Ficker, Christian Gotthilf - Die Zweifler im Neuen Testamente - Predigt am 2. Sonntag nach der Erscheinung (Nathanael)
über Joh. 1, 44-51.
1843.
Die Gnade unseres Herrn Jesu Christi, die Liebe Gottes des Vaters und die Gemeinschaft des heiligen Geistes sei mit uns Allen! Amen.
Das Bekenntnis unseres christlichen Glaubens, welches seit den ältesten Zeiten der christlichen Kirche jedem in dieselbe Aufzunehmenden abgefordert wurde, welches auch wir einst abgelegt haben und welches wir nach seinem Hauptinhalte an jedem Sonntage bei unsern gottesdienstlichen Versammlungen wiederholen, lautet bekanntlich: „Ich glaube an Gott den Vater, allmächtigen Schöpfer Himmels und der Erde; und an Jesum Christum, Gottes eingebornen Sohn, unsern Herrn, der empfangen ist vom heiligen Geiste, geboren von der Jungfrau Maria, gelitten unter Pontio Pilato, gekreuzigt, gestorben und begraben, niedergefahren zur Hölle, am dritten Tage wieder auferstanden von den Toten, aufgefahren gen Himmel, sitzend zur rechten Hand Gottes, des allmächtigen Vaters, von dannen er kommen wird zu richten die Lebendigen und die Toten; und an den heiligen Geist, eine heilige, christliche Kirche, die Gemeinde der Heiligen, Vergebung der Sünden, Auferstehung des Fleisches, und ein ewiges Leben.“ Vernünftige und christliche Eltern und Lehrer halten nun auch darauf, nicht allein dass dieser Glaubensgehalt dem Verstande der Kinder eingeprägt werde und dass dieselben auch verstehen lernen, was sie denn eigentlich hiermit glauben und warum sie dies und nichts anders glauben, sondern dass das Herz auch fest und gestärkt werde in diesem Glauben, dass sie selbst in ihrem späteren Leben lieber Freude, Glück und Ehre dieser Welt verleugnen als diesen ihren Glauben, dass sie nicht gleichen einem Rohre, das von jedem Winde der Lehre hin und her bewegt wird, dass sie mit Freuden der Verklärung des Wortes ihr ganzes Leben heiligen: „Behalte, was du hast, auf dass dir Niemand deine Krone raube. Sei getreu bis in den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben.“
Und doch wie viele mag es geben, die trotz ihres gegebenen Versprechens, im christlichen Glauben beharren zu wollen bis ans Ende, gar bald der Treulosigkeit in die Arme fallen! Wie Mancher kümmert sich sein ganzes Leben hindurch wenig um das Bewahren und Bewähren seines Glaubens! Wie manches Wort geht über die Lippen, das nicht auf dem Boden des Glaubens, wohl aber auf dem des Unglaubens, des Leichtsinnes und der Bosheit gewachsen ist! Wie manches Werk wird getan, wo unwillkürlich sich die Fragen uns aufdrängen: an was müssen diese wohl glauben? Oder ists möglich, dass sie ernstlich noch glauben an das Walten eines gnädigen, aber auch gerechten und heiligen Gottes, glauben an das Gericht unseres Herrn, und Erlösers, glauben an das Gericht des heiligen Geistes, der sich nicht spotten lässt? Wie viel wird namentlich in unsern Beiten gezweifelt an der ewigen Wahrheit des göttlichen Wortes, wie es im Alten und Neuen Testamente niedergelegt ist, und wie oft hält sich auch der unwissende Mensch für berechtigt, seine Zweifel mit leichtsinnigem Herzen und gottloser Zunge hinzuwerfen! Wie schnell und wie furchtbar hat sich nicht von den Lehrstätten menschlicher Weisen und wohl auch hie und da von den Kanzeln hoffärtiger und unchristlicher Geistlichen herab die Zweifelsucht auch in den niederen Ständen der menschlichen Gesellschaft verbreitet und wie schnell greifen die sogenannten Aufgeklärten Alles auf, was etwa „ein Fremdling im Reiche Gottes“ auf dem Markte des Lebens für eine neue Wahrheit ausgibt, die bald dem alten Worte Gottes sein Ende bringen werde! Wie Wenige mag es geben, die solchen Zweiflern gegenüber gewachsen sind und die zugleich auch die heilige Pflicht in sich fühlen, jeden Spott gegen das Heiligste und Teuerste des Lebens mit dem gebührenden Ernste und mit heiligem und freudigem Sinne zurückweisen und das Wort zu führen für den Glauben, der nun Jahrhunderte lang das Licht, der Trost und die Stärke gewesen ist so vieler Millionen Seelen!
