Burger, Carl Heinrich August von - Siebente Predigt - Am zweiten Sonntag nach Epiphanias
Am zweiten Sonntag p. Epiph. 1855.
Text: Röm. 12, 7-16
Hat jemand Weissagung, so sei sie dem Glauben ähnlich. Hat jemand ein Amt, so warte er des Amts. Lehret jemand, so warte er der Lehre. Ermahnet jemand, so warte er des Ermahnens. Gibt jemand, so gebe er einfältiglich. Regieret jemand, so sei er sorgfältig. Uebet jemand Barmherzigkeit, so thue er es mit Lust. Die Liebe sei nicht falsch. Hasset das Arge, hanget dem Guten an. Die brüderliche Liebe unter einander sei herzlich. Einer komme dem andern mit Ehrerbietung zuvor. Seid nicht träge, was ihr thun sollt. Seid brünstig im Geist. Schicket euch in die Zeit. Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, haltet an am Gebet. Nehmet euch der Heiligen Nothdurft an. Herberget gerne. Segnet, die euch verfolgen; segnet, und fluchet nicht. Freuet euch mit den Fröhlichen, und weinet mit den Weinenden. Habt einerlei Sinn unter einander. Trachtet nicht nach hohen Dingen, sondern haltet euch herunter zu den Niedrigen.
Ein bunter Blüthenkranz liegt in unserm Text vor unsern Augen ausgebreitet, eine Summe einzelner Vorschriften und Ermahnungen, gegeben mit der Zuversicht, daß sie nichts Neues sagen, was nicht den Lesern schon bekannt sei; daß sie nur Erinnerungen seien, ihren eignen Eifer zu regeln und auch wohl, wo es etwa noth sei, wieder zu beleben, ein Strom, ergossen aus der Fülle eines liebebewegten Herzens, das nach allen Seiten überfließet von Trost der Lehre und Kraft der Erweckung. Er stellet nicht ein neues Gesetz auf, welches abermals durch den Buchstaben tödtet, sondern spricht Lebensregeln aus, welche, wie sie erwachsen sind aus dem Grunde des bereits vorhandnen Lebens, die Kraft des gleichen Lebens berechtigt sind vorauszusetzen bei den Lesern; so daß ihr Inhalt nur eine willkommene Anleitung ist und ein zu Dank verpflichtender Wegweiser, weil das Vermögen, darnach zu thun, schon da ist; weil nichts Unmögliches gefordert wird, sondern vor der Forderung schon die Stärke gegeben ist, die von dem Herrn als dem Weinstock sich ergießt in Seine Glieder als die Reben. Denn das ist der Unterschied zwischen dem Gesetz und zwischen dem Evangelium, daß jenes bloß fordert, dieses Kraft und Leben schenket; aber das geschenkte Leben in dem Dienst des Herrn förderlich und heilsam zu gebrauchen, dazu will uns und soll uns die Anweisung unsers Textes hilfreich sein, so müssen wir sie auch ansehen. Sie ist gerichtet an Gläubige, an Christen, die nicht bloß so heißen, sondern ihren Namen tragen mit Recht, weil sie wahrhaftig hangen an dem Haupte der Gemeinde, Christo, und Ihm gliedlich einverleibt sind. Darum kann auch hier die Rede nicht davon sein, ob die Befolgung schwer oder leicht sei. Denn schwer oder leicht, so liegt das Vermögen dazu nicht in uns. Aber wer will sagen, daß es nicht im Herren liege, und von Ihm uns gegeben werden könne, wenn wir bei Ihm es suchen? So lasset mich des Apostels Worte, so weit es möglich ist in dieser kurzen Stunde, mit euch beschauen und zu Herzen nehmen. Der Gegenstand unsrer Betrachtung sei:
die Entfaltung des christlichen Lebens aus dem Grund des Glaubens; und wir fassen die einzelnen Ermahnungen zusammen in die dreifache Aufforderung:
- sei treu in deinem Berufe,
- sei aufrichtig in der Liebe,
- sei in der Hoffnung freudig und geduldig.
