Calvin, Jean - Der erste Brief des Apostels Johannes - Kapitel 2.
V. 1. Meine Kindlein, solches schreibe ich euch usw. Es ist dies nicht nur eine Wiederholung der vorhergehenden Lehre, sondern sozusagen die Summe des ganzen Evangeliums. Wir sollen uns von Sünden fernhalten und dürfen, obwohl wir immer dem Gerichte Gottes verhaftet sind, doch gewiss sein, dass Christus mit dem Opfer seines Todes für uns eintritt, um den Vater gnädig zu stimmen. Der Apostel tritt aber auch einem etwaigen Einwurf entgegen; keiner soll denken, er gebe Erlaubnis zum Sündigen, indem er die Gnade Gottes verkündigt und lehrt, sie sei für alle da. Er verbindet also zwei Seiten des Evangeliums, welche die Späteren getrennt und dadurch das Evangelium verletzt und verstümmelt haben. Übrigens ist die Lehre von der Gnade immer den Verleumdungen der Gottlosen zum Opfer gefallen. Wenn der Satz aufgestellt wird, dass in Christus die Sühne der Sünden ist, so behaupten sie, dadurch werde Freiheit zum Sündigen gewährt. Um diesen Übelständen zu begegnen, bezeugt der Apostel zuerst, das sei das Ziel seiner Lehre, dass die Menschen aufhören zu sündigen. Indem er schreibt: auf dass ihr nicht sündiget, will er nur dies, dass sie sich, soweit es bei der menschlichen Schwäche möglich ist, von Sünden fernhalten. Und zwar zielt er darauf, dass wir Gott gleich seien, was ich ja schon bei der Gemeinschaft mit Gott behandelt habe. Inzwischen schweigt er auch nicht über die freie Vergebung der Sünden, weil, wenn auch der Himmel einstürzt und alles drunter und drüber geht, dieser Teil der Lehre niemals verschwiegen werden darf, vielmehr klar und bestimmt verkündigt werden muss. So müssen auch wir heute handeln. Weil das Fleisch zur Zügellosigkeit geneigt ist, müssen die Menschen eifrig daran gemahnt werden, dass die Gerechtigkeit und das Heil uns durch den Tod Christi deshalb erworben wurden, dass wir Gottes heiliges Eigentum seien. Da es aber zutrifft, dass viele Gottes Gnade frech missbrauchen und auch viele Hunde uns verleumderisch als solche hinstellen, die den Sünden die Zügel lockern, so muss man tapfer fortfahren, die Gnade Christi geltend zu machen, in der Gottes Herrlichkeit am hellsten strahlt und das ganze Heil der Menschen beruht. Verachten muss man, sage ich, jenes Gebell der Gottlosen, von dem, wie wir sehen, auch die Apostel angefallen worden sind. Deshalb lässt Johannes sofort das zweite Glied folgen, Christus sei unser Fürsprecher, wenn wir gesündigt haben. Durch dies Wort bekräftigt er, was wir schon vorher hörten. Es liegt nämlich, obwohl wir weit entfernt sind von der vollkommenen Gerechtigkeit, ja sogar täglich neue Schuld hinzufügen, doch das Mittel auf der Hand, Gott zu versöhnen, wenn wir zu Christus unsere Zuflucht nehmen. Und das ist das Einzige, worin die Gewissen Ruhe finden, worin die Gerechtigkeit der Menschen besteht, worin die Hoffnung des Heils begründet ist. Statt: „und ob jemand sündigt“, müssen wir tatsächlich sagen: weil wir sündigen – denn es ist ausgeschlossen, dass jemand nicht sündigt. Endlich deutet Johannes an, dass wir durchs Evangelium nicht nur von den Sünden zurückgerufen werden, weil Gott uns darin zu sich einladet und den Geist der Wiedergeburt anbietet, sondern dass auch für die elenden Sünder gesorgt wird, dass sie immer einen gnädigen Gott haben, und dass die Sünden, deren sie sich schuldig machen, kein Hindernis ihrer Gerechtigkeit sind: haben sie doch einen Mittler, der sie mit Gott versöhnt. Ferner, da er zeigen will, wie wir bei Gott zu Gnaden kommen, bezeichnet er Christus als unseren Fürsprecher. Denn dazu erscheint er vor dem Angesicht Gottes, um die Kraft seines Opfers für uns geltend zu machen. Damit dies besser verstanden werde, will ich noch deutlicher reden. Die Fürsprache Christi ist die beständige Geltendmachung seines Todes zu unserm Heil. Dass uns also Gott die Sünden nicht zurechnet, kommt daher, dass er die Fürsprache Christi berücksichtigt. Übrigens passen diese beiden Titel, mit denen der Apostel nunmehr Christus schmückt, trefflich zu der Eigentümlichkeit dieser Stelle. Er sagt von ihm, dass er gerecht ist, und nennt ihn die Sühne für unsere Sünden. Beides muss er sein, um das Amt und die Rolle eines Fürsprechers zu verwalten. Welcher Sünder könnte uns die Gnade Gottes zuwenden? Deshalb werden wir ja gerade alle vom Zutritt zu Gott abgehalten, weil keiner rein und frei von Sünde ist. Niemand anders ist daher ein geeigneter Priester als einer, der unschuldig ist und von den Sündern abgesondert, wie wir auch im Hebräerbrief (7, 26) lesen. Er ist die „Sühne“, wird hinzugefügt, weil niemand ohne Opfer ein rechter Priester ist. Daher betrat unter dem Gesetz der Priester niemals das Heiligtum, ohne dass ihm das Blut voranging. Und nach Gottes Ordnung pflegte zu den Gebeten ein Schlachtopfer als feierliches Siegel gefügt zu werden. Dadurch wollte Gott bezeugen, dass, wer für uns Gnade erlangen will, mit einem Opfer versehen sein muss. Denn wo Gott beleidigt wurde, da ist zu seiner Versöhnung eine genugtuende Zahlung erforderlich. Daraus folgt, dass alle Heiligen der Vergangenheit und Zukunft einen Fürsprecher nötig haben, und dass niemand anders als Christus diesem Amte gewachsen ist. Sicher legt Johannes diese beiden Beiworte – „gerecht“ und „Sühne“ – Christo bei, um zu zeigen, dass er der einzige Fürsprecher ist. Wie uns aber ein herrlicher Trost daraus erwächst, dass wir hören, Christus sei nicht nur einmal gestorben, um uns den Vater zu versöhnen, sondern er trete beständig für uns ein, damit uns in seinem Namen der Zugang zu Gott offenstehe, dass unsere Bitten erhört werden, so muss man sich auch sehr hüten, dass man nicht die Ehre, die ihm allein gebührt, einem andern überträgt. Und doch wissen wir, dass unter dem Papsttum dies Amt unterschiedslos den Heiligen zuerteilt worden ist. Noch vor dreißig Jahren*) war dieses so herrliche Kapitel unseres Glaubens, dass Christus der Fürsprecher ist, fast begraben. Heute geben sie zu, er sei einer von vielen, aber nicht der einzige. Diejenigen unter den Papisten, die ein wenig mehr Ehrfurcht vor Christus haben, leugnen nicht, dass er unter allen Fürsprechern hervorragt, aber sie gesellen ihm doch eine große Schar anderer bei. Und doch lauten die Worte klar: nur der kann Fürsprecher sein, der zugleich Priester ist. Das Priestertum aber kommt allein Christo zu. Die gegenseitigen Fürbitten der Heiligen, durch die sie sich ihre Liebe beweisen, heben wir nicht auf; aber das hat nichts zu tun mit den Verstorbenen, die aus der menschlichen Gesellschaft ausgeschieden sind, auch nichts mit jenen Schirmherren, die sie sich erdichten, um nicht allein Christi Schützlinge zu sein. Obwohl Brüder für Brüder beten, so schauen doch alle ohne Ausnahme nur einen Schirmherren. Es ist daher kein Zweifel, dass die Papisten so viele Götzen Christo gegenüberstellen, so viele Schirmherren sie sich erdichten. Hinwiederum wollen wir auch kurz den rohen Irrtum beiseiteschieben, als klammere sich Christus an die Knie des Vaters, um für uns zu bitten. Solche Einbildungen muss man aufgeben, da sie der göttlichen Herrlichkeit Christi zu nahe treten; man muss die einfache Lehre festhalten, dass die Frucht seines Todes immer neu für uns vorhanden ist, weil er mit seiner Fürbitte den Vater uns gnädig stimmt und unsere Bitten sowohl durch den süßen Geruch seines Opfers heiligt als auch durch die Gnade seiner Schirmherrschaft unterstützt.
