reiner Himmelsliebe fließt von dort in tausend Armen hinein in die Reiche der Welt. Das Land des Todes ist schon erleuchtet von den Strahlen der Lebenssonne und Millionen Glieder einer und derselben erlösten Christus-Gemeinde, aus allen Völkern und Zungen, im Himmel und auf Erden, reichen einander siegesgewiss die Geisteshand.

Dennoch ist auch unser Wandel eine Pilgerschaft geblieben und bleibt es, bis wir vor dem Thron Jesu stehen. Auch heute noch klingt's herzbeweglich, wie vor Jahrtausenden, von so manchen Lippen: „Höre mein Gebet, vernimm mein Schreien, verbirg dich nicht vor meinen Tränen!“ Auch heute noch heißt's in jedem Christenmund: „Ich bin dein Pilgrim.“ „in der Welt habt ihr Angst!“ - das hat Jesus allen seinen Jüngern in den Pass geschrieben. Finsternis und Dunkel sind oft um uns her und nicht selten sind die göttlichen Führungen im Lauf der Welt mark- und beinerschütternd. Und gefährlicher noch wie die großen Heimsuchungen sind die tausenderlei kleinen Verdrießlichkeiten, die täglichen immer sich wiederholenden Widerwärtigkeiten, die uns so leicht innerlich schlaff und matt machen. Und gefährlicher wie die Anfechtungen von Außen, gefährlicher wie die Verlockungen, die aus der Welt her kommen und uns bald zur Sinnenlust, bald zum Unglauben reizen, - gefährlicher sind die Versuchungen zu Trotz und Verzagtheit, die in dem eigenen Herzen ihren Ursprung haben. Aber der Herr ist treu und nah ist das Ziel. Es gilt nur immer wieder sich aufraffen, nur immer wieder sich einsenken in diese unendliche Herrlichkeit der Hoffnung, die uns in Christo erschienen ist. Sage dir nur immer: Sei ein Pilger! Strebe vorwärts und immer vorwärts dem Ziel zu! Sei ein Pilger! Bereite dich in jeder Stunde und lasse dich bereiten, dass du tüchtig wirst, vor dem Vater zu erscheinen. Lebe im Ziel und lass dich durch nichts fesseln, durch nichts niederbeugen, - nur weiter, immer weiter, durch kein Toben und Schelten der Welt, durch keine Erfolge und Misserfolge, durch kein Lieb' und Leid der Zeit auf gehalten, weiter, immer weiter durch Kraft des Schauens in Jesu Christi Angesicht.

O du reiche Quelle,
Brunnen jeder Lust,
Mache mir es helle,
Hell in Aug' und Brust!
Ziehe, süße Liebe,
Mich hinauf zum Licht,
Alle meine Triebe
All' mein Angesicht.

Donnerstag nach Sexagesimä.

Die Geduld unseres Herrn achtet für eure Seligkeit.
2. Petri 3,15.

Wer auf seinen Weg zurückschaut, der muss tiefbeschämt erkennen und bekennen, dass Gott große Geduld mit ihm haben muss, und dass Er ihn ohne diese Geduld längst würde aus seiner Schule weggeschickt haben. Wenn wir auf unser trotziges und verzagtes, unwahres, arglistiges und wankelmütiges Herz und Wesen achten, - auf so viele Vorsätze und so wenig Erfüllung, auf so viele Ansätze und so wenig Durchsetzen, so müssen wir uns oft tiefbeschämt wundern, dass Gott noch nicht an uns irre geworden ist, und immer wieder auf's Neue bei uns anfing. Wir verstehen dann, wie der Apostel sagen kann: „Die Geduld Gottes achtet für eure Seligkeit“, und preisen anbetend unter Tränen diese seligmachende Geduld.

Ein großer Kirchenvater hat einmal gesagt: „Gott ist geduldig, weil er ewig ist“. Was heißt das? Nun, weil die ganze Ewigkeit vor Ihm offen liegt, weil Er die Dinge anschaut, nicht wie sie jetzt in der Zeit sind, sondern wie sie in der Ewigkeit sein werden, so kann Er es absehen, Geduld haben und warten. Er kann nicht nur Geduld haben mit seinem Richten, da Ihm Niemand entlaufen kann, sondern auch vornehmlich Geduld in seiner Gnadenarbeit, da Er weiß, dass Er mit allen Aufrichtigen doch endlich noch wird kommen zu seinem Zweck und Ziel.