Herr Jesu Christe, du Lebensfürst, ohne den wir nichts thun können, heilige uns diese Stunde durch Dein Wort, und laß aus ihm kräftige Antriebe in das Herz uns dringen, daß wir abschütteln alle Lässigkeit und Trägheit und freudig und entschlossen wandeln aus der Bahn, die Du uns vorgezeichnet hast, bis wir ihr Ziel gewinnen, der Seelen Seligkeit bei Dir. Erhöre uns in Gnaden und gib bei uns viele Frucht des Glaubens; ja mehre unsern Glauben selbst, und laß ihn ächt, wahrhaftig, brünstig werden. Dein h. Geist sei mit uns und segne an uns, was uns Deine Liebe lehret. Amen.
I.
Die erste Aufforderung, unter die wir ein gutes Theil der Ermahnungen unseres Textes zusammen fassen können, ist die: sei in dem dir verliehenen Berufe treu! Der Beruf ist mannigfaltig, so mannigfaltig, als die Gaben, aus die er sich gründet; aber was jedem geheißen ist, was er zu thun hat, das thue er recht und sei darin fleißig, so wird er dem Herrn wohl gefallen nach der Art und nach dem Maße dessen, was ihm obliegt, und hat nicht nöthig sich nach sonderlichen Dingen umzusehen, um in ihnen ein Verdienst zu suchen, was ohnehin verschwinden muß und nicht auskommen kann neben dem überschwänglichen Erbarmen unsers Herrn Jesu, der mit Seinem heiligen Verdienst und Leiden uns angenehm gemacht hat und hat uns Gottes Vaterliebe wieder zugewendet. Darum liegt auch dem Apostel nichts so ferne bei allem, was er seinen Lesern anempfiehlt und einprägt, als der Gedanke, sie zur Erwerbung von dem, was man Verdienst nennt, anzuleiten. Nein, wie sie ihre Dankbarkeit beweisen sollen für das, was Gott an ihnen gethan hat, das will er sie lehren, und wie sie würdig wandeln sollen der Gnade, welche jeden Morgen über ihnen neu ist und sie umgibt und trägt und ihres Lebens Kraft und Trost ist, das zu zeigen ist sein Bemühen. Wie würde er in heiligem Unwillen sich erheben, wenn er hören und sehen müßte, wie Christen von Verdiensten reden, wo sie doch alle Tage sagen müssen: Ach Herr! habe doch Geduld mit Deinem ungeschickten Knecht und Deiner Magd voll Schwachheit und Gebrechen! laß das Verdienst des Herrn meines Heilandes mir zu Gute kommen, welches meinen Mangel ausfüllt; aber mich stärke, daß ich doch nicht ganz ein unfruchtbarer Zweig an Seinem Leibe bleibe, sondern in etwas meinen Dank beweisen und demüthig Dir zu Füßen legen dürfe! Das muß der Grundton sein, von welchem alles unser Thun vor Gott getragen ist, sonst ist es von vorn herein verwerflich und unwerth; nun aber laßt uns sehen, was denn der Apostel fordert.
„Hat Jemand Weissagung,“ sagt er, „so sei sie dem Glauben ähnlich,“ d. h. so bleibe sie bei der Wahrheit, die gewiß ist aus Gottes Wort und bestätigt und bezeugt von Seinem Geiste, so suche sie nicht neue ungewohnte Bahnen, sondern halte sich im Einklang mit dem Glauben der Gemeinde Christi, wie er gegründet steht auf der einhelligen Bezeugung der Propheten und Apostel. Die Weissagung ist eine Gnadengabe des h. Geistes. Sie ist nicht beschränkt auf die Vorausverkündigung zukünftiger Dinge; auch das Wort der Bestrafung, der Ermahnung, der Belehrung, des Trostes, der Ermunterung, des Dankes und des Lobes Gottes, zu dem ein Christ vom Geiste Gottes erweckt und angetrieben wird es auszusprechen, das ihm der Geist des Herrn in den Mund legt, heißt Weissagung in dem Sinne unsers Textes. Wir sehen es vor Augen in den Schriften der Propheten. Auch sie handeln keineswegs bloß von der künftigen Entwicklung des Reiches Gottes. Weitaus der größte Theil ihrer öffentlichen Reden, die uns noch ausbehalten sind in der Schrift, bezieht sich aus Bedürfnisse der Gegenwart, ist ein Wort für die Zeit, in der sie lebten, und ein Schatz, aus dem sich die Kirche zu allen Zeiten erbauen kann und stärken. So