Nicht allein für die unsern usw. Dies fügt der Apostel hinzu, damit die Gläubigen fest überzeugt seien, die Sühne, die Christus zustande gebracht, erstrecke sich auf alle, die das Evangelium im Glauben ergriffen haben. Hier entsteht die Frage, wie die Sünden der ganzen Welt gesühnt werden. Ich übergehe die wahnwitzige Ansicht derer, die auf Grund solcher Stellen alle Verworfenen und sogar den Satan selbst zum Heil gelangen lassen. Solche Ungeheuerlichkeit bedarf keiner Widerlegung. Die solche Torheit vermeiden wollten, haben gesagt, das Leiden Christi sei genugsam für die ganze Welt, werde aber bloß für die Auserwählten wirksam. Diese Erklärung ist ziemlich allgemein angenommen. Ich gestehe, dass dieser Gedanke an sich wahr ist, behaupte aber, dass er zu dieser Stelle nicht passt. Die Absicht des Johannes war keine andere, als der ganzen Gemeinde dies Gut der Sühne zuzusprechen. Also schließt er in den Ausdruck „ganze Welt“ die Verworfenen nicht mit ein, vielmehr bezeichnet er damit die, die einmal gläubig werden sollten und die durch die ganze Welt zerstreut sind. Dann wird die Gnade Christi in das rechte Licht gestellt, wenn gepredigt wird, dass es für die Welt nur ein Heil gebe.
V. 3. Und an dem merken wir usw. Nachdem der Apostel die Lehre von der freien Vergebung der Sünden behandelt hat, kommt er wieder zu Ermahnungen, die darauf Bezug haben. Zuerst erinnert er daran, dass die Kenntnis Gottes, die aus dem Evangelium geschöpft wird, nicht müßig ist, sondern aus sich heraus den Gehorsam gebiert. Hernach zeigt er, was Gott hauptsächlich von uns fordert, was die Hauptsache im Leben ist, nämlich dass wir Gott lieben. Was wir hier über die lebendige Erkenntnis Gottes lesen, das wiederholt die Schrift nicht ohne Grund immer wieder. Denn in der Welt ist nichts anders mehr gang und gäbe, als die Lehre, die zur Gottseligkeit dienen sollte, in frostige Spekulationen zu verwandeln. Johannes betont also, dass die Erkenntnis Gottes wirksam ist. Daraus schließt er, dass die Gott gar nicht kennen, die seine Gebote nicht beachten. Wie kannst du Gott erkennen, ohne ergriffen zu werden? Aus Gottes Natur ergibt sich nur, dass wir ihn lieben, wenn wir ihn kennen; vielmehr, derselbe Geist, der unsere Gedanken erleuchtet, flößt auch unseren Herzen seine Stimmung ein, die der Erkenntnis entspricht. Die Erkenntnis Gottes bringt das mit sich, dass wir ihn fürchten und lieben. Wir können ihn nicht als Herrn und Vater erkennen, ohne dass wir uns ihm als willfährige Söhne und gehorsame Knechte darbieten. Kurz, die Lehre des Evangeliums ist ein lebendiger Spiegel, in dem wir Gottes Bild beschauen und dadurch in dasselbe umgebildet werden, wie Paulus 2. Kor. 3, 18 lehrt. Wo deshalb kein reines Gewissen ist, da kann nur ein Schatten von eitlem Wissen vorhanden sein. Zu beachten ist hier auch die Reihenfolge, wenn der Apostel sagt: daran merken wir, dass wir ihn kennen, so wir seine Gebote halten. Er deutet an, dass der Gehorsam gegen Gott so mit der Erkenntnis verbunden ist, dass diese doch der Reihenfolge nach die erste bleibt, wie ja die Ursache der Wirkung vorangehen muss.
So wir seine Gebote halten. Aber es gibt niemand, der sie in allen Teilen hält! Also ist auch keine Erkenntnis Gottes in der Welt? Ich antworte, dass der Apostel keineswegs mit sich im Widerspruch steht. Da er alle als schuldig vor Gott hingestellt hat, so versteht er unter „Gottes Gebote halten“ nicht „dem Gesetz ganz und gar Genüge leisten“ (das kommt nirgends in der Welt vor); vielmehr die halten Gottes Gebote, die, soweit es bei der menschlichen Schwachheit möglich ist, ihr Leben zum Gehorsam gegen Gott zwingen. So oft die Schrift von der Gerechtigkeit der Gläubigen redet, schließt sie die Vergebung der Sünden so wenig aus, dass sie vielmehr mit ihr den Anfang macht. Darum soll man auch nicht schließen, dass der Glaube auf den Werken beruht. Denn obwohl ein jeder an den Werken ein Zeugnis des Glaubens hat, so folgt daraus doch nicht, dass er auf ihnen beruht, vielmehr folgen die Werke als Beweis dem Glauben nach. Die Gewissheit des Glaubens ruht daher allein auf der Gnade Christi; die Frömmigkeit aber und Heiligkeit des Lebens unterscheidet den wahren Glauben von einer eingebildeten und toten Erkenntnis Gottes.
V. 4. Wer da sagt: Ich kenne ihn usw. Womit beweist der Apostel, dass die Leute lügen, die mit dem Glauben prahlen ohne Frömmigkeit? Mit dem Gegenteil, da er ja schon den Satz aufgestellt hat, dass die Erkenntnis Gottes etwas Wirksames sei. Gott wird ja nicht durch bloße Einbildung erkannt, vielmehr nur dann, wenn er sich unseren Herzen durch den Geist innerlich offenbart. Da viele Heuchler mit dem bloßen Titel der Gläubigkeit sich großtun, so verurteilt der Apostel solche als Lügner. Was er sagt, würde überflüssig sein, wenn nicht in vielen Menschen ein falsches und leeres Bekenntnis zum Christentum sich vorfände.
V. 5. Wer aber sein Wort hält usw. Der Apostel setzt jetzt auseinander, was das rechte Halten des Gesetzes Gottes ist, nämlich Gott lieben. Diese Stelle wird meines Erachtens von denen verkehrt ausgelegt, die hier den Sinn finden: wer Gottes Wort hält, der gefällt ihm in Wahrheit. Ich ziehe die Auslegung vor: seine Gebote halten, das heißt Gott aus lauterem Herzen lieben. Der Apostel will ja, wie gesagt, kurz auseinandersetzen, was Gott von uns fordert und worin die Heiligkeit der Gläubigen beruht. Dasselbe pflegte auch Mose zu sagen, wenn er die Summe des Gesetzes ausdrücken wollte (5. Mose 10, 12): „Nun, Israel, was verlangt der Herr anderes von dir, als dass du ihn fürchtest und liebst und in seinen Geboten wandelst? Ebenso (5. Mose 30, 19 f.): Erwähle das Leben, nämlich dass du den Herrn, deinen Gott, liebst, ihm dienst und anhängst. Denn das Gesetz, das geistlich ist, gibt nicht nur Vorschriften über äußere Werke, vielmehr legt es uns das besonders ans Herz, dass wir Gott von ganzem Herzen lieben sollen. Dass der Liebe zu den Menschen hier keine Erwähnung getan wird, darf man nicht für verkehrt halten. Denn aus der Liebe zu Gott fließt beständig die brüderliche Liebe, wie wir hernach sehen werden. Wer daher wünscht, dass sein Leben Gott gefalle, der muss es ganz auf dies Ziel hinrichten. Wenn jemand entgegnet, es sei nie jemand gefunden worden, der Gott so vollkommen liebte, so erwidere ich: es genügt, wenn ein jeder nach dem Maß der ihm gegebenen Gnade nach dieser Vollkommenheit strebt. Übrigens steht die Begriffsbestimmung fest, dass vollkommene Liebe zu Gott das rechte Halten seines Wortes ist. Darin, sowie in seiner Erkenntnis fortzuschreiten, ziemt sich für uns.
Daran erkennen wir, dass wir in ihm sind. Die Rede kehrt nun zu jener vorher bereits erwähnten Frucht des Evangeliums zurück, nämlich der Gemeinschaft mit Gott und seinem Sohne. Wenn es das Ziel des Evangeliums ist, dass wir mit Gott Gemeinschaft haben, es aber keine Gemeinschaft ohne Liebe geben kann, so wird niemand rechte Fortschritte im Glauben machen als nur der, der Gott von Herzen anhängt.
V. 6. Wer da sagt, dass er in ihm bleibt usw. Wie der Apostel uns vorher an die Lichtnatur Gottes erinnert hat, so ruft er uns jetzt zu Christus, dass wir seine Nachfolger seien. Übrigens mahnt er nicht einfach zur Nachfolge Christi, vielmehr legt er dar, dass wir wegen der Gemeinschaft, die wir mit ihm haben, ihm ähnlich sein müssen. Die Ähnlichkeit des Lebens und der Werke, sagt er, wird dartun, dass wir in Christus bleiben. Mit diesen Worten bahnt er sich den Übergang zu den folgenden Auseinandersetzungen über die Bruderliebe.