Gott ist geduldig, weil Er ewig ist, und wir sind - so ungeduldig, weil wir so zeitlich sind, verloren in die Dinge, die augenblicklich und sichtbar sind. Darum sind wir ungeduldig in unseren Schmerzen und Demütigungen, weil wir nicht festalten können, dass die Leiden der Zeit ewige Herrlichkeit schaffen sollen. Darum sind wir so ungeduldig mit unseren Mitmenschen, mit ihren Fehlern und Schwächen, weil wir so selten vor Augen haben, dass sie bald mit uns vor Gottes Thron stehen werden.

Wie schnell sind wir meist fertig zu sagen: „Ach, mit Dem und Der wird's nichts; es ist ihnen offenbar nicht zu helfen; alle Liebe und Arbeit fruchtet an ihnen nichts. Man muss sie ihrem Schicksal überlassen;“ oder, wenn man sich frommer will ausdrücken, sagt man: „Gott wird sie noch in schwerere Schulen nehmen müssen'. Würden wir auch wohl so sprechen, wenn wir das immer vor Augen hätten, wie unendlich viel Geduld der HErr, unser Gott, mit uns, mit unseren Fortschritten in der Heiligung, in der Erkenntnis, in aller göttlichen Tugend hat? Das ist gewiss wahr: In dem Maß, wie wir göttlicher gesinnt werden, werden wir auch ewigkeitsmäßiger, in dem Maße, wie wir ewigkeitsmäßiger werden, werden wir auch geduldiger, - geduldiger in der eigenen Trübsal, geduldiger in dem Kampf, der uns verordnet ist, geduldiger im Verkehr mit unserem Nächsten. Aus Gottes Geduld mit uns müssen auch wir Kraft zur Geduld schöpfen, dann werden mir in Zeit und Ewigkeit erfahren, dass es ein köstlich Ding ist geduldig sein.

Vater, du hast mir erzeiget
lauter Gnad' und Gütigkeit,
Und du hast zu mir geneiget,
Jesu, deine Freundlichkeit.
Und durch dich, o Geist der Gnaden,
Werd' ich stets noch eingeladen.
Tausend, tausend Mal sei dir,
Großer König, Dank dafür.

Freitag nach Sexagesimä.

Und es begab sich nach diesen Reden bei acht Tagen, dass er zu sich nahm Petrum, Johannem und Jakobum, und ging auf einen Berg, zu beten.
Lukas 9,28.

Es lohnt sich wohl darauf zu achten, dass die meisten großen Taten Gottes auf Bergeshöhen geschehen sind. Auf dem Ararat landete nach den grauenvollen Tagen der Sündflut die rettende Arche und von diesem herrlichen Bergaltar stieg die Familie Noah's in die Ebene hinab, um ein neues Menschenleben zu beginnen. Auf dem Berge Morija hat Abraham, der Vater der Gläubigen, seine größte Glaubenstat vollbracht, da er seinen Sohn Isaak opferte. Auf der Höhe des Sinai wurde Moses berufen, Israels Erretter zu sein, ebendaselbst schaute er später Gottes Herrlichkeit, da er 40 Tage und 40 Nächte mit Gott allein war; die Höhe des Sinai wurde auch zum Thron der Majestät Jehovah's, wo er unter rollendem Donner den ewigen Bund schloss mit dem zitternden Israel, und 700 Jahre später schaute auf diesem Berg der Prophet Elias ein Gesicht, darüber sein Antlitz in den Staub gebeugt wurde. Auf einem Berge, dem Nebo, legte Moses sein müdes Haupt zum Tod nieder, nachdem er vorher Kanaans Herrlichkeit von Ferne geschaut. Auf den Bergen Ebal und Garizim wurde in dem soeben eroberten Kanaan Fluch und Segen des Gesetzes verlesen. Und was sollen wir sagen von dem Zion, wo David's Burg stand, und von dem Morija, wo im Allerheiligsten Jehova wohnte, über goldenen Cherubim; - von diesen Bergen, die durch ein Jahrtausend umtönt waren von den Lobgesängen Israels? Was sollen wir sagen von dem herrlichen Bergaltar des Karmel, hoch über dem brandenden Ozean, wo Elias unter wunderbaren Offenbarungen Jehova's der Reformator des abgefallenen Israels wurde?