sind auch die Propheten des neuen Bundes nicht bloß Vorausverkündiger der Zukunft; sie bedenken die Noth und die Ausgabe der Gemeinden um sie her, und geben ihnen göttlichen Unterricht, indem sie aussprechen, was der Geist des Herrn darüber sie wissen läßt. Aber weil der Herr diese Gabe niederlegt in das gebrechliche und sündige Gesäß des Menschengeistes, so kann sie auch gemißbraucht werden so gut wie jede andere; so kann der mit ihr begnadete Christ in Eitelkeit sich überheben, und mit dem Wort der göttlichen Offenbarung seine eigenen, verkehrten, irrigen Gedanken vermengen. Darum sagt der Apostel: „Die Weissagung sei dem Glauben ähnlich.“ Sie kann nichts lehren, was der Wahrheit widerspricht, wenn sie aus Gott ist. Darum soll sie in dem bereits geoffenbarten Glaubensinhalt eine Regel anerkennen, die sie nicht überschreiten darf, sonst ist sie in Gefahr des Irrthums und setzt Menschenwitz und Weisheit neben Gottes klare und bewährte Sätze; aber ein wenig Sauerteig versäuert den ganzen Teig. Darum soll der am höchsten begnadigte und geistig am reichsten ausgestattete auch der demüthigste, vorsichtigste, wachsamste Jünger sein, damit er seine Gabe rein bewahre zum Segen, und nicht zur Verwirrung der Gemeinde. Das will der Apostel, wenn er sagt: „Hat Jemand Weissagung, so sei sie dem Glauben ähnlich.“
„Hat Jemand ein Amt,“ so fährt er fort, „so warte er des Amtes; lehret Jemand, so warte er der Lehre; ermahnet Jemand, so warte er des Ermahnens;“ d. h. jeder thue das Seine, was ihm anbefohlen ist, wozu die Gabe ihm verliehen ist, und menge sich nicht in ein fremdes Gebiet, überschreite nicht die Schranken des ihm übertragenen Dienstes. Jene voreilige Geschäftigkeit, wo Einer sich berufen hält zu Allem und die Gränzen nicht einhält, welche ihm gesteckt sind, die verfällt gerechtem Tadel; vor ihr will der Apostel warnen; denn Gott ist ein Gott der Ordnung. Er gibt deßwegen mancherlei Befähigung und mancherlei Beruf, damit die Glieder Seines Leibes eines dem andern hülfreich und ergänzend zur Seite stehen, und aus dem Einklang aller eine Harmonie sich bilde, die gestört wird, wenn einer in des andern Saiten greift, statt den ihm anbefohlenen Theil des Ganzen treulich wahrzunehmen. Wollte Gott, es wohnete in allen Christen, damit meine ich hier die vom Herrn zum Leben wirklich aufgeweckten, die im Glauben stehen; - es wohnete in ihnen allen solcher Sinn heilsamer Bescheidenheit und Zucht. Es stünde besser mit dem Ganzen, wenn jeder einzelne beherzigte, was der Apostel treulich mahnend ausspricht. Nur zu viele fehlen durch einen Eifer, welcher aus dem Fleisch kommt, und lausen vor, wo sie in Demuth warten sollten, und richten Unheil an und Störung, weil sie sich nicht genügen lasten an der ihnen zugewiesenen Arbeit, und über der von Eitelkeit regierten Vielthuerei gerade das nicht, oder doch nicht recht thun, womit sie wirklich fruchtbar ihre Kraft dem Herrn zu Dienste legen könnten. Und das gilt nicht bloß von Aemtern, es gilt auch von jeder einzelnen Verrichtung eines Christen. „Gibt Jemand,“ sagt der Apostel, „so gebe er einfältiglich; regieret Jemand, so sei er sorgfältig; übet Jemand Barmherzigkeit, so thue er es mit Lust.“ Jedes einzelne Geschäft so auszurichten, wie es die Natur desselben heischet, das ist die einfache und klare Regel dieser Sätze. Dann wird auch das geringste Werk ein Gottesdienst; denn es dient zu Gottes Preise. Dagegen wo es mangelhaft und ungeschickt besorgt wird, weil die Sinne und Gedanken gleichzeitig auswärts schweifen und nach Andrer Arbeit fürwitzig oder lüstern aussehen, da fördert man nicht bloß nichts, sondern richtet Schaden an; denn man gibt Anstoß, läßt dem Gegner Blößen, beunruhigt und befleckt das eigene Gewissen.
