Albrecht, Ludwig – Einleitung zum Johannes-Evangelium

Albrecht, Ludwig – Einleitung zum Johannes-Evangelium

So sehr die drei ersten Evangelien miteinander übereinstimmen, so groß ist die Verschiedenheit zwischen ihnen und dem vierten Evangelium. Schon diese eine Tatsache macht es unzweifelhaft, dass unser viertes Evangelium von einem Mann herrühren muss, der in der ganzen Kirche wohlbekannt und hochgeschätzt war. Denn irgendein namenloser Unbekannter hätte schon von vornherein nicht darauf rechnen können, für ein so eigenartiges und von den anderen, bereits bekannten und im Gebrauch befindlichen, Evangelien so verschiedenes Werk in der Kirche Eingang und Anerkennung zu finden.

Nun meldet die älteste Überlieferung der Kirche, der Apostel Johannes, der Sohn des Zebedäus, der Jünger, den Jesus liebte, sei der Verfasser unseres vierten Evangeliums.

Der Kirchenvater Irenäus berichtet: „Dann (d.h. später als Matthäus, Markus und Lukas) hat Johannes, der Jünger des Herrn, der auch an seiner Brust gelegen, sein Evangelium herausgegeben, als er sich zu Ephesus in Asien aufhielt.“ (Euseb. h.e. V, 8,4.) Da Irenäus in seiner Jugend noch einen Schüler des Apostels Johannes, den Bischof Polykarp von Smyrna, gekannt und gehört hat, so ist es geradezu undenkbar, dass er ein Evangelium als johanneisch angenommen hätte, über das ihm von seinem Lehrer Polykarp nicht das mindeste mitgeteilt worden war.

Ein Zeitgenosse des Irenäus, der Kirchenlehrer Klemens von Alexandria, erzählt nach der Überlieferung der Ältesten: Weil Johannes erkannte, dass das Leibliche (d.h. die menschliche Seite in der Person des Herrn) in den schon vorhandenen Evangelien ausführlich behandelt worden sei, so habe er auf dringendes Bitten seiner Freunde und von dem Geist Gottes getrieben ein geistliches Evangelium verfasst (Euseb. h.e. V, 14,7). Auch Origenes, der berühmteste aller alexandrinischen Lehrer, kennt den Apostel Johannes als den Verfasser unseres vierten Evangeliums.

Sogar in den Kreisen der Irrlehrer ist das vierte Evangelium schon im zweiten Jahrhundert als ein Werk des Apostels Johannes anerkannt und benutzt worden. Der Gnostiker Valentinus, der bereits vor dem Jahr 140 wirkte, kennt den Eingang des vierten Evangeliums, und seine ganze Schule hat das Evangelium als eine Schrift des Apostels Johannes verwertet. Ja einer der Anhänger des Valentinus namens Heraklion verfasste um das Jahr 160 eine Erklärung des ganzen vierten Evangeliums, von der uns Origenes bedeutende Bruchstücke überliefert hat. Kurz, für die äußere Bezeugung des Johannesevangeliums bleibt nichts zu wünschen übrig.

Zwar unterlässt es auch Johannes, ebenso wie die anderen Evangelisten, in seiner Schrift ausdrücklich seinen Namen zu nennen. Aber als Augenzeuge der von ihm berichteten Ereignisse gibt er sich bestimmt genug zu erkennen (1,14; 19,35).

Dass Johannes später geschrieben hat als Matthäus, Markus und Lukas, dafür zeugt außer der kirchlichen Überlieferung sein Evangelium selbst. Tatsachen zum Beispiel, die den Gemeinden aus den anderen Evangelien schon bekannt waren, übergeht er, wie z.B. Jesu Leiden in Gethsemane. Von Jesu Wundern berichtet er nur fünf, darunter vier, die sich in den anderen Evangelien nicht finden: die Verwandlung des Wassers in Wein auf der Hochzeit zu Kana (2,1-11), die Heilung des Kranken am Teich Bethzatha (5,1-9), die Heilung des Blindgeborenen (9,1-7) und die Auferweckung des Lazarus (11,1-45). Viel mehr als die anderen Evangelisten stellt Johannes die Reden Christi in den Vordergrund. Und gerade diese Reden zeigen, wie reiche Erinnerungen aus dem Leben Jesu ihm zu Gebote stehen, Erinnerungen, die nur bei einem Ohrenzeugen denkbar sind.

Aber Jesu Reden haben bei Johannes ein ganz besonderes Gepräge. Während in den drei ersten Evangelien vor allem die volkstümliche, sprichwörtliche Lehrart Jesu hervortritt, zeigt sich in Jesu Reden bei Johannes eine davon ganz abweichende, erhaben-ruhige Ausdrucksweise, die uns bei Matthäus und Lukas in dieser Art nur einmal deutlich entgegentritt, und zwar in dem einzigen Gebet Jesu, das sie uns überliefert haben (Matth. 11,25-27; Luk. 10,21-22). Der Mittelpunkt in Jesu Reden bei Johannes, namentlich in seinen Verhandlungen mit den ihm feindlichen Oberen der Juden, ist seine eigene Person, deren umfassende Bedeutung und himmlische Würde darin klar hervorgehoben wird. Während ferner Jesu besondere Belehrungen für seine Jünger in den drei ersten Evangelien vorzugsweise von dem Königreich Gottes handeln, beziehen sie sich bei Johannes hauptsächlich auf die Sendung des Heiligen Geistes, die wir bei den anderen Evangelisten nur ganz kurz angedeutet finden (Matth. 10,20; Mark. 13,11; Luk. 11,13; 12,12; 24,49). So zeigt es sich wirklich, wie nach dem Ausspruch des Kirchenlehrers Klemens das Johannesevangelium in besonderem Sinn geistlich ist, indem es in Bezug auf Jesu Person und Reden, anknüpfend an bestimmte Taten Jesu, Wahrheiten zur Sprache bringt, die die Kirche damals zwar schon kannte, die ihr aber noch nicht in einer feierlichen Denkschrift überliefert worden waren.

