Calvin, Jean – Hiob 27, 1 – 4.
1) Da nahm Hiob von neuem das Wort: 2) Gott lebt, der mein Recht weggenommen hat, der Allmächtige, der meine Seele in Bitterkeit versetzt hat. 3) Solange mein Atem währt und Gottes Geist in meiner Nase ist, 4) sollen meine Lippen nichts Unrechtes reden und meine Zunge keinen Betrug vorbringen.
Hiob hält daran fest, nicht dass sei der Grund, weshalb Gott ihn verfolge, dass er schlechter sei als die andern, sondern es liege eine verborgene und den Menschen unbekannte Ursache zugrunde und man müsse sich zu einer höheren Auffassung von Gerechtigkeit aufschwingen als der gewöhnlichen, im Gesetz geoffenbarten. Um aber seinen Worten mehr Geltung und Nachdruck zu geben, beginnt er mit einem schwurähnlichen Bekenntnis: Gott lebt, der mein Recht weggenommen hat, der Allmächtige, der meine Seele in Bitterkeit versetzt hat. „Trotz allem aber will ich nicht wanken, und wenn ich so bestimmt erklärt habe, ich sei gerecht, so geschah das nicht in Überhebung oder aus Heuchelei oder Widerspenstigkeit, auch nicht so, als wüsste ich nicht, Gott habe Macht mich also zu plagen. Aber eins ist sicher: Ich bin nicht der, den ihr aus mir machen wollt, und ich gebe niemals zu, dass Gott mich verdientermaßen so verfolge, wenn man mich nämlich mit andern vergleicht. Denn ihr vertretet eine verkehrte und schlechte Sache, wenn ihr meint, in dieser Welt und im gegenwärtigen Leben behandelte Gott die Menschen so, wie es ein jeder verdiene. Nein, Gott schiebt oft die Strafen auf, die er an den Menschen vollziehen will, so dass man nichts davon wahrnimmt bis nach ihrem Tod, und auf der andern Seite zeigt er oft eine große Strenge gegen die, die er lieb hat und die ihm treulich gedient haben.“ Wir dürfen also Gottes Gerichten nicht vorgreifen und nicht meinen, sie vollzögen sich gleich von Stund an; denn dann müsste Gott ungerecht sein. Jetzt geht alles durcheinander, und wenn es keine bessere Hoffnung gäbe, die wir für die Zukunft hoffen und erwarten, was sollte das werden? Dann wäre Gott ja mehr als blind! Wir können leicht sagen: Die Dinge gehen nicht, wie sie müssten. Deshalb ist nur zweierlei möglich: Entweder Gott weiß nicht, was er tut, oder wir müssen hoffen: er wird einmal die Welt richten. Und wenn wir in Ungewissheit bleiben und unsere Gemüter im Zweifel gehalten werden, weil die Dinge hier so durcheinander gehen, so will uns Gott üben und uns zeigen, dass jetzt Kampfeszeit ist. In einer Schlacht weiß man auch nicht, wer gesiegt und wer verloren hat, solange der Kampf noch hin und her wogt, und man ist erschrocken, aber doch beweist endlich der Sieg, wer der Gewinner ist; so muss in dieser verworrenen Welt auch alles durcheinander gehen, so dass man, menschlich gedacht, nicht sehen oder hoffen kann, Gott werde die Dinge noch einmal wieder in Ordnung bringen. Aber wir müssen darauf warten, dass er´s gleichwohl tun wird, wenn das auch heute und morgen noch nicht geschieht.