V. 7. Brüder, ich schreibe euch nicht ein neues Gebot. Jetzt folgt eine Ausführung der vorhergehenden Lehre, nämlich dass Gott lieben heißt: seine Gebote halten. Nicht ohne Grund verweilt die Rede länger bei diesem Punkt. Zunächst wissen wir, dass die Neuheit immer verhasst und verdächtig ist. Sodann nehmen wir nicht leicht ein ungewohntes Joch auf. Endlich, wenn wir einen gewissen Punkt der Lehre erfasst haben, so ist es uns lästig, wenn daran etwas geändert oder erneuert wird. Deshalb erinnert Johannes daran, dass er über die Liebe nur das lehre, was die Gläubigen von Anfang an gehört haben und was sich schon fest eingewurzelt hat. Andere legen den Hinweis auf das „alte“ Gebot anders aus, nämlich dass Christus im Evangelium keine andere Lebensregel aufstelle als Gott von alters her im Gesetz. Das ist sehr richtig. Ich streite auch nicht dagegen, dass der Apostel in diesem Sinne hernach das Wort des Evangeliums ein altes Gebot nennt. Aber ich meine, dass er jetzt nur sagen will: es handelt sich um die ersten Grundsätze des Evangeliums, so seid ihr von Anfang an unterrichtet worden. Es ist also kein Grund vorhanden, warum ihr das als etwas Ungewohntes fliehen solltet, womit ihr schon längst vertraut sein müsstet. „Alt“ nennt der Apostel hier also das Gebot nicht, weil es vor vielen Jahrhunderten den Vätern überliefert wurde, sondern weil die Leser darin unterrichtet worden sind von ihrem ersten Bekanntwerden mit der Religion an. Das trägt aber viel bei, ihm Glauben zu verschaffen, weil die Leser sich sagen müssen: es stammt von demselben Christus, von dem wir das Evangelium haben.
Das alte Gebot ist das Wort, das ihr von Anfang gehört habt. Hier dürfte die Bezeichnung als „altes Gebot“ umfassender verstanden werden müssen. Die Rede lautet voller, etwa in dem Sinne: Das Wort, das ihr von Anfang gehört habt, ist ein altes Gebot. Meines Erachtens will Johannes zu verstehen geben, das Evangelium dürfe nicht gleichsam als eine gestern geborene Lehre aufgenommen werden. Vielmehr, weil es von Gott ausgegangen ist, ist seine Wahrheit ewig. Es ist, als wollte er sagen: Ihr dürft das Alter des Evangeliums nicht nach dem Zeitraum bemessen, seitdem es euch gebracht worden ist; es ist ja in demselben euch der ewige Wille Gottes offenbart worden. Gott hat diese Lebensregel nicht bloß euch überliefert, als ihr zum Glauben an Christus berufen seid, vielmehr war dieselbe immer als fest und bewährt bei ihm vorhanden. Sicher darf das erst als alt geschätzt werden und verdient Glauben und Verehrung, was seinen Ursprung in Gott hat. Denn die Gebilde der Menschen, wenn sie auch noch so viele Jahre alt sind, werden nicht so viel Ansehen erlangen, dass sie die Wahrheit Gottes verschütten.
V. 8. Wiederum ein neues Gebot schreibe ich euch. Die Ausleger scheinen mir den Sinn des Apostels nicht getroffen zu haben. Neu nennt er nämlich das, was Gott täglich anrät und so gewissermaßen immer wieder neu macht, damit sich die Gläubigen ihr ganzes Leben darin üben, weil sie nichts Trefflicheres erstreben können. Die Anfangsgründe, welche die Knaben lernen, machen hernach einem tieferen und umfassenderen Unterricht Platz. Johannes hingegen leugnet, dass die Lehre von der Bruderliebe derart sei, dass sie mit der Zeit veralte, vielmehr habe sie beständig Geltung, so dass das letzte Ende ebenso sei wie der erste Anfang. Es war nötig, dass das hinzugefügt wurde, weil die Menschen, mehr als gut ist, an einer falschen Wissbegierde leiden und deshalb ein guter Teil von ihnen immer etwas Neues eifrig erstrebt. Daher kommt der Ekel vor einfacher Lehre, der eine Unmenge von Irrtümern gebiert, dass ein jeder immer wieder nach neuen Geheimnissen trachtet. Wo aber das feststeht, dass der Herr in dem alten Tone immer fortfährt, damit er uns bei dem, was wir gelernt haben, das ganze Leben festhält, da ist solchen Begierden ein Zügel angelegt. Wer daher an das Ziel der Weisheit gelangen will, sofern es sich um die rechte Einrichtung des Lebens handelt, der soll in der Liebe Fortschritte machen.
Das da wahrhaftig ist. In diesem einen Gebot der Liebe, das auf die Einrichtung des Lebens zielt, besteht die ganze Wahrheit Christi. Was für eine andere, höhere Offenbarung ist denn zu erwarten? Denn Christus ist das Ziel aller Dinge. „Wahrhaftig“ bedeutet sozusagen einen Zustand, über den hinaus es nichts gibt, d. h. es gibt nichts Höheres als das Gebot der Liebe; das Gebot der Liebe ist die absolute Wahrheit. Dass es in diesem Sinne wahrhaftig ist bei ihm und bei euch, deutet auf eine Verbindung Christi mit den Seinen wie des Hauptes mit den Gliedern. Die Meinung ist: der Leib der Gemeinde hat keine andere Vollkommenheit, oder ihr seid erst dann wirklich mit Christus vereinigt, wenn eine heilige Liebe unter euch im Schwange geht. Andere legen es anders aus: was bei Christus Wahrheit ist, das ist es auch bei euch. Aber ich sehe nicht ein, worauf das zielen soll.
Denn die Finsternis vergeht. Die Zeitform der Gegenwart steht für die der Vergangenheit. Der Apostel meint nämlich, dass wir den vollen Glanz der Einsicht haben, sobald Christus aufgeht. Nicht als ob ein jeder Gläubige gleich vom ersten Tage an so viel Einsicht hätte, wie nötig ist (auch Paulus sagt Phil. 3, 12, dass er dem nachjage, das er noch nicht ergriffen habe), aber die Erkenntnis Christi genügt allein zur Verscheuchung der Finsternis. Also sind täglich Fortschritte nötig, und eines jeden Glaube hat zuerst seine Morgenröte und dann erst seine Mittagshöhe. Weil aber Gott dieselbe Lehre immer fortführt und uns befiehlt, in ihr Fortschritte zu machen, so wird die Erkenntnis des Evangeliums mit Recht das wahre Licht genannt, da Christus als die Sonne der Gerechtigkeit aufgeht. So wird der Frechheit der Menschen der Weg versperrt, welche die Reinheit des Evangeliums mit ihren Erdichtungen zu verderben suchen; und es ist geboten, die ganze Theologie des Papstes zu verdammen, die dies wahre Licht ganz und gar verdunkelt.
V. 9. Wer da sagt, er sei im Licht usw. Der Apostel erklärt die Liebe für die einzige Regel, nach der das Leben einzurichten ist; er sagt ferner, dies Gesetz werde uns im Evangelium vorgeschrieben; er sagt endlich: dort ist sozusagen das Mittagslicht, das unsere Augen fesseln muss. Nun schließt er, dass alle die blind sind und in der Finsternis irren, die von der Liebe fern sind. Dass er aber vorhin von der Liebe zu Gott redete und jetzt von der Liebe zu den Brüdern, das ist kein Widerspruch, oder höchstens der Widerspruch, der zwischen Ursache und Wirkung besteht; Liebe zu Gott und zu den Brüdern sind so miteinander verbunden, dass sie nicht auseinander gerissen werden können. Johannes sagt hernach, im 3. Kapitel, dass wir uns fälschlich der Liebe zu Gott rühmen, wenn wir den Nächsten nicht lieben, - und das ist sehr wahr. Jetzt aber nimmt er die Liebe zum Nächsten gleichsam als ein Zeugnis dafür, dass Gott von uns geliebt wird. Kurz, da die Liebe so auf Gott schaut, dass sie in Gott die Menschen umfasst, so liegt darin nichts Törichtes, dass der Apostel bei seinen Erörterungen über die Liebe bald an Gott, bald an die Brüder denkt. Und das ist überhaupt der Gebrauch der Schrift. Oft wird die ganze Vollkommenheit des Lebens in die Liebe zu Gott gesetzt; hinwiederum lehrt Paulus (Röm. 13, 8): der erfülle das ganze Gesetz, der den Nächsten liebt; und Christus (Mt. 23, 23) verkündigt: die Hauptpunkte des Gesetzes seien Gerechtigkeit, Gericht und Wahrheit. Beides ist wahr und passt sehr gut zueinander: die Liebe zu Gott leitet uns an, die Menschen zu lieben; anderseits bezeugen wir unsere Ehrfurcht gegen Gott dadurch, dass wir die Menschen nach seinem Befehl lieben. Was es auch sei, das muss immer festbleiben, dass die Liebe das Ziel ist, nach dem wir unser Leben zu richten haben. Das muss man sich umso gewisser merken, weil jedermann alles Mögliche lieber erwählt als dies einzige Gebot Gottes. Eben darauf bezieht sich das, was folgt: und ist kein Ärgernis bei ihm, nämlich da, wo Streben nach der Liebe ist; wer sein Leben so gestaltet, der wird ja nie anstoßen. –
V. 11. Wer aber seinen Bruder hasst usw. Johannes erinnert wiederum daran, dass alles, auch die größte Tugend, fehlerhaft ist, wo die Liebe fehlt. Diese Stelle möge mit 1. Kor. 13 verglichen werden; sie bedarf keiner langen Auslegung. Übrigens ist der Welt diese Lehre so unbekannt, weil ein guter Teil in, ich weiß nicht, was für Torheiten erstarrt ist. Die erdichtete Heiligkeit hat fast allen die Augen abgestumpft, so dass die Liebe inzwischen vernachlässigt daliegt oder in den äußersten Winkel geworfen wird.