Am wichtigsten aber muss uns sein, dass unser Heiland die Berge so liebte. Auf eine prächtige Bergeshöhe führte ihn der Teufel, da er ihn versuchen wollte, auf die Berge ging er, wenn er beten wollte, auf einem Berg hielt er die Predigt, daran nun alle Prediger der Welt das Predigen lernen müssen, bis an's Ende der Tage; auf dem Ölberge rang er mit dem Tod, auf der Höhe Golgathas brachte er selbst sein heiliges Leben dar, als ein Sühnopfer der Welt; und von demselben Ölberg aus, wo er des Todes Bitterkeit schmeckte wie nie ein Mensch, ging er verklärt ein in die Herrlichkeit des Vaters.

Die Berge sind gleichsam Altäre des ewigen Gottes. Hier, hoch über dem Gebrause und Getreibe der Welt, wird es den Herzen leichter, Stille und Sammlung zu finden; hier ist man den strahlenden Lichtern des Himmels so viel näher; ja man meint, Gott selbst näher zu sein; hier, wo so reine, frische Gottesluft weht, wo die Stimmen der Menschen schweigen, wo die Erde noch jungfräulich rein, noch nicht gedüngt ist von so viel Blut und Tränen der sündigen Menschenkinder, hier, wo man mit weitem Blick und lichtem Auge Gottes herrliche Werke schaut, den ganzen Himmel und weite Lande überblickend und doch von Niemandem gesehen, hier scheint es leichter, die Stimme des Ewigen zu hören. Darum, wer selbst viel auf Bergen gestanden hat, der versteht die Sehnsucht und das bittere Heimweh der Bergbewohner, die in die Ebenen verschlagen sind.

Vor allen Dingen aber verstehen wir, wie dies geheimnisvolle, wunderbar-herrliche Ereignis der Verklärung Christi eine stille, weitausschauende Bergeshöhe fast erforderte. Es würde von der heiligen Poesie dieser Geschichte unendlich viel verloren gehen, wenn sie sich, statt auf einem hohen Berg, in einem Privathaus oder etwa in einem Maisfeld ereignet hätte. Und nun denke man sich gar diesen Tabor, wo nach uralter Überlieferung dieses Wunder geschehen ist! 2000 Fuß hoch ragt er über den Spiegel des See Genezareth, von unten bis oben in einen herrlichen Mantel immergrünen Waldes gehüllt. Wie ein König steht er da, alle die niederen Höhen des weiten galiläischen Berglandes wie kniend und anbetend vor ihm. Und welch ein Anblick bot sich den Wandersleuten, Jesus und seinen drei Jüngern, als sie auf der grünen glatten Fläche dieses Bergaltares ankamen! Im Norden die syrischen Alpen, der Libanon, mit seinen leuchtenden Firnen, von ewigem Schnee bedeckt; im Westen der stolze Karmel und dahinter wie Silber leuchtend das Mittelmeer; und rings zu ihren Füßen das schöne Galiläa, ein großer, lachender Gottesgarten, besät mit Städten und Dörfern. Ja, wahrlich, das war ein Platz, wo Erde und Himmel dem Schönsten unter den Menschenkindern zujauchzten, ein Platz wie geschaffen zur Verklärung des Eingeborenen vom Vater.

Nun, wir können nicht dahin gehen; manche der Leser haben vielleicht noch gar keinen Berg bestiegen, andere haben über dem, was gesagt wurde, Heimweh nach ihren Heimatsbergen bekommen, denen sie nun so ferne gerückt sind.