So haben wir in diesem ersten Theile eine Fülle heilsamer Unterweisung. Möge Gott sie selbst uns in die Seele schreiben und die richtige Anwendung finden lehren. Sie gilt Jedem. Es ist kein Stand und keine Stellung so gering, in der nicht Gottes Macht und Gnade sich verklären könnte, wenn sie treu ausgefüllt wird; wenn der, der sie bekleidet, nichts begehret, als daß er das Seine in ihr redlich thue, und Gott danket, damit, daß er im Größten und im Kleinsten nicht die eigene Ehre sucht, sondern dessen Wohlgefallen, der jedem Seiner Knechte gewiß den richtigen Platz anweist, daß er nicht braucht darüber wegzuschauen und zu fragen: Könnte ich nicht an dieser oder jener Stelle mehr thun? Ziere dein Amt und deinen Stand und deine Stellung; dann thust du eben, was Gott von dir will; und mehr thun, als Gott will, oder etwas Anderes, heißt übel und verkehrt thun, und ob es noch so gleiße vor den Leuten.
II.
Aber wir wenden uns zu dem zweiten Theile der Ermahnungen, die der Apostel ausspricht, und die ich zusammen faßte in die Aufforderung: sei aufrichtig in der Liebe. „Die Liebe sei nicht falsch; hasset das Arge; hanget dem Guten an!“ Das ist das erste, was uns hierüber der Apostel zuruft. Es ist heilendes Salz in dieser Rede. Von Liebe spricht man heutiges Tages viel, sehr viel. Strenger wird nichts getadelt, als das, was man Lieblosigkeit nennt; und doch zeigt sich unwidersprechlich das befremdende Ergebniß, daß die Innigkeit wahrhafter Liebe und Vertrauens eher ab - als zunimmt; daß wir uns auf dem Weg befinden zu einer Art von Liebe, welche immer an den nächsten Gegenständen vorbeigeht und dafür in's Weite sucht zu wirken. Die Elternliebe, Kindesliebe, Gatten- und Geschwisterliebe, Freundesliebe, wie selten trifft man sie in ihrer ächten Schönheit, wie grell und häufig sind ihre Verletzungen, wie kalt und oberflächlich ihre Aeußerungen. Dagegen in der allgemeinen Liebe suchen wir das in dem nächstgewiesenen Kreis Versäumte einzubringen; je ferner ihr Gegenstand uns liegt, desto rühmlicher scheint uns ihm nachzustreben. Das kann doch das Richtige, Natürliche nicht sein! Da läuft doch gewiß eine Täuschung unter, mit welcher wir uns selbst betrügen, ich will durchaus nicht sagen: eine bewußte Heuchelei, das sei mir ferne! wohl aber eine große Weichlichkeit und Urteilslosigkeit. Der nächsten, aber durch die Nähe lästigen und unbequemen Pflicht entzieht man sich, und sucht dafür Ersatz in Uebungen, die, weil ihr Gegenstand weiter ab liegt, nicht bloß dem Fleische minder drückend, sondern noch obendrein verbrämt sind mit einem Glanz und Ruhm, den die unscheinbare Uebung der Liebe in dem engern Kreise der Pflicht nicht so in Anspruch nehmen kann, und darum weniger beliebt ist, weniger gesucht wird. Das ist aber etwas Ungesundes. Die Liebe sei nicht falsch! Das zeige sie vor allem da, wo sie zunächst berufen ist, so wird ihr, ist sie ächte Liebe, noch Kraft und Raum genug zu weiterem Wirken übrigbleiben; denn sie ist so leicht nicht auszuschöpfen. Aber sie hasse das Arge und hange dem Guten an. Sie setze ihr Geschäft nicht darein, Gegensätze auszugleichen und abzuschleifen, die Gott selbst einschärft und geltend machen wird in Ewigkeit; sie Pflege nicht die Sünde und beschönige nicht, was schlecht ist, sondern decke es auf und strafe es, und zwar mit allem Ernste. Denn der Arzt, der das kranke Glied vom Leibe trennt, thut ihm wohler, als der aus falscher Schonung das Gift den Leib