V. 12. Lieben Kindlein, ich schreibe euch. Der Apostel redet hier nicht nur das zarte Alter an, vielmehr versteht er unter „Kindlein“ Menschen jeden Alters, wie schon zuvor und bald darnach (2, 1. 18). Das sage ich deshalb, weil die Ausleger den Ausdruck „Kindlein“ unrichtigerweise nur auf kleine Kinder beziehen. Johannes aber braucht, wenn er von kleinen Kindern redet, einen anderen Ausdruck; hier aber nennt er gleichsam als geistlicher Vater alle „Kindlein“, Greise sowohl als auch kleine Kinder. Sodann erst (V. 13) wendet er sich an die einzelnen Altersstufen. Jetzt schärft er für die ganze Gemeinde, damit die vorangehende Ermahnung die unverdiente Vergebung der Sünden nicht verdunkle, die dem Glauben eigentümliche Lehre noch einmal ein, - wie man denn ganz gewiss immer an dem Fundament halten muss, dass unser Heil allein auf der Gnade Christi ruht. Gewiss, die Heiligkeit des Lebens muss betont werden, eifrig muss man an die Furcht Gottes erinnern, entschieden müssen die Menschen zur Reue getrieben werden, gepriesen werden muss das neue Leben mit seinen Früchten: immer aber muss man sich hüten, dass die Lehre vom Glauben nicht erstickt werde, die Christus als den alleinigen Urheber des Heils und aller Güter hinstellt; es muss immer die Mäßigung beobachtet werden, dass der Glaube die erste Stelle behält. Dies Gesetz schreibt Johannes uns vor. Er ruft uns, nachdem er eifrig von den guten Werken gepredigt hat, so angelegentlich zur Gnade Christi zurück, damit es nicht scheine, als lege er den guten Werken mehr Gewicht bei, als man darf.
Die Sünden sind euch vergeben. Ohne diese Zuversicht gibt es nur eine haltlose und müßige Frömmigkeit. Ja, wenn man die freie Vergebung der Sünden hintansetzt und auf andere Punkte viel Gewicht legt, baut man ohne Fundament. Johannes deutet an, dass nichts geeigneter ist, die Menschen zur Furcht Gottes zu reizen, als wenn sie recht gelehrt sind, was für Güter Christus ihnen gebracht hat. Daraus erhellt, wie gottlos die Verleumdung der Papisten ist, die vorgeben, der Eifer zum Guten erkalte, wenn das hervorgehoben wird, was allein gehorsame Gotteskinder macht. Denn daher nimmt der Apostel die Grundlage zum Ermahnen, dass wir wissen: Gott ist uns so wohlwollend, dass er die Sünden nicht anrechnet.
Durch seinen Namen. Der Grund der Sündenvergebung wird hinzugefügt, damit wir nicht andere Hilfsmittel suchen, die uns mit Gott versöhnen. Es ist nicht genug, festzuhalten, dass Gott uns die Sünden vergibt, vielmehr müssen wir geradeswegs zu Christus kommen und zu jenem Lösegeld, welches er am Kreuz für uns bezahlt hat. Und das ist umso mehr zu beachten, als wir sehen, dass der Satan durch seine List und schlechte Menschen durch allerhand Erdichtungen diesen Weg versperren. Durch mancherlei Genugtuungen versuchen törichte Menschen, Gott zu versöhnen, und unzählige Arten von Sühne denken sie sich aus, um sich zu erlösen. Denn je mehr Mittel wir erfinden, um Vergebung zu verdienen, umso mehr Hindernisse türmen wir auf, die uns vom Zugang zu Gott abhalten. Darum fügt Johannes, nicht zufrieden mit dieser einfachen Lehre, dass Gott uns die Sünden vergibt, ausdrücklich hinzu, Gott sei uns gnädig im Blick auf Christus, um alle andern Gründe auszuschließen. Auch wir sollen, um diese Wohltat zu genießen, alle andern Namen beiseitelassen und vergessen und allein den Namen „Christus“ umfassen.
V. 13. Ich schreibe euch Vätern. Nun kommt der Apostel zur Aufzählung der verschiedenen Lebensalter, um zu zeigen, dass seine Lehre jeden einzelnen angeht. Die allgemeine Rede macht ja bisweilen wenig Eindruck; ja, es gibt bei unserer Bosheit wenige, die meinen, es gehe sie speziell an, was an alle zugleich gerichtet wird. Die Greise meinen meist, sie hätten das Alter zum Lernen überschritten; die Kinder weigern sich zu hören, weil sie noch nicht reif genug seien; Leute in mittlerem Alter haben so viel zu tun, dass sie dafür keinen Sinn haben. Damit also keiner sich ausnehme, passt der Apostel das Evangelium dem Bedürfnis der einzelnen an. Er bezeichnet aber drei Altersstufen. Diese Einteilung des menschlichen Lebens ist ja sehr gebräuchlich. So hatte auch der berühmte Chor der Lazedämonier drei Gruppen, von denen die erste sang: Was ihr seid, werden wir sein; die letzte: Was ihr seid, sind wir gewesen; die mittlere: Wir sind, was die einen gewesen sind und die andern sein werden. In diese drei Stufen teilt Johannes den menschlichen Lebenslauf. Er fängt mit den Greisen an und sagt: für sie passe das Evangelium, weil sie daraus den ewigen Sohn Gottes kennenlernen können. Bekannt ist das mürrische Wesen der Greise; besonders aber erweisen sie sich als ungelehrig, weil sie die Weisheit nach der Zahl der Jahre messen. Außerdem merkt Horaz1) mit Recht den Fehler bei ihnen an, dass sie die Zeit ihrer Jugend loben und alles verwerfen, was jetzt geschieht und gesagt wird. Diesem Fehler begegnet Johannes in kluger Weise, indem er erinnert, dass im Evangelium nicht bloß alte Weisheit enthalten sei, sondern vielmehr solche Weisheit, die uns bis zur Ewigkeit Gottes selbst führt; daraus folgt, dass hier nichts ist, gegen das sie Abneigung haben müssten. Wenn er sagt, Christus sei von Anfang gewesen, so bezieht sich das auf das göttliche Wesen Christi, vermöge dessen er gleich ewig ist wie der Vater. So sagt der Apostel (Hebr. 13, 8): Christus war gestern und ist heute. Johannes meint etwa: wenn ihr auf das Alter Gewicht legt, so habt ihr Christus, der älter ist als alles. Scheut euch nicht, dessen Schüler zu sein, der alle Jahrhunderte umfasst! Hier ist auch zu bemerken, was wirklich alte Religion ist, nämlich solche, die in Christus gegründet ist. Eine noch so lange Reihe von Jahren hat wenig Gewicht, wenn die Religion ihren Ursprung im Irrtum hat.
Ich schreibe euch Jünglingen. Diese Anrede wendet sich an alle, die in der Blüte des Lebens stehen. Wir wissen, dass diese Altersstufe so in die eitlen Sorgen der Welt verstrickt ist, dass sie kaum an das Reich Gottes denkt. Die Kraft des Geistes und die Stärke des Leibes macht sie fast trunken. Darum weist der Apostel sie darauf hin, wo wahre Kraft zu finden ist, damit sie nicht weiter nach Jugendart dem Fleische frönen. Ihr, sagt er, seid tapfer, weil ihr den Bösewicht überwunden habt. Sicher ist das die Tapferkeit, die man erstreben muss, nämlich die geistliche. Er sagt auch, dass dieselbe nirgend anders zu haben ist als bei Christus; er zählt ja die Güter auf, die wir aus dem Evangelium erlangen. Dass sie überwunden haben, sagt er nun von solchen, die jetzt noch mitten im Kämpfen sind. Die Lage ist eben bei uns eine ganz andere als bei Leuten, die unter menschlichen Fahnen zu Felde ziehen. Für diese ist der Kampf zweifelhaft und ebenso der Ausgang des Krieges. Wir sind schon Sieger, bevor wir mit dem Feind zusammengetroffen sind, weil unser Haupt, Christus, einmal die ganze Welt für uns besiegt hat.
V. 14. Ich schreibe euch Kindern. Die Kinder bedürfen fremder Leitung. Daher schließt der Apostel, dass das Evangelium ausgezeichnet für Kinder passe, weil sie dort einen Vater finden. Übrigens passt das, was der Apostel den einzelnen Altersstufen sagt, auch auf alle. Wir zerfließen gänzlich in Eitelkeit, wenn unsere Schwachheit nicht durch die ewige Wahrheit Gottes gestützt wird. Nichts ist zerbrechlicher und hinfälliger als wir, wenn die Kraft Christi nicht in uns wohnt. Wir sind alle verwaist, bis uns das Evangelium zur gnädigen Einsetzung in den Kindesstand führt. Was also der Apostel den Jünglingen sagt, das gilt auch den Greisen. Indessen wollte er den einzelnen besonders ans Herz legen, was ihnen besonders nötig ist; und er zeigt ihnen damit, dass alle ohne Ausnahme die Lehre des Evangeliums nötig haben.
Ich habe euch Jünglingen geschrieben. Dieser Wiederholungen halte ich für überflüssig. Es ist wahrscheinlich, dass unerfahrene Leser, indem sie fälschlich meinten, es werde zweimal von „Kindern“ gesprochen, die beiden andern Glieder dreist hinzugefügt haben. Es kann aber auch sein, dass Johannes selbst die Worte an die Jünglinge, um ihnen mehr Gewicht zu geben, zweimal geschrieben hat – an zweiter Stelle fügt er nämlich hinzu: ihr seid stark, was er an der ersten Stelle nicht gesagt hat – und dass die Abschreiber das andere von den Vätern hinzugefügt haben.