Denn nicht für Ungläubige, sondern für die christliche Gemeinde, und zwar zunächst für die Kirchen in Ephesus und Kleinasien, hat Johannes sein Evangelium herausgegeben. Seine Leser sollten dadurch in dem Glauben befestigt werden, Jesus sei der verheißene Messias, der Sohn Gottes (20,31). Je mehr sie aber in diesem Glauben und in der rechten Erkenntnis Jesu zunahmen, desto besser konnten sie dann auch die Lügenreden der damaligen Irrlehrer, die Johannes in seinem ersten und zweiten Brief bekämpft, durchschauen und abweisen. So erscheint denn die Angabe des Irenäus ganz glaubhaft, Johannes habe sein Evangelium im bewussten Gegensatz zu der Irrlehre seines Zeitgenossen Cerinth und der noch älteren des Nikolaus geschrieben (vgl. meine Einleitung zu dem ersten Johannesbrief und die Anmerkung zu Offb. 2,6).

Wann Johannes sein Evangelium verfasst hat, darüber ist uns nichts Bestimmtes überliefert worden. Wir erfahren nur, es ist nach den drei anderen Evangelien entstanden, und zwar nach dem Tod des Petrus und des Paulus, also nach dem Jahr 64 unserer Zeitrechnung (Euseb. h.e.V, 8, 3-4). Nicht viel später wird Johannes von Jerusalem nach Ephesus übergesiedelt sein. Dort hat er dann bis in die Tage des Kaisers Trajan (98-117) gelebt. Sicher ist, dass Johannes sein Evangelium erst nach der Zerstörung Jerusalems geschrieben hat; denn er schildert uns darin das Judentum als etwas der Kirche Fernstehendes und ihr fremd Gewordenes. Jedenfalls sind auch die Kämpfe der Kirche mit dem gesetzlichen Judenchristentum, die des Apostels Paulus ganze Wirksamkeit ausgefüllt haben, zur Zeit der Abfassung des vierten Evangeliums zu Ende gewesen. Hat aber Johannes durch sein Evangelium jenen Irrlehrern gegenüber, die er in seinen beiden ersten Briefen bestreitet, den christlichen Gemeinden einen sicheren Halt geben wollen, so kann er es erst in seinem höchsten Greisenalter, vielleicht nicht lange nach der Offenbarung, abgefasst haben. Wie es denkbar ist, dass zwei so verschiedenartige Bücher wie die Offenbarung und das Johannesevangelium von demselben Verfasser stammen können, darüber habe ich in der Einleitung zur Offenbarung das Nötige gesagt.

Das Evangelium nach Johannes schließt deutlich mit 20,31. Kapitel 21 ist ein späterer Zusatz, dessen Hauptzweck klar vor Augen liegt: es soll dadurch ein Missverständnis des Wortes Jesu in 21,22-23 verhütet werden. Man dachte nämlich aus Anlass dieses Wortes in dem Kreis der christlichen Gemeinden Kleinasiens vielfach, Johannes bliebe bis zur Wiederkunft des Herrn am Leben. Doch es kam anders: er starb, wenn auch fast hundertjährig. Das war vielleicht für manche eine schwere Enttäuschung. Als nun nach des Apostels Tod sein Evangelium in weitere Kreise kam und in den Gebrauch der Kirche überging, hielten es die Ältesten der Gemeinde von Ephesus für nötig, das von manchen falsch gedeutete Wort des Herrn an Johannes (21,22) nach seiner eigentlichen Meinung klarzustellen. Zugleich drückten sie im Schluss ihres Nachtrages ihr Siegel auf das ganze Evangelium, indem sie sich für seine volle Glaubwürdigkeit aufs feierlichste verbürgten.

Die Vierzahl der Evangelien stand der Kirche schon in der letzten Hälfte des zweiten Jahrhunderts so fest, dass Irenäus (gestorben um 202) sie als notwendig und göttlich geordnet ansieht. Er meint, es könne nur vier Evangelien geben, gleichwie es vier Weltgegenden, vier Winde und vier Cherubimantlitze gebe (adv. haer. III,11). „Das viergestaltige Evangelium“ war für ihn und seine Zeitgenossen ein Werk in vierfacher Darstellung, nach einem vierfältigen Bericht. Wie das Johannesevangelium in Kleinasien entstanden ist, so sind dort wahrscheinlich auch alle vier Evangelien schon vor der Mitte des zweiten Jahrhunderts zu einem Buch vereinigt worden und dann von da aus zu den übrigen Gemeinden gekommen.

Kurze Übersicht über den Inhalt der Frohen Botschaft nach Johannes

  • Vorwort: 1,1-18.
  • Johannes des Täufers Zeugnis und Jesu erste Jünger: 1,19-51.
  • Jesu Wirksamkeit in Galiläa, Judäa und Samaria: 2,1-4,54.
  • Jesus im Kampf mit seinen Widersachern (seine Verkennung und Anerkennung): 5,1-12,50.
    • Die Vorgänge in Jerusalem und Galiläa: 5-6.
    • Die Vorgänge ausschließlich in Jerusalem: 7,1-12,50.
  • Jesus im Kreis seiner Jünger in der Nacht vor seinem Leiden: 13-17.
  • Jesu Leiden und Sterben: 18-19.
  • Die Erscheinung des Auferstandenen: 20.
  • Der Nachtrag zum Evangelium: 21.
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