Gewiss hält mir Mancher unter uns in seinem Herzen die Frage entgegen: Soll ich denn aber gar nicht zweifeln? Ists möglich, dass ich mein Ohr und mein Auge verschließe den dem Glauben gefährdenden Eindrücken? Soll ich meinen Verstand, meine Vernunft, meine Erfahrungen gar nicht in Anwendung bringen und ohne Weiteres Alles glauben, nur darum weil es in der Bibel geschrieben steht, weil Jesus und seine Apostel es uns gelehrt haben? Oder ist es nicht besser um unsern Glauben bestellt, wenn er zurückweist auf einen harten, langen Kampf, wenn er der Sieg ist, den wir unter dem Beistande des heiligen Geistes errungen haben über die Einreden eines fleischlichen und hoffärtigen Sinnes oder auch über offenbare Feinde des christlichen Glaubens? Allerdings ist es der Wille unsres Gottes, dass wir auch im Schweiße des Angesichts um das himmlische Brot arbeiten, beten, ringen und sorgen sollen; dass wir die Geister prüfen sollen, ob sie aus Gott sind, dazu hat er uns nicht nur sein heiliges Wort, sondern auch Verstand und Vernunft gegeben; dass wir, wenn die Macht des Zweifels zu uns tritt, solche Zweifel etwa nicht verdrängen und verdecken, sondern dass wir sie offen bekennen und an die Wahrheit, die alle Zweifel löst und überwindet, wenden sollen, darauf macht unser heutiges Textwort uns aufmerksam. Es berichtet uns, wie der Herr selbst einen Zweifelnden aufnimmt in seiner Jünger Schar. Gott segne diese Betrachtung!
Text. Johannis 1, V. 44 bis 51.
„Philippus aber war von Bethsaida, aus der Stadt Andreas und Petrus. Philippus findet Nathanael und spricht zu ihm: Wir haben den gefunden, von welchem Moses im Gesetz und die Propheten geschrieben haben, Jesum, Josephs Sohn von Nazareth. Und Nathanael sprach zu ihm: Was kann von Nazareth Gutes kommen? Philippus spricht zu ihm: Komm und siehe es. Jesus sah Nathanael zu sich kommen, und spricht von ihm Siehe ein rechter Israelite, im welchem kein Falsch ist. Nathanael spricht zu ihm: Woher kennst du mich? Jesus antwortete und sprach zu ihm: Ehe denn dich Philippus rief, da du unter den Feigenbaume warst, sah ich dich. Nathanael antwortete, und spricht zu ihm: Rabbi, Du bist Gottes Sohn, Du bist der König von Israel. Jesus antwortete, und sprach zu ihm: Du glaubst, weil ich dir gesagt habe, dass ich dich gesehen habe unter dem Feigenbaum; du wirst noch größeres, denn das sehen. Und spricht zu ihm: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, von nun an werdet ihr den Himmel offen sehen, und die Engel Gottes hinauf und herabfahren auf des Menschen Sohn.“
Die vorgelesenen Worte sind eigentlich nur die Fortsetzung des Berichtes über die Wahl der ersten Jünger, welcher unsrer letzten1) Betrachtung an dieser heiligen Stätte zum Grunde gelegen hat. Der letzte unter jenen vier zuerst gewählten Jüngern war Philippus, und durch diesen wird unserm heutigen Text gemäß Nathanael veranlasst, zu Christo zu kommen.