Nun aber spricht Hiob ein recht befremdliches Wort: Gott hat mein Recht weggenommen. Damit meint er nicht, Gott handle an ihm wie ein Tyrann, er meint auch nicht, er sei so gerecht, dass Gott keinen Grund habe, ihn noch härter zu züchtigen; er denkt aber vielmehr an die Durchschnittsgerechtigkeit des Gesetzes und an die verdammenden Reden seiner Freunde. Diese hielten ihn ja wegen seiner Züchtigungen für einen überaus großen Sünder. Aber was noch schlimmer war, sie hielten sich an die Fluchworte, die Gott in seinem Gesetz ausspricht, und meinten, das müsse sich alles in diesem gegenwärtigen Leben erfüllen, für die Frommen und Gottesdiener gäbe es nach dem Tode keinen Lohn mehr und auch die Gottlosen erwarte keine andere Strafe als in dieser Welt. Das ist aber eine verkehrte Auslegung des Gesetzes; denn wenn unser Herr die Gottlosen mit Strafe bedroht, so schränkt er das nicht auf eine bestimmte Zeit ein. Gewiss, für gewöhnlich wird das in diesem Leben schon sichtbar, aber nicht immer; man darf daraus also keine allgemeine Regel machen, von der es keine Ausnahme gäbe – Gott lässt sich nicht zu unserm Knecht machen. Es würde uns allemal zur Verzweiflung treiben, wollten wir Gottes Gesinnung gegen uns nach seinem gegenwärtigen Verhalten bemessen. Bildeten wir uns aber ein, Gott hasse uns, weil er uns so hart hält, oh, dann könnten wir ihn ja nicht mehr anrufen und wir hätten gar keinen Trost mehr, unsere Traurigkeit zu lindern, wir wären gänzlich verloren. Nein, Gott will uns in der Geduld üben, er will unsere fleischlichen Begierden zähmen, er will uns sich völlig unterwerfen; man muss so durch diese Welt hindurch gehen, dass man lernt: unsere Ruhe und unser Erbteil sind nicht hienieden. Machen wir es anders, so bringen wir die, die leiden müssen, zur Verzweiflung, und wie könnten wir es wohl verantworten, Unschuldige zu verdammen? Lasst uns immer an das Psalmwort denken: „Wohl dem, der weislich urteilt von dem Geplagten“ (Ps 41, 2; Grundtext). Wenn wir sehen, dass Gott einen züchtigt, so müssen wir etwas daraus lernen, müssen nicht nur an die andern dabei denken, sondern an uns. Wenn wir gottlose Leute kennen und sehen, dass Gott sie straft, so sollen wir erschrecken: Gott stellt sie uns als einen Spiegel vor Augen und als ein lebendiges Beispiel dafür, wie es uns gehen wird, wenn wir uns nicht zu ihm bekehren. Hat aber einer gottselig gelebt und wir wissen nicht, warum er leiden muss, so sollen wir mit unserm Urteil zurückhalten und ruhig warten, bis Gott sein Vorgehen erklärt. Wir stören Gottes Werk, wenn wir uns darüber zu Richtern aufwerfen, und maßen uns damit die Autorität an, die Gott allein zukommt.
Was meint aber Hiob damit: Gott hat mein Recht weggenommen? Er meint damit nicht, Gott habe wie ein Tyrann an ihm gehandelt. Er meint auch nicht, er sei im Recht und könne seinen Prozess gewinnen und eines Freispruchs sicher sein, weil er keinen Fehler begangen habe. Nein, er meint es so: seine Trübsale glichen einer finsteren Wolke, die seine Unschuld verdunkele, und darum seien seine Trübsale nicht Züchtigungen, wie Gott sie über die Übertreter seines Gesetzes verhängt. Die Drohungen und Fluchworte des Gesetzes gelten nicht für alle Fälle und vollziehen sich nicht immer in der gleichen Weise. Welches ist denn der Sinn solcher Drohungen? Gott will damit anzeigen, dass es ein künftiges Gericht gibt, und die Drohungen sind Hinweise auf dieses. Wenn Gott alle seine Gerichte schon hienieden vollkommen verwirklichte, dann gäbe es keine Hoffnung mehr. Wozu dann noch die Wiederkunft unseres Herrn Jesus Christus? Und was würde dann aus unserm Glaubensbekenntnis: Ich glaube an eine Auferstehung des Fleisches und ein ewiges Leben? Unser Leben ist doch vergänglich und verweslich, es ist viel Jammer und Elend unterworfen; noch haben wir nicht die Glückseligkeit, die Gott uns verheißt; sie ist uns verborgen. Darum dürfen die Gottlosen in diesem Leben erst einen Teil ihrer Strafen erhalten, und Gott muss die Verdammnis, die sie verdient haben, bis zum Jüngsten Tag aufschieben, da Jesus Christus die Welt vollkommen richten wird. Das aber vollzieht sich dann, wenn das Wort des Jesaja sich erfüllt: „Mir sollen sich alle Knie beugen und alle Zungen schwören“ (Jes 45, 23). Das geschieht wohl auch schon jetzt, aber nur zum Teil. Darum genügt es auch, dass er uns für jetzt nur erst einen Vorgeschmack davon gibt, dass er der Weltrichter ist. Gott „nimmt“ also den Menschen „ihr Recht weg“, wenn er sie so bestraft, als wären sie von ihm verworfen und als griffe er sie an wie seine Todfeinde. So meint es auch Hiob: sein Recht sei von ihm genommen, weil der Allmächtige seine Seele in Bitterkeit versetzt habe. Solange man nicht einsehen kann, warum Gott ihn also plagt, solange ist sein Recht gleichsam begraben, und man muss denken, er sei ein gottloser und fluchwürdiger Mensch. Aber er redet hier nach dem allgemeinen Urteil: er will nicht sagen, Gottes geheimer Rat sei ungerecht, sondern man müsse sich über die finstern Wolken, die das Licht verdunkeln, hinauf schwingen, sonst könne man Hiobs Gerechtigkeit nicht erkennen.