Aber nur stille! Wir Alle, gleichviel ob Berg- oder Talbewohner, sind schließlich hier auf Erden doch alle in der Tiefe, wenn wir an die Berge denken, da Gott wohnt und von denen unsere Hilfe kommt. Ach, dass wir's Alle nur recht lernten, Augen dahin aufheben und immer wieder aufheben. Möchten wir's Alle nur im kindlichen Glauben recht lernen und üben, die Himmelsleiter zu steigen, die Jesus Christus heißt: und die auch aus den finstersten Abgründen der Erde zu den Wohnungen Gottes, zu den Bergen, da Jehova's Thron steht, hinaufführt. Da wird dann auch unsere Hütte stehen und auf diesem „Berg“ wird Gott dann abtun alle Hüllen, womit wir noch umhüllt sind, wird die Tränen von unseren Angesichtern wischen und den Tod verschlingen ewiglich. (Jes. 25,6-9.)

Himmelan! Mein Glaube zeigt
Mir das schöne Los von Ferne,
Dass Herz schon aufwärts steigt
Über Sonne, Mond und Sterne.
Denn ihr Licht ist viel zu klein
Gegen jenen Glanz und Schein.

Sonnabend nach Sexagesimä.

Und da er betete, ward die Gestalt seines Angesichts anders, und sein Kleid ward weiß und glänzte.
Lukas 9,29.

Hier, auf der sonnenbeglänzten Höhe des Tabor, geschieht etwas, was nie zuvor geschehen war und auch nie zuvor geschehen konnte, so gewiss Jesus der erste Menschensohn war, der, unbefleckt von der Sünde, über den Staub der Erde wandelte. Wenn uns also in diesem Ereignis Manches unbegreiflich ist, so ist gerade diese Unbegreiflichkeit sehr begreiflich, ja selbstverständlich. Dennoch braucht uns das, was hier vorgeht, nicht so ganz fremdartig zu bleiben, wenn wir es auch mehr ahnen wie verstehen.

Nicht um verklärt zu werden, sondern um anzubeten war Jesus auf den Tabor gestiegen, und über dem, dass Jesus anbetete geschah das, was geschehen ist. Vor den Augen Jesu stand die furchtbare Nacht des Leidens und Er eilte sehnsuchtsvoll, um in der Stille der Bergeshöhe sein beschwertes und geängstetes Herz vor dem Vater auszuschütten. Wenn Er sich also hier seinem Vater mit einer besonderen Glut und Innigkeit nahte, so wundert es uns nicht, dass auch der Vater sein Kind in einer besonderen Weise durch seine Liebe und Gegenwart erquickte. Darum, wenn wir hören würden, dass der Geist Jesu in absonderlicher Weise erfreut und erhoben worden sei, so würden wir darin gewiss nichts Auffallendes finden. Ferner erfahren wir Sünder sogar, dass auch der Leib bis auf einen gewissen Punkt Teil nimmt an dem, was in der Seele vorgeht. Wie verstellen sich die Gebärden des Menschen, in des Herz Neid, Hass und Zorn geschäftig sind! Wie widerlich können die schönsten Angesichter werden, wenn zum Beispiel unreine, unheimliche Lust den Menschen erfüllt! Andererseits sagt man von einem hocherfreuten Menschen: „Man kennt ihn gar nicht wieder; er ist wie verklärt“. Und wie kann der Friede Jesu oft ein hässliches Gesicht anziehend machen! Ja es kommt vor, dass die fahlen, spitzen, schauerlichen Todeszüge eines sterbenden Gottesmenschen wie durchleuchtet sind und eitel Freude und Frieden ausströmen. Ja, hier schon ist's anfangsweise wahr, dass Leib und Seele sich freuen in dem lebendigen Gott.