V. 15. Habt nicht lieb die Welt. Vorher hatte der Apostel es als die einzige Regel eines frommen Lebens bezeichnet, dass man Gott liebe; weil wir aber, von einer eitlen Liebe zur Welt besessen, alle unsere Sinne anderswohin wenden, so muss zuerst jene Eitelkeit aus uns herausgerissen werden, damit die Liebe zu Gott in uns regiere. Bevor die Herzen gereinigt sind, kann man jene Predigt von der Liebe zu Gott hundertmal wiederholen, ohne etwas auszurichten. Wenn man Wasser über eine Kugel ausgießen wollte, würde man ja auch keinen einzigen Tropfen sammeln, weil dort keine hohle Stelle ist, in welcher das Wasser aufgefangen werden könnte. Unter „Welt“ ist das ganze gegenwärtige Leben zu verstehen, sofern man es vom Reiche Gottes und von der Hoffnung des ewigen Lebens lostrennt. Dieser Begriff enthält alle Arten von Verderbnis in sich und einen Abgrund aller Übel. In der Welt sind alle Lüste, Genüsse und Reize, durch welche der Mensch sich gefangen nehmen und seinem Gott entziehen lässt. Die Liebe zur Welt wird deshalb so streng verdammt, weil wir notwendigerweise uns selbst und Gott vergessen müssen, sobald wir nichts anders als die Erde sehen. Wo eine solche verkehrte Begierde herrscht und den Menschen so umstrickt hält, dass er nicht an das himmlische Leben denkt, da ist tierischer Stumpfsinn.
So jemand die Welt lieb hat usw. Es ist durchaus notwendig, die Liebe zur Welt wegzuwerfen, wenn wir Gott gefallen wollen. Was „Welt“ im eigentlichen Sinne ist, das stimmt mit Gott durchaus nicht überein. Man muss festhalten, was ich eben sagte, dass der Ausdruck eine ungeheiligte Lebenshaltung beschreibt, die nichts mit dem Reiche Gottes gemein hat, wo die Menschen so entarten, dass sie, zufrieden mit dem gegenwärtigen Leben, nicht mehr an das ewige Leben denken, wie das stumme Vieh. Wer sich also derart den irdischen Begierden ergibt, der kann nicht Gottes sein.
V. 16. Des Fleisches Lust usw. Der genaueren Ausführung halber hat Johannes diese drei Punkte eingeschoben, um kurz zu zeigen, welches die Bestrebungen und welches die Gesinnungen derer sind, die für die Welt leben. Ob diese Einteilung vollständig und erschöpfend ist, ist nicht so wichtig; jedoch wird man keinen weltlichen Menschen finden, in dem nicht solche Begierden herrschen, oder wenigstens eine derselben. Es erübrigt noch zu untersuchen, was der Apostel unter jedem einzelnen Ausdruck versteht. Das erste Glied pflegt allgemein von allen sündigen Begierden ausgelegt zu werden, weil Fleisch die ganze verderbte Natur des Menschen bedeutet. Obwohl ich nicht streiten möchte, will ich doch nicht verhehlen, dass ich eine andere Auslegung vorziehe. Wenn Paulus Röm. 13, 14 verbietet, in einer solchen Weise für das Fleisch zu sorgen, dass Begierden wach gerufen werden, so scheint er mir der beste Ausleger dieser Stelle zu sein. Was heißt dort Fleisch? Der Leib und seine Bedürfnisse. Was ist also „des Fleisches Lust“ anders als das Bestreben der irdisch gesinnten Menschen, bequem und üppig zu leben und nur an den eigenen Vorteil zu denken? Johannes, dem das unordentliche Wesen des menschlichen Herzens wohl bekannt war, verdammt des Fleisches Lust, weil sie immer darauf aus ist, in Saus und Braus zu leben, und nie das rechte Maß zu halten weiß, hernach auch stufenweise zu ärgern Lastern fortschreitet. Der Augen Lust umfasst meines Erachtens sowohl lüsterne Blicke als auch die Eitelkeit, die an Pomp und eitlem Glanz ihre Freude findet. Endlich folgt noch hoffärtiges Leben, womit verbunden sind Ehrgeiz, Prahlerei, Verachtung anderer, blinde Selbstliebe, verwegenes Selbstvertrauen. Kurz, sobald die Welt sich uns darbietet, reißt sie, weil unser Herz verkehrt ist, unsere Begierden an sich, so dass sie, wilden Tieren gleich, ihr entgegenstürmen. So herrschen dann allerlei Begierden, die alle Gott zuwider sind.
V. 17. Die Welt vergeht usw. Weil in der Welt alles hinfällig und sozusagen nur von augenblicklicher Dauer ist, wie schlecht und erbärmlich sorgen da diejenigen für sich, die hier ihr Glück suchen, zumal da Gott uns zu einem ewigen, seligen und herrlichen Leben beruft! Das wahre Glück, welches Gott seinen Kindern darbietet, ist ewig; es ist deshalb unwürdig, dass wir uns in die Welt verstricken, die bald mit allen ihren Gütern dahinschwinden wird. Lust bedeutet hier so viel wie: alles, wonach uns gelüstet; alles, was das Verlangen der Menschen an sich zieht. Der Sinn ist: was immer in der Welt für noch so wertvoll und wünschenswert gehalten wird, das ist doch nur ein Schatten und Schemen. Wenn der Apostel dagegen sagt: wer den Willen Gottes tut, bleibt in Ewigkeit – so deutet er an, dass diejenigen ewig selig sein werden, die Gott suchen. Wenn jemand entgegnet, niemand tut, was Gott befiehlt, so diene zur Antwort, dass hier nicht von einem vollkommenen Halten des Gesetzes die Rede ist, sondern von dem Gehorsam des Glaubens, der, so unvollkommen er ist, doch Gott nichtsdestoweniger wohlgefällt. Der Wille Gottes wird uns zunächst im Gesetz gezeigt. Weil aber niemand dem Gesetz genugtut, so kann man von ihm kein Glück erhoffen. Den Verzweifelten aber kommt Christus zu Hilfe, der uns nicht allein durch seinen Geist wiedergebiert, dass wir Gott gehorchen, vielmehr auch bewirkt, dass alle unsere Bemühungen das Lob vollkommener Gerechtigkeit erlangen.
V. 18. Es ist die letzte Stunde. Der Apostel stärkt die Gläubigen gegen Ärgernisse, durch die sie verwirrt werden konnten. Es waren schon verschiedene Sekten entstanden, die sowohl die Einigkeit des Glaubens spalteten als auch die Gemeinden zerrissen. Der Apostel schirmt nicht nur die Gläubigen, damit sie nicht wanken, vielmehr wendet er dies alles zu einem ganz andern Ziel. Er erinnert sie nämlich, es sei schon die letzte Zeit, und darum mahnt er sie zu größerer Wachsamkeit. Es ist, als wollte er sagen: wenn allerlei Irrlehren auftauchen, so müsst ihr euch weniger erschrecken als vielmehr erwecken lassen. Denn daraus ist zu schließen, dass Christus nicht mehr fern ist. Also lasst uns darauf bedacht sein, ihn zu erwarten, damit er uns nicht plötzlich überfalle. Ebenso müssen auch wir uns heute aufrichten und die nahe Ankunft Christi im Glauben ergreifen, wenn der Satan alles durcheinanderwirft, um die Gemeinde zu verwirren. Denn das sind die Zeichen der letzten Zeit. Indessen scheinen die vielen Jahrhunderte, die seit dem Tode des Johannes dahingeflossen sind, diese Weissagung als falsch hinzustellen. Ich antworte, dass der Apostel in der gewöhnlichen Weise der Schrift den Gläubigen ankündigt, es bleibe nun nichts anderes mehr übrig, als dass Christus zur Erlösung der Welt erscheine. Weil er aber keine Zeit angibt, so hat er weder die Leute seiner Zeit durch eine leere Hoffnung getäuscht, noch wollte er für die Zukunft einen weiteren Verlauf der Kirchengeschichte und die lange Reihe von Jahren, in denen die Kirche bisher in der Welt ausgehalten hat, abschneiden. Und sicher, wenn die Ewigkeit des Reiches Gottes uns vor Augen schwebt, so gibt es keine noch so lange Frist, die nicht doch wie ein Augenblick ist. Es ist festzuhalten, dass der Apostel die Zeit als die letzte bezeichnet, in der alles so weit ist, dass nichts anders übrigbleibt als die letzte Offenbarung Christi.