durchdringen läßt, bis keine Rettung übrig bleibt und er dem Tod ganz verfallen muß. Aber unsrer Liebe mangelt es an sittlichem Ernst. Man will nichts mehr entschieden abgewiesen und zurückgestoßen sehen, auch nicht was offenbar verderblich, weil sündlich ist, und so entwickelt sich eine Art von sogenannter Liebesstimmung, die gleich der schwülen seuchten Lust in Sommertagen dem Ungeziefer wohl bekommt, aber den gefunden Leib mit schleichenden Fiebern heimsucht. Nein, eine Liebe, welche wirklich ohne Falsch ist, kann auch hassen, nämlich das Schlechte, das Nichtswürdige, das Sündliche, damit das Gute umhegt und vor dem Gifthauch der Verführung und Verderbniß rein bewahret werde. Das ist die Vorbedingung der weitern Forderung: „Die brüderliche Liebe unter einander sei herzlich.“ Sie ist es und kann es nur sein aus dem Grund der Wahrheit. Sie darf nicht, um uns selbst nur Ungelegenheiten zu ersparen, mit glatten Worten Anstöße lediglich umschiffen, die aus dem Wege gehoben werden sollen; sie darf nicht fragen: Soll ich meines Bruders Hüter sein? und darf ihn nicht irre gehen lassen, nur um ihn nicht zu erzürnen. Mit solcher Weichlichkeit fördert man sich gegenseitig in den Tod; und endlich, was ist's doch! kann das wirklich Liebe heißen? Sucht man doch dabei nur das Seine! schont man doch nur sich selbst, indem man sich vorspiegelt, als ob man des Andern schonen wollte! Man scheut die Ausregung, die doch zum Leben führen könnte, und lässet lieber einer den andern einschlummern, schlafen, schlafend hinüber taumeln bis zum Tode. Sein Zusammenleben hat man sich leicht gemacht, so leicht als möglich, das ist wahr. Aber geliebet hat man sich nicht; sonst hätte man geeifert um des Bruders Seele, und sich beflissen sie zu retten selbst aus die Gefahr, daß er den Dienst nicht anerkenne, wenigstens im Anfang. Denn das verlangt die Herzlichkeit der Liebe; sie erfüllet und bewegt das Herz; darum schließt sie des Nächsten heiligstes und höchstes Interesse vor Allem ein, und übersieht darüber nicht das Geringe und das Kleine. Denn sie hat offene Augen für das Gute überall, und widersteht dem Schlechten. - Dazu aber fügt der Apostel noch die Regel: „Einer komme dem Andern mit Ehrerbietung zuvor!“ Auch damit trifft er einen faulen Fleck an unsrer Liebe. Man sieht die Sache oft so an, als sei die Liebe so viel größer, je mehr sie allen äußern Unterschied verwische; je mehr sie zu einer äußeren Vertraulichkeit des gegenseitigen Benehmens führe, die uns der Nöthigung enthebt, die Rücksichten der Achtung und der Ehrerbietung fest zu halten, die sonstige Verhältnisse, als Alter, Stand, Stellung in der Welt und Aehnliches erheischen. Aber was ist die Folge? Die Eitelkeit, die immerdar im Herzen lauert, ist bald geschäftig, ihre Weide in dieser Art des wechselseitigen Verkehrs zu suchen; dem Umgang fehlt das Salz der Scheu; er verliert die Haltung; man nimmt sich vor einander nicht mehr in Acht, und das Ende ist Verstimmung und Beleidigung nach allen Seiten, Zerwürfniß, Vorwürfe und Verdrießlichkeit. Darum will der Apostel haben, daß die Liebe sich eben in der freudigen und willigen Erweisung aller Ehrerbietung zeige, mit welcher einer nicht auf den anderen zu warten, sondern ihm zuvorzukommen habe; so wird das Festhalte:: und Bewahren auch der äußern Angemessenheit im Umgang mit dem Nächsten, des unverkürzten achtungsvollen Ehregebens, wem die Ehre zusteht, eine gute Zucht sein, ein Damm der Eitelkeit, ein Dämpfer der fleischlichen Bequemlichkeit, ein Mittel Streit zu verhüten und entstandenen zu schlichten. Was der Apostel weiter sagt in unsrem Texte: „Nehmet euch der Heiligen Nothdurft an; herberget gerne; segnet, die euch verfolgen, segnet und fluchet nicht; freuet euch mit den Fröhlichen und weinet mit den Weinenden!