Aber bei Jesu ist doch etwas viel Höheres gemeint. Seine Verklärung geschieht von Innen heraus und ist so gewaltig, dass selbst die Kleider im Silberglanz leuchten. Jesus ist also nicht von Außen angestrahlt, wie Moses, da er vor Gott gestanden hatte und nun eine Decke über sein Haupt hängen musste, weil diesen Abglanz des Gottesglanzes kein Menschenauge ertragen konnte. Nein, hier ist mehr; der Vater lässt etwas, was in Jesu ist, wirksam werden, daher diese wunderbare Herrlichkeit, daher diese entzückende Geistesatmosphäre, die den Petrus jubilieren macht: „hier ist gut sein!“ Was das aber nun war, was hier mit Jesu vorging, das wird uns in dieser Welt nie ganz enthüllt werden. Unsere Buchstaben können keine Worte dafür bilden, unsere Weisheit ist hier zu Ende. Aber wie man auch die Sache versteht, das muss nie vergessen werden, dass Jesu Leib ein wirklicher, reeller Menschenleib war, so wie er ein echter Mensch war, der unser Fleisch und Blut an sich trug. Jede Auffassung dieser Geschichte also, die den Leib Jesu als einen Scheinleib hinstellt, ist als sehr gefährlich zu verwerfen. Auf der anderen Seite haben wir Sünder, deren Leib nur eine elende Ruine ist gegen das, was er sein sollte vom Anfang her, und was er werden soll durch den Erlöser, - ich sage, wir haben keinen Begriff davon, welcher Verwandlungen ein Leib ohne Sünde fähig ist und wie das innere heilige Geistesleben ihn durchleuchten kann, ohne ihn zu zerstören. Was in der Auferstehung und Himmelfahrt auf eine bleibende Weise geschah, dass nämlich das heilige Geistesleben auch den materiellen Leib verklärte und durchgeistete, dies geschah hier zeitweilig, als eine freudenreiche Verheißung auf's Zukünftige, zu einem beseligenden Trost im finstern Leidenstal. In der Tat, wer von der vollkommenen Heiligkeit und Sündlosigkeit Jesu innerlich überzeugt ist, wer davon überzeugt ist, dass Jesus um seines vollkommenen Glaubens und Gehorsams willen ein ganz einziges Verhältnis zu Gott hatte, wie vor ihm und nach ihm nie ein Mensch, - für den hat auch dieses Ereignis nichts Fremdes mehr. Er findet hier nur das, was Johannes bezeugt: „Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des Eingeborenen vom Vater, voller Gnade und Wahrheit“. Und wenn über dem also verklärten Christus die Stimme des nahen Vaters ertönt: „Dies ist mein lieber Sohn, den sollt ihr hören!“ (V. 35.) so ist mit dieser Stimme nur in Wort und Ton ausgedrückt, was in der Verklärung schon tatsächlich dargestellt war.

Rechten Nutzen und rechte Freude hat aber von dieser Geschichte nur Der, dem dabei das Wort Christi durch die Seele leuchtet: „Wo ich bin, da sollt ihr auch sein und wie ich bin, so sollt ihr auch sein. In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden und den Tod überwunden in Allen, die an mich glauben“. - Ja, Gott Lob, ob wir auch Gottes Kinder sind dem Geistesanfang nach, so ist doch noch nicht erschienen, was wir sein werden; wir wissen aber, wenn es erscheinen wird, werden wir ihm gleich sein in seiner Herrlichkeit.

Schönster Herr Jesu,
Herrscher aller Enden,
Gottes und Marien Sohn;
Dich will ich lieben,
Dich will ich ehren,
Du meiner Seelen Freud' und Kron'.

Schön leucht't die Sonne,
Schöner leucht't der Monde,
Als die Sternlein allzumal;
Jesus leucht't schöner,
Jesus leucht't reiner,
Als alle Engel im Himmelssaal.

Am Sonntag Estomihi.

Und siehe, zween Männer redeten mit ihm, welche waren Moses und Elias.
Lukas 9,30.