Es gibt also zweierlei Gerechtigkeit in Gott. Die gewöhnliche ist im Gesetz enthalten. Sie besteht darin, dass er, wenn es ihm gefällt, uns beisteht in der Not und um unser Heil besorgt ist, wenn wir ihn fürchten und ihm dienen. Denn wenn wir in seinem Gehorsam wandeln und ihn als unsern Vater ansehen, so sieht er uns auch als die Seinen an. Alle Gnadengeschenke also, die die Gläubigen in dieser Welt aus der Hand Gottes empfangen, wenn sie in seiner Furcht wandeln, sind gleichsam Bestätigungen dieser ordentlichen Gerechtigkeit im Gesetz. Gewiss, verdient haben wir es nie, dass Gott uns gnädig ist; denn was wir auch tun mögen, auch wenn sein Heiliger Geist uns leitet, so sind doch alle unsere Werke ganz sicher voller Flecken, und Gott könnte sie mit gutem Recht verwerfen. Was aber unsere Person angeht, so können wir auch nicht einen einzigen guten Gedanken fassen. Auch wenn Gott uns regiert und in uns wirkt, so ist doch immer etwas an uns zu tadeln, und wir mischen etwas von unserer Schwachheit unter die Gnade des Heiligen Geistes, so dass alles, was von uns ausgeht, befleckt ist. Von Verdienst vor Gott kann also keine Rede sein; gleichwohl aber verschont er uns, weil er uns berufen hat, und vergibt uns die Fehler, die unsrer Bereitwilligkeit zum Gehorsam beigemischt sind. Ja, den Gläubigen, die ihm und seinem Willen zu folgen versuchen, vergilt er ihren Dienst auch in dieser Welt und erklärt, dass ihm ihr Eifer gefällig und angenehm ist. So offenbart Gott also seine gewöhnliche Gerechtigkeit, wenn er den Seinen Gunst erzeigt, die ihm, soviel die Schwachheit des Fleisches es zulässt, vollkommen untertan sind. Ich meine nicht eine Vollkommenheit, die ohne jeden Tadel wäre, sondern eine völlige Aufrichtigkeit, wie auch die Heilige Schrift davon redet. Wenn dagegen Gott die Hurer, Diebe und Trunkenbolde bestraft, so verfährt er da auch nach seiner gewöhnlichen Gerechtigkeit.
Daneben aber sehen wir, dass auch die Frommen geplagt werden. Wie kommt das? Was ist die Ursache? Wir wissen es nicht und können nichts Gewisses darüber sagen: Gott behält sich die Ursache vor. Das hat also nichts mit der gewöhnlichen Gerechtigkeit zu tun, und man darf daraus keine gleichmäßige Regel machen. Es kommt vor, dass Gottlose mit lachendem Mund sterben und der Tod ihnen ist wie ein Traum. Wie kommt das? Oh, da darf man Gott nicht der Ungerechtigkeit zeihen und das Maul nicht gegen ihn aufreißen, sondern da sollen wir wissen: Es gibt eine Gerechtigkeit, die höher ist als unsere Vernunft, und deshalb muss uns die Ursache jetzt verborgen bleiben. Gleichwohl sollen wir nicht ablassen, seine geheimen Gerichte anzubeten und uns ihm zu unterwerfen in der Erwartung, dass er uns einst offenbaren wird, was er jetzt gleichsam in einem geheimen Ratschluss sich vorbehält. So „verbirgt“ Gott „das Recht“ der Menschen: er lässt es nicht deutlich in die Erscheinung treten, dass er sie als seine Kinder anerkennt und dass er ihnen ihre Sünden vergeben hat – gleichwohl ist es so, obwohl wir´s nicht wahrnehmen können.