“ das sind alles Aeußerungen, welche aus dem Grunde eines liebereichen Herzens sich von selbst ergeben. Wir müssen darauf verzichten, jede einzeln zu besehen. Gott gebe nur Aufrichtigkeit des Herzens und Demuth der Buße zu Gott. Aus ihr entspringt die Liebe, die nicht falsch ist, die das Arge hasset, die den Nächsten umfaßt mit Herzlichkeit, die mit ihm trägt und mit ihm weint und seine Freude theilet, die Hülfreich ist mit der That, und das rechte Wort zu finden weiß, um zu reden mit den Müden. Wir haben nur eben Zeit noch einen Blick auf die dritte Aufforderung zu werfen, welche unser Text uns vorlegt, nehmlich:
III.
Seid in der Hoffnung freudig und geduldig! Gar tröstlich und ermuthigend ist, was uns der Apostel über sie entgegen ruft: „Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal; haltet an am Gebet!“ Denn unsre Hoffnung steht darauf, daß Jesus Christus, unser hochgelobter Heiland, ein Herr und König über Alles ist; daß Alles Ihm zu Füßen liegt und Seinem Rathe dienet; daß Er Sein Reich zur Herrlichkeit bereitet, und jedes einzelnen Gliedes Gang mit eingeflochten hat in den Plan Seiner ganzen Führung. Darum mag es zu Zeiten auch dunkel um uns her sein: vor uns ist Licht, und wer dem Herrn angehört, dem wird der Glanz Seiner Herrlichkeit aufgehen schon hienieden in mancher beglückenden Erfahrung; ob aber auch der Herr damit verzieht, einst kommt es sicherlich dazu; wer aber Glauben hat, der kann auch warten, ob es ihm wohl bisweilen schwer dünkt. Darum sagt der Apostel: „Seid fröhlich in Hoffnung!“ damit wendet er unsre Blicke vorwärts; „seid geduldig in Trübsal!“ damit gießt er linderndes Oel in die Wunden, die die Gegenwart schlägt; „haltet an am Gebet!“ damit zeigt er uns die Uebung, die zu den ersten beiden Stücken Kraft gibt.
Aber diese Kraft sollen wir nicht verkommen lassen, ohne sie zu nützen. Er ermahnt uns weiter: „Seid nicht träge, was ihr thun sollt! seid brünstig im Geist! schicket euch in die Zeit!“ Drei wichtige Rathschläge. Mit dem ersten straft er die Unentschlossenheit, die so manche Kraft lähmt, weil wir die Zeit vertragen mit Besinnen und grübelndem Abwägen und Vergleichen, die uns zum Handeln vorgelegt ist. Ein Christ, der seines besten Theils gewiß ist in seinem Gott und in Aufrichtigkeit des Herzens vor Ihm wandelt, hat auch Muth etwas auf Ihn zu wagen. Er greift frisch an, was vor ihm liegt, und weil er in seinem Berufe treu ist und nicht in fremdes Gebiet auszuschreiten Lust hat, so wird er in dem eigenen wohl daheim und findet darin Rath und That. Es ist das eine Uebung des Geistes, welcher wir uns nicht entziehen dürfen mit dem Vorwand, daß doch zu allen Dingen Ueberlegung noth sei. Ja freilich ist sie noth! aber wer mit seiner Ueberlegung am schnellsten zum Ziel des Rechten kommt, der ist der Meister, und es gibt eine Art, die überlegt zu viel, weil sie beständig eins in's andre menget, nicht festen Blickes stehen bleibt bei dem Einfachen, zunächst Gebotenen, und darum schwankend wird im Urtheil, lässig in der That. Wer aber fröhlich in Hoffnung und im Glauben ist, der weiß auch dem Herrn etwas zuzutrauen, und was er macht, das geräth wohl, weil es im Herrn gethan ist. Darum sagt der Apostel weiter: „Seid brünstig im Geist!