Wenn nun jene vier ersten Jünger, wenigstens so wie die Berichte dafür zeugen, zu Christo gekommen und ihm selbst nachgefolgt sind, unbedingt darauf vertrauend, dass er der verheißene Erretter und Seligmacher sei, und ohne vorher einen Kampf mit irgend welchen Zweifeln darüber bestanden zu haben: so haben wir hier ein Beispiel, wie Einer ein Jünger des Herrn wird, der zuerst vielleicht längere Zeit Bedenken getragen hat, ob er auch das Recht und die Pflicht habe, Christo nachzufolgen, ob Christus es verdiene, dass man freudig und zuversichtlich sich ihm anvertraue in der wichtigsten Frage des ganzen Lebens: „Was muss ich tun, dass ich selig werde.“ Gewiss ein merkwürdiges und für alle Zeiten der christlichen Seelsorge höchst bedeutungsvolles, lehrreiches Ereignis. Wir wollen ihm unsre Aufmerksamkeit schenken, und von dieser Seite den Text auffassend,
die Berufung des zweifelnden Nathanael zum Gegenstande unsrer heutigen Betrachtung machen.
Wir werden in dieser Berufung
- ein Zeugnis finden, wie der Herr Zweifel, wenn sie anders aus einem redlichen, aufrichtigen und für Wahrheit überhaupt noch empfänglichen Herzen kommen, nicht verwirft, wie er sie sogar billig und gerecht findet; und
- eine Anweisung, auf welchem Wege auch wir am leichtesten und sich ersten solche Zweifel überwinden können.
I.
Philippus findet also den Nathanael und spricht zu ihm: „Wir haben den gefunden, von welchem Moses im Gesetz und die Propheten geschrieben haben, Jesum, Josephs Sohn von Nazareth.“ Mochte nun auch das Herz Nathanaels bei dem Anfange der Botschaft die Freude des Philippus teilen: als er hört, dass der Messias aus Nazareth stamme, jener verachteten Stadt der Galiläer, welche von den echten Israeliten gehasst wurden, weil sie nach ihrer engherzigen Meinung zu viel Umgang pflegten mit heidnischen Völkern, weil sie fest beharrten allein auf dem Gesetze Mosis und dem Worte. der Propheten, die sogenannte „rabbinische Fortbildung des Gesetzes“ aber verachteten, überhaupt an feiner, äußerer Bildung zurückgeblieben waren und dies schon durch ihre rohe und harte Aussprache verrieten, - so ist dies ihm Grund genug, an der Wahrheit der verkündigten Hoffnung überhaupt zu zweifeln, und offen und treuherzig erwidert er: „Wie kann aus Nazareth etwas Gutes kommen?“ Doch war ihm die ganze Sache eine zu wichtige, doch war er so wenig eingenommen für die Wahrheit und Irrtumslosigkeit seiner Ansicht, dass er auf die Antwort des Philippus, er möge nur kommen und sehen, auch sogleich diesem nachfolgte, um eben selbst zu sehen. Wahrscheinlich trug Nathanael die Macht seiner Zweifel auf seinem Gesichte, als er eben zu dem Herrn kam; wahrscheinlich durchschaute ihn Jesus, der immer wusste, „was im Menschen war,“ sogleich, und da er ihn nach seiner eigenen Versicherung gesehen hatte, ehe Philippus ihn rief, unter einem von ihm näher bezeichneten Feigenbaum (wie sie von den Juden gewöhnlich vor