Wie ihr gehört habt, dass der Widerchrist kommt. Der Apostel redet als über eine bekannte Sache. Daraus ist zu schließen, dass die Gläubigen über die künftige Zersplitterung der Gemeinde von Anfang an belehrt worden sind, nicht nur damit sie sich selbst sorgfältig bei dem angenommenen Glauben bewahren möchten, sondern damit sie auch die Nachkommen lehren sollten, sich in acht zu nehmen. Denn Gott wollte, dass die Kirche nur so auf die Probe gestellt werde, dass keiner anders als mit Wissen und Willen sich täuschen lasse, und dass es keine Entschuldigung mit Unwissenheit gebe. Und doch sehen wir, dass fast der ganze Erdkreis elend getäuscht worden ist, als ob nie ein Wort vom Antichrist ergangen wäre. Ja sogar unter dem Papsttum ist nichts wichtiger und geläufiger als die künftige Erscheinung des Antichrist; indessen sind sie so stumpf, dass sie seine Tyrannei, die auf ihren Schultern lastet, nicht fühlen. Es ist ihnen dasselbe widerfahren wie den Juden. Denn während diese die Verheißungen vom Messias festhalten, sind sie doch weiter von Christus entfernt, als wenn sie nie seinen Namen gehört hätten: der eingebildete Messias, den sie sich erdacht haben, hält sie vom Sohne Gottes gänzlich fern. Wenn jemand sich bemühte, ihnen aus dem Gesetz und den Propheten Christus zu zeigen, so wäre das verlorene Liebesmühe. Alle Zeichen, durch welche der Geist Gottes den Antichrist zeichnet, erscheinen nun klar am Papst. Aber die Gedanken der Papisten sind derartig befangen, dass sie mit sehenden Augen nicht sehen. Wir erinnern uns daher, dass der Antichrist nicht nur vom Geiste Gottes vorausgesagt worden ist, sondern dass auch zugleich die Kennzeichen angegeben sind, an denen er erkannt werden kann.
So sind nun viel Widerchristen geworden. Es könnte scheinen, als sei dies zur Abwehr der angeblich falschen Meinung gesagt, dass es nur ein einziges antichristliches Reich gebe. Aber es ist nicht so. Freilich irrt man sich, wenn man meint, es werde nur einen einzigen antichristlichen Menschen geben. Wenn aber Paulus des kommenden Abfalls gedenkt (2. Thess. 2, 3), so bezeugt er klar, dass es sich um einen einheitlichen Leib und ein einziges Reich handeln werde. Zuerst sagt er den Abfall voraus, der durch die ganze Kirche hindurchgehen wird, so dass er gewissermaßen ein allgemeines Übel ist; sodann stellt er als das Haupt des Abfalls den Widerchristen hin, der sich in den Tempel Gottes setzen und göttliches Wesen und göttliche Ehre für sich in Anspruch nehmen wird. Wenn wir nicht freiwillig irren wollen, so können wir aus der Beschreibung des Paulus den Antichrist kennenlernen. Aber wie stimmt das mit den Worten des Johannes, der sagt, es seien jetzt schon viele? Ich antworte: Johannes will lediglich zeigen, dass jetzt schon einzelne Sekten auftauchen, die Vorspiele der künftigen Verkehrung sind. Cerinth, Basilides, Marcion, Valentinus, Ebion, Arius und andere2) waren schon Glieder des Reichs, welches der Teufel später wider Christus aufrichtete. Genau geredet war der Antichrist noch nicht vorhanden, aber das Geheimnis der Bosheit regte sich schon heimlich. Aber Johannes braucht diesen Namen, um den Eifer und die Besorgnis der Frommen zur Widerlegung der Täuschungen mehr zu schärfen. Wenn der Geist Gottes schon damals den Gläubigen befahl, auf Wache zu stehen, als sie die Zeichen des kommenden Feindes erst aus weiter Ferne sahen, wie viel weniger ist jetzt Zeit zum Schlafen, wo er die Kirche durch seine grausame Tyrannei unterdrückt hält und Christus öffentlich verspottet.
V. 19. Sie sind von uns ausgegangen usw. Dieser Satz kommt einem andern Einwand zuvor, weil es schien, die Kirche habe jene Seuchen geboren und in ihrem Busen bis zu dieser Zeit gehegt. Sicher trägt das zur Verwirrung der Schwachen mehr bei, wenn einer, der mit uns den wahren Glauben bekannt hat, abfällt, als wenn sich tausend Draußenstehende gegen uns verschwören. Der Apostel gibt nun freilich zu, dass jene Leute aus dem Schoß der Gemeinde hervorgegangen sind, leugnet aber doch, dass sie jemals innerlich zu ihr gehört haben. Er widerlegt den Vorwurf, dass die Kirche an diesem Übel schuld sei, in der Weise: die Kirche ist gezwungen, viele Heuchler zu tragen, die Christus in Wahrheit nicht haben, wenn sie auch seinen Namen zuzeiten mit dem Munde bekennen. Solche Leute sind wie Spreu, die, mit dem Weizen vermischt, auf einer Tenne liegt, und die man doch nicht als Weizen ansieht.
Wo sie von uns gewesen wären usw. Hier wird ganz klar gesagt, dass Leute, die abfallen, niemals Glieder der Gottesgemeinde waren. Uns sicherlich bleibt, mit Paulus (2. Tim. 2, 19) zu reden, das Siegel Gottes fest, unter welchem er die Seinen bewahrt. Aber hier entsteht eine Schwierigkeit. Es kommt nämlich vor, dass viele, die Christus ergriffen zu haben scheinen, abfallen. Ich antworte: es gibt unter denen, die das Evangelium bekennen, drei Klassen. Da sind solche, die Frömmigkeit heucheln, während doch das schlechte Gewissen sie innerlich beschuldigt. Der andern Heuchelei ist noch betrügerischer; sie versuchen nicht nur die Menschen zu täuschen, sondern blenden sich selbst die Augen, so dass sie sich einbilden, Gott wirklich zu verehren. Die dritten haben die lebendige Wurzel des Glaubens und tragen das Zeugnis ihrer Kindschaft tief und fest im Herzen. Die beiden ersten Klassen haben keine Festigkeit; von den letzten sagt Johannes, es sei unmöglich, dass sie von der Gottesgemeinde abfallen. Denn das Siegel, das Gott durch seinen Geist ihrem Gewissen eingedrückt hat, kann nicht zerstört werden. Ein unzerstörbarer Same, der Wurzel schlägt, kann nicht herausgerissen oder vernichtet werden. Es handelt sich hier nämlich nicht um der Menschen, sondern um Gottes Beständigkeit, dessen Erwählung fest sein muss. Der Apostel sagt deshalb mit Recht: wo die Berufung Gottes wirksam ist, da wird sicher Beharrung sein. Alles in allem ist seine Meinung, dass solche, die abfallen, niemals tief in die Erkenntnis Christi eingetaucht waren. Vielmehr besaßen sie nur einen leichten und vergänglichen Geschmack.
Es sollte offenbar werden usw. Der Apostel erklärt eine Prüfung als nützlich und notwendig für die Gemeinde. Daraus folgt auf der andern Seite, dass sie keinen Grund bietet, sich verwirren zu lassen. Da die Kirche einer Tenne ähnlich ist, so muss die Spreu vom Wind fortgetragen werden, damit der reine Weizen bleibt. Das bewirkt Gott, wenn er die Heuchler aus der Kirche heraustut; dann reinigt er sie von Auswurf und Schmutz.
V. 20. Und ihr habt die Salbung. Bescheiden entschuldigt sich der Apostel, dass er seine Leser so besorgt ermahnt: sie sollen nicht meinen, er halte sie verkehrter weise für Leute, die durchaus nicht wissen, was sie eigentlich wissen müssten. So gesteht Paulus (Röm. 15, 14) den Römern so viel Klugheit zu, dass sie geschickt seien, auch andere zu ermahnen; zugleich aber zeigt er, er könne das ihm auferlegte Amt nicht anders ausrichten, als indem er sie ermahnt. Die Apostel reden nicht in schmeichlerischer Absicht so, vielmehr beugen sie auf diese Weise klüglich vor, dass ihre Lehre von niemand verachtet werde. Sie behaupten ja, sie passe nicht nur für unerfahrene Menschen, sondern auch für solche, die in der Schule des Herrn erzogen sind. Die Erfahrung lehrt, wie verwöhnt die Ohren der Menschen sind. Solcher Stolz darf bei Frommen nicht sein; ein kluger und guter Lehrer aber darf nichts unterlassen, um sich bei allen Gehör zu verschaffen. Sicher ist aber, dass wir das, was gesagt wird, mit weniger Aufmerksamkeit und Verehrung aufnehmen, wenn wir meinen, der Redner verkleinere die Einsicht, welche uns vom Herrn gegeben wurde. Zugleich stachelt der Apostel durch dieses Lob die Leser an, weil Menschen, die mit der Gabe der Einsicht begabt sind, weniger Entschuldigung haben, wenn sie andere nicht an Fortschritten übertreffen. Kurz, der Apostel belehrt sie nicht als Ungebildete und Anfänger, vielmehr ruft er ihnen schon bekannte Sachen ins Gedächtnis zurück; er ermahnt sie, die Funken des Geistes anzufachen, dass ein heller Glanz in ihnen leuchte. Auch legt er sich selbst in den folgenden Worten aus, wo er sagt, er habe nicht deswegen geschrieben, weil sie die Wahrheit nicht wüssten, sondern vielmehr, weil sie in derselben recht unterrichtet seien. Denn wenn sie ganz ungebildet und unerfahren gewesen wären, so hätten sie diese Lehre nicht fassen können. Wenn er sagt, sie wüssten alles, so muss dies nicht ganz allgemein verstanden, sondern auf den Zweck dieser Stelle eingeschränkt werden. Die Wendung, dass die Leser die Salbung haben von dem, der heilig ist, spielt ohne Zweifel an bildliche Darstellungen des alten Bundes an. Aus dem Heiligtum wurde das Öl geholt, um die Priester zu salben. Daniel aber sagt (9, 24), die Ankunft Christi sei die rechte Zeit, um das Allerheiligste zu salben. Deshalb ist er vom Vater gesalbt worden, dass er allerhand Reichtum aus seiner Fülle auf uns ausgieße. Daraus folgt, dass die Menschen rechte Weisheit nicht vermöge eigenen Scharfsinns gewinnen, sondern vermöge der Erleuchtung durch den Geist. Ferner werden wir nicht anders des Geistes teilhaftig als durch Christus, der sowohl das rechte Heiligtum ist, als auch unser einziger Priester.