“ lasset das heilige Feuer ächter Gottesliebe bei euch nicht aufgehen, und wehret der Verdrossenheit des Mißmuths, der Trägheit des Fleisches; denkt, daß ihr damit euern Gott beleidigt, der euch nicht Ursache gibt zum Kleinmuth, sondern zu getroster Hoffnung. Mit ihr nährt und erfüllet eure Seele, so macht ihr euch das Leben leicht im rechten Sinne, und vergrabt nicht euer Pfund im Schweißtuch, freudlos, murrend, unzufrieden, weil euer Herz unlustig ist und träge. Der fröhlichste Knecht ist immer, der am meisten Arbeit fördert, und der zehn Pfund gewinnt mit seinem Einen, ist nicht erst künftig, sondern jetzt schon der beglückteste. „Darum seid brünstig im Geist!“ „Und schicket euch in die Zeit!“ d. h. nicht: richtet euer Urtheil, euer Handeln nach den wechselnden Ansichten und den Meinungen der Menschen, nach dem Zeitgeist! sondern dies ist der Sinn der apostolischen Ermahnung: ergreift den Augenblick, weil ihr ihn habt, und laßt die Zeit nicht ungenützt verstreichen, weil sie euch nicht wieder kehret! Wozu mir heute Anlaß und Aufforderung gegeben ist, das darf ich nicht verschieben aus morgen. Der heutige Tag ist mein; ob auch der morgende, wer weiß es? Darum eilet der Zeit abzugewinnen, was sie euch verstattet, das heißt: „Schicket euch in die Zeit!“ Aber lasset uns schließlich nicht vergessen das letzte Wort in unserm Texte: „Trachtet nicht nach hohen Dingen, sondern haltet euch herunter zu den niedrigen!“ Denn aus der Demuth ruht der beste und wirksamste Segen; sie gewinnt am meisten. Durch die Treue in den kleinsten Uebungen des täglichen gemeinen Lebens wird unsre Seele stark, daß sie auch größere Ausgaben lösen kann, wenn sie ihr vorgelegt sind. Aber um Christi willen, de n ihr kennt und liebet, der sich selbst sanftmüthig nennt und von Herzen demüthig, und in dessen Fußstapfen zu treten Seiner Jünger Freude und einzige wahrhafte Ehre ist: verlanget nicht und geizet nicht nach dem Ruhm großer Thaten, sondern nach dem Lobe der Anspruchlosigkeit, die gerne unbemerkt bleibt; der Herr sieht sie dennoch! Was sie im Stillen schaffen kann, hat oft allein Bestand; was groß scheint und gleißt vor den Leuten, ist vergänglich und lohnt nur allzu oft mit schweren Sorgen, mit empfindlichen Erfahrungen des Unbestandes und der Eitelkeit, die um so schmerzlicher sind, je weniger man ihrer sich versehen hätte. So lasset uns die goldne Regel merken: Gott ziehet Seine Kinder nicht groß, sondern Nein; denn in der geistlichen Armuth sind sie reich, und in der Demuth blühet ihre Krone.
O selig, wer das fassen kann! wer an der warmen Liebe, welche den Apostel zu solcher Fülle herzlicher Ermahnung treibet, selbst erwärmet! dem wird's gelingen, daß er Eines im andern lernt erreichen, und daß die Vielfältigkeit der heute vorgelegten Regeln und Ermahnungen sich ihm zusammenschließet in dem Einen seligen Dienst der Liebe, welche allezeit zu allen Dingen munter und geschickt ist, und nicht lange fragt: was thun? weil sie vor wirklichem Thun zum Fragen nicht die Zeit hat. Gott helfe uns dazu, und gebe uns in Christo Jesu ein hoffendes fröhliches Herz. Wer an Ihn glaubet, hat das Leben, und solches Leben ist's, das sich ausbreitet in der Liebe. In ihr liegt Weisheit und Verstand, Kraft und Vermögen. Wer aber Christum lieb hat, dem wird Alles gegeben in dem Einen, was er sich auserwählt hat. Amen.