den Häusern gepflanzt zu werden pflegten, um unter ihrem Schatten entweder das Gebet zu verrichten, oder die heiligen Schriften der Propheten zu lesen oder überhaupt eine Unterhaltung zu pflegen): war er nicht nur weit entfernt, diesen Mann um seiner Zweifel willen von sich zu weisen, sondern im Gegenteil gab er ihm das Zeugnis, „dass er ein rechter Israelite sei, in welchem kein Falsch,“ und er wusste es im voraus, dass er bald über ein Herz, das Gott fürchtet und Recht tut, das etwaige Zweifel und Bedenken nicht verbirgt, sondern offen und redlich bekennt, das zweifelt zwar, aber in diesem Zweifeln nicht beharrt, sondern weiter fortgeht, um zur Wahrheit zu kommen und so von selbst den Zweifel zu überwinden, den Sieg davon tragen werde. Und so haben wir in der Tat hier ein Zeugnis vor uns, wie der Herr die Zweifel als solche nicht verwirft und die Zweifelnden selbst nicht verstößt, wie er im Gegenteil dem Zweifel sein völliges Recht gibt, wenn er anders kommt aus einem aufrichtigen, die Wahrheit redlich suchenden Herzen; ja wie sobald aus einem Zweifler mit Gott ein warmer, entschiedener Bekenner der Wahrheit für Gott werden könne.
Kommen über uns nun auch Zweifel an dem was wir glauben, woran wir uns halten und worauf wir vertrauen sollen, Zweifel etwa daran, dass Gott in der Tat und Wahrheit unser gnädiger, himmlischer Vater sei, der alle unsre Schicksale ordnet und leitet, der um alle unsre Bedürfnisse weiß, der uns in keiner Not versäumt und verlässt, so doch so mancher Wunsch ohne Gewährung, so manche Hoffnung ohne Erfüllung, so manches Gebet ohne Erhörung bleibt, Zweifel etwa daran, ob auch Christus als der eingeborne Sohn Gottes voller Gnade und Wahrheit der Herzog unsrer Seelen und der Fürst unsrer Seligkeit sei, ob wir ihm zuversichtlich uns hingeben dürfen in jeglicher Verlegenheit, in jeder Angst, in jeder Not, im Leben und im Sterben, so doch so Viele ihn verachten und bald offen und bald verhüllt es aussprechen, ein jeder müsse sein eigner Erlöser werden von Sünde und Tod, Zweifel etwa daran, ob der Heilige Geist auch täglich vom Vater und Sohne ausgehe, um die Welt zu erleuchten, zu heiligen und zu trösten, so doch so Viele von diesem Geiste nichts vernehmen, Zweifel etwa daran, ob ein ewiges Leben nach dem Tode uns erwarte, „so doch kein Auge es gesehen und kein Ohr gehört und in keines Menschen Herz gekommen ist, was Gott bereitet hat denen, die ihn lieben,“ Zweifel etwa daran, ob der Trost der Vergebung unsrer Sünden in Christo begründet sei, so doch so Viele darin eine Versündigung an dem heiligen und gerechten Gott finden, Zweifel etwa daran, ob auch die Gemeinde der Heiligen, die Kirche Jesu Christi bleiben werde auf Erden, so doch Viele den Untergang derselben als unumgänglich notwendig vorher verkündigen, kommen solche Zweifel über uns wir wollen uns ihrer ohne Weiteres nicht entschlagen; wir wollen sie gegen über stellen dem Lichte des göttlichen Wortes, auf dass seine Strahlen die Finsternis zerstreuen, die uns umnachtet. Wir brauchen uns ihrer nicht zu schämen; „Gott lässt es einem aufrichtigen Herzen gelingen, dass es doch endlich zum Frieden der Wahrheit komme.