V. 21. Und wisset, dass keine Lüge aus der Wahrheit kommt. Der Apostel traut den Lesern die Urteilskraft zu, dass sie Wahres und Falsches unterscheiden können. Der Satz, die Lüge sei etwas anderes als die Wahrheit, ist nicht nur theoretisch gemeint, sondern praktisch auf den gegenwärtigen Gebrauch zugeschnitten. Er will sagen, sie wüssten nicht nur, was wahr ist, sondern sie seien auch gegen die Betrügereien und Täuschereien der Gottlosen gefeit, dass sie sich klüglich hüteten. Übrigens redet er nicht von der einen oder anderen Art der Lüge; er sagt vielmehr, sie seien sofort fähig, Licht und Finsternis zu unterscheiden, mit was für Betrug der Satan sie auch bedrohe, oder von welcher Seite er sie auch angreife, - weil sie den Geist als Führer hätten.
V. 22. Wer ist ein Lügner? usw. Der Apostel behauptet nicht, dass nur diejenigen Lügner seien, die leugnen, dass der Sohn Gottes im Fleische erschienen ist, aber er erklärt sie für die schlimmsten unter allen Lügnern. Er will sagen: Wenn man das nicht für Lüge halten will, dann gibt es überhaupt keine Lüge. Was er aber von den falschen Propheten im Allgemeinen erwähnt hatte, das wendet er jetzt auf die Lage seiner Zeit an. Er zeigt mit dem Finger auf die, welche die Gottesgemeinde verwirrten. Die Alten finden hier einen Hinweis auf Cerinth und Karpokrates3), - und ich kann dies billigen. Übrigens ist die Leugnung Christi in sehr umfassendem Sinne zu verstehen. Es ist nämlich nicht genug, mit einem Wort zuzugeben, Jesus sei der Christ; man muss ihn auch so annehmen, wie der Vater ihn uns im Evangelium darbietet. Jene beiden, die ich genannt habe, gaben dem Sohne Gottes den Titel Christus, aber sie machten ihn zu einem bloßen Menschen. Es sind andere gefolgt, wie Arius, die ihn mit dem Namen „Gott“ schmückten, aber ihn doch der ewigen Gottheit beraubten. Marcion4) träumte, er sei nur ein Scheinmensch gewesen. Sabellios5) fabelte, er unterscheide sich nicht vom Vater. Diese alle leugneten den Sohn Gottes, weil keiner von ihnen den ganzen Christus ehrlich anerkannte. Sie fälschten sein wahres Bild und machten sich einen Götzen an Christi statt zurecht. Darauf trat Pelagius auf, der zwar keinen Streit über Christi Wesensart hervorrief, indem er sein göttliches und menschliches Wesen anerkannte: aber er übertrug fast seine ganze Ehre auf uns. Das heißt aber, Christus zu nichts machen, wenn seine Gnade und Kraft beseitigt wird. So setzen heute die Papisten den freien Willen der Gnadenwirkung des heiligen Geistes entgegen, gründen einen Teil der Gerechtigkeit und des Heils auf die Verdienste der Werke, erfinden sich unzählige Schutzheilige, durch die sie Gott gnädig stimmen wollen, und haben damit, ich weiß nicht, was für einen erdichteten Christus. Das lebendige und wahrhaftige Bild Gottes, das in Christus leuchten sollte, entstellen sie durch ihre verkehrten Erdichtungen, seine Kraft lähmen sie, sein Amt stürzen sie um. Wir sehen, dass man Christus leugnet, sobald man ihm abspricht, was ihm eigentümlich ist. Weil Christus Mittelpunkt des Gesetzes und des Evangeliums ist und alle Schätze der Weisheit und Erkenntnis in sich trägt, so ist er das Ziel, auf das alle Ketzer ihre Pfeile richten. Darum macht der Apostel nicht mit Unrecht diejenigen zu Erzbetrügern, die Christus bekämpfen, weil in ihm die volle Wahrheit uns dargeboten ist.
Das ist der Widerchrist. Der Apostel redet nicht von jenem Haupt des Abfalls, der sich auf den Thron Gottes setzen wird, er reiht vielmehr alle, die Christus zu beseitigen wagen, in jene ruchlose Schar ein. Und um ihr Verbrechern recht ans Licht zu stellen, sagt er, nicht nur der Sohn, sondern ebenso der Vater werde von ihnen geleugnet. Er will sagen: sie haben überhaupt keine Religion mehr, da sie Gott im tiefsten Grunde verwerfen. Dies bekräftigt er, indem er den Grund hinzufügt, dass der Vater vom Sohne nicht getrennt werden kann. Diese Stelle ist übrigens sehr bemerkenswert und muss für einen der Hauptsätze unserer Religion gehalten werden. Zu dem Bekenntnis, dass es einen Gott gibt, muss dieses als zweites notwendig hinzugefügt werden: es gibt nur den Gott, den man in Christus erkennt. Der Apostel gibt hier keine scharfsinnigen Erörterungen über die Einheit des Wesens. Es steht fest, dass der Sohn nicht vom Vater losgerissen werden kann, weil er gleichen Wesens mit ihm ist: aber jetzt ist von etwas anderem die Rede, nämlich davon, dass der Vater, der sonst unsichtbar ist, sich nur im Sohne geoffenbart hat. Deshalb wird der Sohn auch das Ebenbild des Vaters genannt (Hebr. 1, 3), weil er alles das, was vom Vater zu erkennen not ist, uns darstellt und darbietet. Die nackte Majestät Gottes wird immer durch ihren unermesslichen Glanz unsere Augen blenden, also muss man auf Christus schauen. Da ist Zugang zum Licht, das sonst mit Recht ein unzugängliches genannt wird. Hier wird, wie gesagt, keine scharfsinnige Erörterung über die ewige Wesenheit Christi, welche er mit dem Vater gemeinsam hat, gepflogen. Diese Stelle reicht freilich völlig hin, um dieselbe zu beweisen. Johannes aber ruft uns hier zu praktischem Glauben auf und sagt uns: weil Gott sich uns nur in Christus zu genießen gibt, so sucht man ihn anderwärts umsonst. Oder, wenn einer es noch deutlicher ausgedrückt haben will: da in Christus die ganze Fülle der Gottheit wohnt, gibt es außer ihm nichts von Gott. Daraus folgt, dass die Türken, Juden und ähnliche Leute an Stelle Gottes ein leeres Bild haben. Mit was für Titeln sie auch den Gott, den sie anbeten, bezeichnen mögen, was haben sie anders als ihr eigenes Gebilde und ihr eigenes Gemächte? Sie verwerfen ja den, ohne den man nicht zu Gott kommen kann und in dem allein Gott sich uns offenbart. Die außer Christus von göttlichen Dingen philosophieren, schmeicheln sich zwar in ihren Spekulationen; sicher aber ist, dass sie nichts als Torheit vorbringen, weil sie sich, wie Paulus sagt, nicht an das Haupt halten (Kol. 2, 19). Daraus ergibt sich, wie notwendig die Erkenntnis Christi ist. Wollte jemand einwenden, dass viele unter den Alten richtige Ansichten über Gott hatten, denen doch Christus unbekannt war, so gebe ich zu, dass nicht immer eine ausdrückliche Erkenntnis Christi vorhanden war. Dies aber behaupte ich als stets geltende Wahrheit: wie das Licht der Sonne durch ihre Strahlen bis zu uns kommt, so ist die Erkenntnis Gottes immer nur durch Christus vermittelt worden.
V. 24. Was ihr nun gehört habt. Der voraufgehenden Lehre fügt der Apostel eine Mahnung bei, und damit die Mahnung wirksam sei, weist er die Früchte auf, die sie aus dem Gehorsam gewinnen werden. Er mahnt die Leser also zur Beständigkeit des Glaubens, dass sie fest im Herzen behalten sollen, was sie gelernt haben. Wenn er sagt von Anfang, so würde das bloße Alter keineswegs genügen, um irgendeine Lehre als wahr zu erweisen; er hat aber schon gezeigt, dass sie richtig im reinen Evangelium Christi unterwiesen sind; darum macht er mit Recht den Schluss, sie sollten dabei bleiben. Hier muss die Reihenfolge genau beachtet werden. Wenn wir nämlich von der Lehre, die wir einmal erfasst haben, nicht weichen wollen, mag sie sein, wie sie will, so ist das nicht Beständigkeit, sondern verkehrter Eigensinn. Daher muss man zuerst zusehen, dass der Grund des Glaubens auf dem Worte Gottes ruht; dann mag die unbeugsame Beständigkeit folgen. Die Papisten prahlen mit dem „Anfang“, weil sie ihren Aberglauben von Kindheit an eingesogen haben. Unter diesem Vorwand gestatten sie sich, die offenbare Wahrheit schnöde zurückzuweisen. Eine solche Hartnäckigkeit dient uns zum Beweise, dass man in erster Linie immer auf die Richtigkeit der Lehre und nicht auf ihr Alter sehen muss.