„Was soll uns eigentlich diese Geschichte von der Verklärung?“ so hört man oft fragen. Wir schweigen von den kritischen Zweiflern, die kopfschüttelnd erklären, es sei ihnen darin des Wunderbaren gar zu viel. Aber auch manche ernste praktische Christen meinen, hier sei nichts, was uns zum Vorbild dienen könne, darum habe dieser Vorgang keine Bedeutung. Ihnen wird das Folgende Antwort geben; und nicht minder Denen, die da sagen: Selbst für Jesum war dieses Ereignis bedeutungslos, da er doch nicht in diesem verklärten Zustand blieb, sondern in die tiefste Erniedrigung und in die Schmerzensfluten des grauenvollsten Todes hinabsteigen musste. Aber wir antworten: Grade weil das bevorstand, grade deswegen hat der Vater an seinem Kind noch einmal alle seine Liebe und Herrlichkeit offenbart. So wurde es Jesu leichter, in der scheinbaren Gottverlassenheit dennoch festzuhalten: „der Vater ist bei mir“, und durch das furchtbare „kreuzige, kreuzige!“ hindurch hörte er herzstärkend immer noch die Stimme seines Vaters „dies ist mein lieber Sohn“; in den Staub heruntergetreten wie ein Wurm dachte er zurück an das, was auf Tabor geschehen war, und zweifelte nicht: „dennoch wird in mir Himmel und Erde, Gottheit und Menschheit vereinigt, verklärt und erneuert werden, wie auf dem Tabor im Vorbild geschehen ist“. Die Taborstunden waren die Vorbereitung, die Ausrüstung und die Stärkung für die Karfreitagsstunden.

Wie eine Mutter ihrem Sohn, der in einen Weg bitteren Leides und tiefer Schmerzen hineinzieht, ihre Liebe und Teilnahme auf alle erdenkliche Weise durch Worte und Werke beweist, so innig, wie sie's vorher nie tat und nie konnte; - wie ein Vater einen solchen Sohn wohl einen Blick tun lässt in die Erbschaft und das zukünftige Glück, das er ihm bereitet hat, was sonst mitnichten geschehen wäre, - so tut auch Gott der Vater mit seinem Kind. Manche, die dieses lesen, werden auch von solcher heiligen Gotteszärtlichkeit zu sagen wissen. Sie können davon berichten, wie wunderbar sie der treue fürsorgende Gott oft erquickt hat, sei es in äußerlicher oder innerlicher Weise oder sei es auf beiderlei Art; wie Er sie schmecken und sehen, greifen und fühlen ließ seine Holdseligkeit und Freundlichkeit, so dass ihr Herz und Mund voll Lobgesang waren. Bald nachher aber rauschten die Wasser der Trübsal und Anfechtung um die zitternde Seele. Jene absonderliche Erquickung aber war geschehen, damit das matte Herz nicht irre werde an seinem Gott in den schweren Tagen, nicht verzage in der Züchtigung, sondern sprechen könne: „Er ist doch mein Gott und mein Vater; ich habe seine Liebe zu mächtig erfahren; das soll kein Feind mir rauben“.

„Ja, ja,“ höre ich sagen, das ist Alles gut und schön, aber das lässt sich doch nicht auf Jesum anwenden; bei Ihm war doch keine Gefahr des Irrewerdens; allzu menschlich redest du von Ihm.“ - Zu menschlich? Ist's dir zu menschlich, mir kann's nie zu menschlich sein, wenn nur seine Heiligkeit nicht angetastet wird. Desto menschlicher, desto tröstlicher! Meinst du nicht, dass Jesus solcher Tröstung und himmlischen Liebkosung bedurft habe? Nun, dann höre doch nur, wie er jammert im Anblick der Leidenstaufe: „Mir ist so bange, bis sie vollendet werde!“ höre wie er wehklagt: „Jetzt ist meine Seele erschüttert und was soll ich sagen: Vater, rette mich aus dieser Stunde?“ - höre, wie er in Gethsemane von Blutschweiß bedeckt im Staub mit dem Vater ringt: „Vater, ist's möglich, so gehe der Kelch vorüber!“ - höre, wie er sogar trotz der Taborstunden in seinem Kreuzesleiden ruft: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ - siehe, dann verstehst du, warum die Taborstunden sein mussten, dann geht dir wohl ein neues Licht auf über der Gestalt deines Heilandes, der des Trostes eben so bedürftig war, wie du armes, schwaches, leidensscheues Menschenkind und sich nur in heiliger Mitleidigkeit zu deinen Schmerzen herunterneigt.

Mitleidender Immanuel,
Es ist mein Leben, Leib und Seel'
Voll Mängel und Gebrechen;
Doch ist dein Herz aus voller Gnad',
Willst weder Sünd' noch Missetat
Am armen Staube rächen.
Deine, reine Mutterliebe
Steht im Triebe
Not zu heben,
Täglich reichlich zu vergeben.

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