“ Ja wie Christus den Nathanael nicht verwarf, wie er so liebreich und so schnell zum Siege über die Zweifel verhalf: so wird er auch uns um irgend eines Zweifels willen nicht verwerfen, wenn es uns dabei nur eben um das Finden der Wahrheit zu tun ist, wenn wir offen eingestehen, was und warum wir nicht glauben können, wenn wir zuversichtlich zu ihm beten, dass er uns vom Unglauben helfen und im Glauben stärken möge, wenn wir nicht dem so kleinlichen Stolze verfallen, dass eben unsre Zweifel die Wahrheit seien und dass das eben die Wahrheit sei, was wir gerade für Wahrheit halten. Nur dann, wenn wir meinen im Glauben zu stehen, und sind doch nur leichtsinnige, stolze und hoffärtige Zweifler, wenn wir meinen, mit dem Scheine des Glaubens nicht nur die Welt, sondern auch Gott betrügen zu können, wenn unsre Zweifel aus einem gegen alle Wahrheit, gegen alles Gute feindseligen Herzen kommen, wenn wir also an Gottes Gnade und Gerechtigkeit verzweifeln, weil er uns nicht die Wege führt, die wir gerade wünschen, wenn wir Christum verwerfen, weil so Vieles in seiner Erscheinung unserm Verstande zu hoch ist, oder weil er zu viel von den Seinen verlangt und so wenig entschädigt im Zeitlichen und Irdischen, wenn wir den Glauben an den heiligen Geist verspotten, weil seine Zucht und Ordnung dem sinnlichen Menschen nicht zusagt und sein Kommen und Gehen dem natürlichen Menschen ein verschlossenes Rätsel bleibt, wenn wir den Glauben an ein ewiges Leben anfeinden, weil unsre bösen Worte und Werke dasselbe mehr fürchten als hoffen lassen, wenn unsre Zweifel also nicht offenbare Beweise eines nach Wahrheit und Überzeugung ringenden Geistes, sondern die Äußerungen einer übermütigen und ihre Schranken vergessenden Vernunft, ja wohl gar die Versuche eines bösen Herzens sind, den Qualen des Gewissens und den Schrecknissen der Wahrheit zu entrinnen, wo wir mit solchen Zweifeln zu dem Herrn treten und vor ihm wandeln: dann allerdings dürfen wir nicht erwarten, dass er uns freundlich aufnehmen werde. Dann kann uns nur sein Wort treffen: „Hebe dich weg von mir, Satan, denn du meinst in deinen Zweifeln nicht was göttlich, sondern was menschlich ist.“ Und wo wir solchen Zweiflern. unter unsern Brüdern begegnen: wir haben nicht nur ein Recht, den Schleier, hinter welchen sie ihre Zweifel bergen, zu lüften und sie zu bezeichnen als solche, denen Gott ihre Sünden vergeben möge, weil sie nicht wissen, was sie tun, sondern es ist sogar unsre Pflicht, vor ihnen am meisten uns selbst zu hüten, vor ihnen unsre Brüder zu warnen, auf dass nicht das Gift ihrer Zweifel vielleicht arglose Gemüter anstecke und auch sie verwunde, „dass oft Niemand heilen kann.“
II.