So bei euch bleibt usw. Das ist die Frucht der Beharrlichkeit, dass sie in Gott bleiben, in denen die Wahrheit Gottes bleibt. Daraus ersehen wir, was bei der ganzen Lehre der Frömmigkeit das Hauptanliegen sein muss. Den rechten Fortschritt hat man erst erreicht, wenn man völlig an Gott hängt. In wem aber nicht der Vater durch den Sohn wohnt, der ist ganz leer und eitel, was für Wissenschaften er auch haben mag. So ist dies das beste Lob der gesunden Lehre, dass sie uns mit Gott verbindet und wir in ihr finden, was zum wahren Genuss Gottes gehört. Zuletzt erinnert der Apostel daran, dass das wahres Glück ist, wenn Gott in uns wohnt. Kurz, wir werden nicht anders wirklich leben, als wenn der Same des Lebens in unsere Herzen aufgenommen und bis zum Ende genährt wird. Johannes betont stark, dass in der Erkenntnis Christi nicht nur der Anfang, sondern auch die Vollendung des seligen Lebens liegt. Und das kann nicht oft genug wiederholt werden, weil dies bekanntlich immer eine Ursache des Verderbens für die Menschen gewesen ist, dass sie, nicht zufrieden mit Christus, eine Sucht hatten, von dem einfachen Evangelium abzuschweifen.
V. 26. Solches habe ich euch geschrieben usw. Wiederum entschuldigt sich der Apostel, dass er die Leser ermahnt, da sie doch mit Einsicht und Urteil begabt waren. Das tut er aber deshalb, damit sie das Urteil des Geistes anwenden, damit die Mahnung nicht unfruchtbar sei. Es ist, als wollte er sagen: Ich tue meine Schuldigkeit, aber inzwischen ist es nötig, dass der Geist Gottes euch in allen Dingen leite. Denn wenn jener nicht innerlich redet, so werde ich mit meiner Stimme vergebens nur eure Ohren oder gar nur die leere Luft berühren. Wenn wir hören, er habe über die Verführer geschrieben, so lasst uns immer beachten, dass einem guten und eifrigen Hirten nicht allein die Sorge obliegt, die Schafe zu sammeln, sondern auch die Wölfe zu verscheuchen. Was wird es nützen, das reine Wort des Evangeliums erschallen zu lassen, wenn wir vor den offenbaren Verführungen des Satans die Augen zudrücken? Nur der kann ein treuer Lehrer der Kirche sein, der darauf bedacht ist, Irrlehren, wenn solche von Verführern ausgestreut werden, zurückzuweisen. Dass wir (V. 27) die Salbung von ihm empfangen haben, beziehe ich auf Christus.
Und bedürft nicht, dass euch jemand lehre. Johannes würde lächerlich sein, wenn er die Leser ganz überflüssiger Weise belehrte. Er schreibt ihnen also nicht so viel Weisheit zu, dass sie aufhörten, Christi Schüler zu sein. Er deutet nur an, sie seien keineswegs ganz ungelehrt, so dass sie belehrt werden müssten, als wären ihnen diese Dinge ganz unbekannt; er bringe auch nichts anderes vor, als was der Geist Gottes sie ohnehin lehre. Irrtümlich reißen also schwärmerische Menschen dies Zeugnis an sich, um den Dienst am Worte aus der Kirche auszuschließen. Der Apostel sagt, die Gläubigen, durch den heiligen Geist gelehrt, wüssten schon, was er ihnen überliefert, so dass sie nicht nötig hätten, gleichsam Unbekanntes zu lernen. Er sagt das, um seiner Lehre mehr Gewicht zu geben; denn ein jeder findet das Siegel derselben in seinem Herzen, durch die Hand Gottes aufgedrückt, vor. Da sich übrigens bei einem jeden die Einsicht nach dem Maß des Glaubens richtet, der Glaube aber bei den einen klein ist, bei den anderen mittelmäßig, bei keinem vollkommen, so folgt daraus, dass keiner so viel weiß, dass er nicht noch Fortschritte machen könnte. Sodann ist dies der andere Nutzen der Lehre, dass die Leute, wenn sie auch redlich festhalten, was gut ist, doch durch unser Ermahnen und Ermuntern noch größere Festigkeit gewinnen. Denn wenn Johannes sagt, dass sie über alles vom Geiste belehrt würden, so darf das nicht so ganz allgemein verstanden, sondern muss aus dem Zusammenhang erklärt werden. Kurz, er hat nichts anderes im Auge, als ihren Glauben zu befestigen, indem er sie auf das Zeugnis des Geistes hinweist, der allein die Lehre beurteilen und bestätigen kann, indem er sie unsern Herzen versiegelt, so dass wir sicher wissen: Gott redet. Denn da der Glaube auf Gott schauen muss, so muss Gott selbst sein eigener Zeuge sein, um unsern Herzen die Überzeugung beizubringen, was unsere Ohren hören, sei von ihm ausgegangen. Das bedeuten die Worte: wie euch die Salbung lehrt, so ist es wahr. Der Geist ist gewissermaßen ein Siegel, durch welches uns die Wahrheit Gottes besiegelt wird. Der Zusatz: und ist keine Lüge, deutet auf das andere Amt des Geistes, nämlich uns durch Urteilskraft und Unterscheidungsgabe zu leiten, damit wir nicht durch die Lüge uns täuschen lassen, nicht im Ungewissen und Unklaren hängen bleiben, nicht wankend werden, als wären es unsichere Sachen.
Wie sie euch gelehrt hat, so bleibt bei demselbigen. Der Apostel hatte gesagt, der Geist bleibe bei ihnen; jetzt mahnt er, sie sollten bei seiner Offenbarung bleiben; zugleich bezeichnet er die Art der Offenbarung. Bleibt, sagt er, bei Christus, wie euch der Geist gelehrt hat. Ich weiß, dass man gewöhnlich anders auslegt: bleibt bei derselben, nämlich der Salbung. Aber da die Wiederholung, die bald folgt, nur auf Christus passt, so ist mir nicht zweifelhaft, dass auch hier von Christus die Rede ist; der Zusammenhang fordert das. Der Apostel ist darauf bedacht, dass die Gläubigen die reine Erkenntnis Christi festhalten und dass sie auf keinem andern Wege Gott suchen sollen. Inzwischen zeigt er klar, dass die Kinder Gottes zu keinem andern Zweck vom Geiste erleuchtet werden, als um Christus kennen zu lernen. Er hält ihnen auch die Frucht der Beharrlichkeit vor, wenn sie sich von Christus nicht abbringen lassen, nämlich dass sie Freudigkeit haben werden und nicht zuschanden werden bei seiner Zukunft. Der Glaube ist ja nicht ein nacktes und kaltes Ergreifen Christi, sondern ein lebendiges und wirksames Empfinden seiner Macht, das Freudigkeit erzeugt. Der Glaube würde sonst nicht stehenbleiben, da er täglich von so vielen Wogen angegriffen wird, wenn er nicht auch auf Christi Wiederkunft schaute und, durch ihre Kraft unterstützt, den Gewissen Ruhe schaffte. Aufs Beste wird das Wesen der Freudigkeit ausgedrückt, wenn es heißt: sie erträgt furchtlos die Gegenwart Christi. Die sorglos ihren Sünden frönen, kehren Gott den Rücken und finden nur im Vergessen Gottes Frieden. Das ist die Sicherheit des Fleisches, welche die Menschen stumpf macht, so dass sie sich von Gott abkehren, vor der Sünde nicht zurückscheuen und den Tod nicht fürchten. Indessen fliehen sie den Richterstuhl Christi. Die fromme Freudigkeit aber ruht allein im Anblicken Gottes. Daher kommt es, dass die Frommen ruhig Christus erwarten und nicht vor seinem Anblick erzittern.
V. 29. So ihr wisst, dass er gerecht ist usw. Der Apostel geht wiederum zu Ermahnungen über, wie er solche in dem ganzen Brief mit der Lehre vermischt. Durch viele Gründe beweist er, dass der Glaube notwendig mit einem heiligen und reinen Leben verbunden sein muss. Das erste ist, dass wir geistlich zur Ähnlichkeit Christi geboren werden. Daraus folgt, dass nur der von Christus geboren ist, der recht lebt. Es ist übrigens ungewiss, ob der Apostel Christus oder Gott meint, wenn er sagt: wer recht tut, der ist von „ihm“ geboren. Die gewöhnliche Redeweise in der Schrift ist, dass wir aus Gott geboren werden in Christus. Doch lässt sich auch ohne Anstoß sagen, dass ein Mensch aus Christus geboren wird, wenn er die Erneuerung durch seinen Geist erfährt.