Auch dann behält sich Gott das Urteil vor, wenn er zulässt, dass die Menschen übel von uns reden. Darum steht geschrieben: „Er wird deine Gerechtigkeit hervorbringen wie das Licht und dein Recht wie den Mittag“ (Psalm 37, 6). Das soll nicht heißen, diese Verheißung müsse sich in allen Fällen buchstäblich und sichtbar erfüllen. Selbst der hl. Paulus, der doch in einer engelgleichen Vollkommenheit wandelte, erklärt, wie er darunter zu leiden hat, dass er vielen Lästerungen ausgesetzt ist, nicht nur in seinem Privatleben, sondern auch in seinem Dienst, wo er doch so treu und rein die christliche Lehre vorgetragen. Nun, er beruft sich dabei auf den Tag des Herrn, der einmal aufleuchten wird. Wenn Gott also nicht sogleich zur Verteidigung der Seinen hervortritt, sondern uns der Verleumdung der Menschen überlässt, so kann man sagen: Er „nimmt das Recht weg“.
Deshalb aber sollen wir ihn nichtsdestoweniger allezeit als unsern Gott festhalten und uns demütigen unter seine Majestät, wie Hiob sagt: Gott lebt! Er verfährt also nicht wie ein störrisches Pferd, und wiewohl er zwiefache Angst aussteht, so erkennt er doch wohl, dass Gott volle Macht und Gewalt über ihn hat. Denn er würde sich nicht so ausdrücken: Gott lebt, wenn er ihm damit nicht huldigen wollte: Herr, ich bin deine arme Kreatur, aber du hast alle Macht über mich.
Hiob fährt fort: Solange mein Atem währt, sollen meine Lippen nichts Unrechtes reden und meine Zunge keinen Betrug vorbringen. Er bekennt also, dass er sein Leben nicht ohne die Gnade Gottes hat. Das hat er nicht gesagt, als er noch herrlich und in Freuden lebte, sondern als er in großer Trübsal war. Gleichwohl huldigt er ihm mit dem Bekenntnis, dass er ihm sein Leben verdankt. Sooft wir an unser Leben denken, müssen wir Hiob dies Bekenntnis nachsprechen: Aus meiner eigenen Kraft habe ich weder Odem noch Geist in mir; Gott ist es, der mir das alles gibt. Wenn Hiob hier vom Geist Gottes redet, so ist das nicht so zu verstehen, als hätten die Menschen den Geist Gottes nach seiner eigentlichen Wesenheit in sich. Wir müssen genau auf die Redeweise der Schrift achten, damit wir nicht dem Irrtum verfallen, der Geist Gottes sei wesenhaft in uns. Denn daraus würde folgen, der Geist Gottes sei der Unwissenheit unterworfen, er sei veränderlich und beweglich, ja mit unsern Sünden und Lastern behaftet und befleckt. Gerade diese Lehre hat in der christlichen Kirche große Verwirrung angerichtet, wie denn auch der unselige Irrlehrer, der hier hingerichtet ist, die Lehre ersonnen hat, die Seelen der Menschen hätten am Wesen Gottes Anteil, und das ist eine abscheuliche und widernatürliche Behauptung. Hiob redet hier nicht vom Geist Gottes, als wäre sein Wesen in uns, sondern von dem Geist, den Gott uns einbläst durch seine Kraft. Die Sonne bleibt am Himmel, und ihre Strahlen kommen bis zu uns herab, so dass wir ihres Lichts und ihrer Wärme genießen; darf man aber deshalb sagen, wir hätten die Sonne hienieden? Sollte er von seiner unbegreiflichen Kraft nicht etwas auf uns ausgießen können, ohne dass wir indessen seines Wesens teilhaftig werden? Müssen wir aber in den Dingen des gegenwärtigen Lebens die Gnade Gottes wahrnehmen, so müssen wir umso mehr das, was zum unsterblichen Leben gehört, in ihm suchen. Dazu beruft er uns und heißt uns nach demselben trachten, bis er uns von allen Fesseln und Hemmungen des gegenwärtigen Lebens erlöst hat.