Aber nicht bloß ein Zeugnis haben wir in der Aufnahme eines Zweifelnden unter die Zahl der Jünger, wie der Herr die Zweifel, die aus einem aufrichtigen und die Wahrheit redlich suchenden Herzen stammen, nicht verwirft, sondern auch zweitens eine Anweisung, wie und auf welchem Wege auch wir am leichtesten und sichersten die Zweifel überwinden können. „Komm und siehe,“ sprach Philippus zu dem zweifelnden Nathanael. Und als Nathanael den Herrn sah, wie er so liebreich ihn aufnahm und selbst seinen Zweifeln von Standpunkte eines Israeliten aus Gerechtigkeit wiederfahren ließ, als Nathanael sah, wie der Herr auf einmal ihn so ganz durchschaute, dass sein ganzes Herz aufgedeckt vor ihm lag mit allen seinen Regungen, wie ein auf den Glauben an den Messias wahrscheinlich sich beziehender Vorfall unter jenen Feigenbaum in der Hand des Herrn der Schlüssel war, um zu seinem Herzen zu kommen: da fällt er vor ihm nieder mit dem Bekenntnisse: „Rabbi, du bist Gottes Sohn, du bist der König von Israel.“ Ja als Christus, wahrscheinlich verwundert und überrascht über den schnellen Wechsel der Gefühle und Überzeugungen in dem Herzen des Nathanael, ihn bedeutete, dass er schon jetzt glaube, weil er ihm doch nur gesagt habe, was er unter jenem Feigenbaum gesehen, und dass er von nun an noch größere Dinge sehen werde, als er ihn also auf die Zeit seiner nunmehrigen erlösenden und versöhnenden Wirksamkeit hinwies, wo der Himmel mit der Erde verbunden sein, wo die Engel Gottes auf- und niedersteigen würden: da war auch in seinem Herzen die Frage entschieden, wem er nachfolgen müsse, um das ewige Leben, das Leben in der Wahrheit, in der Gerechtigkeit und Seligkeit zu haben.
„Komm und siehe es,“ das muss nun auch bei uns der Weg sein, auf welchem wir am leichtesten alle Zweifel an irgend einer religiösen Wahrheit überwinden können; und Christus selbst hat eigentlich nur diesen Weg den Seinen empfohlen, um immer inniger von der Wahrheit seines Wortes überzeugt zu werden. Ja kommen und sehen müssen wir es, wie Christus nicht nur im Leiblichen Wunder getan hat, sondern wie das Reich des Geistes es ist, wo Christus mit vollem Rechte sagen konnte: „Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden.“ Kommen und sehen müssen wir es, wie die Altäre und die Tempel der heidnischen Götzen auf sein Wort gefallen sind, wie des Irrtums, der Sünde, des Elends immer weniger auf Erden geworden ist, wo sein Wort und sein Geist Eingang finden konnte, wie sein Wort es noch heute ist, das die Leichtsinnigen erschüttert, die Verhärteten rührt, die Wankenden befestigt, die Bekümmerten tröstet, dem Lebenden und Sterbenden hilft von allem Übel. Kommen und sehen müssen wir es, wie auf den Trümmern des alten Zion ein neues gebaut ist, nicht „mit Menschen Händen gemacht, das ewig ist im Himmel, wo die Seelen der Gerechten es gut haben, und wo keine Qual sie anrührt.“ Kommen und sehen müssen wir, was Christus den Seinen gewesen ist, so lange sie ihm treu geblieben sind. Auf diesem Wege beantworten sich von selbst alle Fragen, die Fleisch und Blut etwa aufwerfen im Reiche der übersinnlichen, durch das Christentum offenbar gewordenen und verbürgten Welt. Auf diesem Wege müssen die Zweifel überwunden werden, wie auch Nathanael mit seinem Zweifel überwunden worden ist.
So wollen wir nicht verzagen, wenn oft Zweifel entweder in uns selbst aufsteigen, oder wenn die Welt sie in uns wach ruft, Zweifel daran, ob wir denn auch auf dem rechten Wege sind, wenn wir das glauben, was unsre Kirche einst bekannt hat vor vielen Zeugen und was heute ihre dankbaren und treuen Kinder bekennen. So lange wir nicht im Bunde mit der Sünde stehen, so lange wir es offen und redlich meinen mit der Wahrheit selbst, mit dem Heil unsrer Seele: eben so lange sind sie nach dem Ratschlusse Gottes vielleicht gerade die Mittel und der Weg, wodurch wir um so schneller und sicherer, wie Nathanael, zu der Überzeugung kommen: „Du bist Gottes Sohn, du bist der König von Israel.“ Wir wohnen dann im guten Lande; wir wandeln unter sicherer Obhut, in freundlichem Geleite. Im Geiste sehen wir dem Himmel offen. Gott ist uns nahe und wir sind ihm nahe. Dazu helfe uns Gott! Amen.