Ahlfeld, Johann Friedrich - Was siehst du am Kreuze Christi?
(Karfreitag.)
Die Gnade unseres Herrn und Heilandes Jesu Christi, die Liebe Gottes des Vaters, und die Gemeinschaft des heiligen Geistes sei mit euch Allen. Amen.
Text: Luk. 23. V. 24 - 47.
Pilatus aber urteilte, dass ihre Bitte geschähe. Und ließ den los, der um Aufruhr und Mordes willen war ins Gefängnis geworfen, um welchen sie baten, aber Jesum übergab er ihrem Willen. Und als sie ihn hinführten, ergriffen sie einen, Simon von Kyrene, der kam vom Felde, und legten das Kreuz auf ihn, dass er es Jesu nachtrüge. Es folgte ihm aber nach ein großer Haufe Volks und Weiber, die klagten und beweinten ihn, Jesus aber wandte sich um zu ihnen und sprach: Ihr Töchter von Jerusalem, weinet nicht über mich, sondern weinet über euch selbst und über eure Kinder. Denn siehe, es wird die Zeit kommen, in welcher man sagen wird: Selig sind die Unfruchtbaren und die Leiber, die nicht geboren haben, und die Brüste, die nicht gesäugt haben! Dann werden sie anfangen zu sagen zu den Bergen: Fallet über uns! und zu den Hügeln: Decket uns! Denn so man das tut am grünen Holz, was will am dürren werden? Es wurden aber auch hingeführt zwei andere Übeltäter, dass sie mit ihm abgetan würden Und als sie kamen an die Stätte, die da heißt Schädelstätte. kreuzigten sie ihn daselbst und die Übeltäter mit ihm, einen zur Rechten und einen zur Linken. Jesus aber sprach: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. Und sie teilten seine Kleider und warfen das Los darum. Und das Volk stand und sah zu. Und die Obersten samt ihnen spotteten seiner und sprachen: Er hat Andern geholfen, er helfe ihm selber, ist er Christ, der Auserwählte Gottes. Es verspotteten ihn auch die Kriegsknechte, traten zu ihm und brachten ihm Essig und sprachen: Bist du der Juden König, so hilf dir selber. Es war auch oben über ihm geschrieben die Überschrift, mit griechischen, und lateinischen und hebräischen Buchstaben: Dies ist der Juden König. Aber der Übeltäter einer, die da gehenkt waren, lästerte ihn und sprach: Bist du Christus, so hilf dir selbst und uns. Da antwortete der andere, strafte ihn und sprach: Und du fürchtest dich auch nicht vor Gott, der du doch in gleicher Verdammnis bist. Und zwar sind wir billig darinnen, denn wir empfangen, was unsere Taten wert sind, dieser aber hat nichts Ungeschicktes gehandelt. Und sprach zu Jesu: Herr, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst. Und Jesus sprach zu Ihm: Wahrlich, ich sage dir. heute wirst du mit mir im Paradiese sein. Und es war um die sechste Stunde, und es ward eine Finsternis über das ganze Land bis an die neunte Stunde. Und die Sonne verlor ihren Schein, und der Vorhang des Tempels zerriss mitten entzwei. Und Jesus rief laut und sprach: Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände! Und als er das gesagt, verschied er. Da aber der Hauptmann sah, was da geschah, pries er Gott und sprach: Fürwahr, dieser ist ein frommer Mensch gewesen.
In Christo Jesu geliebte Gemeinde. Am Todestage seines Vaters, und wenn der wirkliche Tod schon viele Jahre her ist. da geht das Kind im Geist zu seinem Sterbebette, Da ruft es sich noch einmal sein letztes Gebet, seine letzte Ermahnung, seinen letzten Segen in die Seele. Da bleibt es in seinen Gedanken, da will es nicht wieder weg. Es geht auch wohl an sein Grab, und durch seine Seele zieht an der Stätte das alte, teure Lied:
Friede sei um diesen Grabstein her!
Sanfter Friede Gottes! Ach sie haben
Einen guten Mann begraben -
Und mir war er mehr.
Träufle mir von Segen dieser Mann,
Wie ein milder Stern aus bessern Welten,
Und ich kann's ihm nicht vergelten.
Was er mir getan. -
Ein Kind, das zu solchem Gange und Herzensklange keine Lust mehr hat. ist arm und verwüstet. Sein Vater könnte aus dem Grabe herausschreien, wie Gott das Volk Israel anschreiet: „Ich habe Kinder auferzogen und erhöhet, und sie sind von mir abgefallen!“ - Ihr Christen, ihr Getauften, heute rufet es uns an ein Sterbebett so hart wie kein andres. Das Kreuz ist das Bette, Sonnenglut und Feindesspott sind die Decke des Sterbenden. Und der darauf liegt und der daran hängt, hat uns mehr geliebt, denn Vater und Mutter. - Wo ist des Christen Platz an diesem Tage? Unter dem Kreuze seines Herrn. Was tritt dir da entgegen? was siehst du da? Vielerlei. Schlimmes und Gutes. Wir sehen die Feinde des Herrn, die ihn in den Tod gebracht haben. Dort sitzen die Kriegsknechte, die um seinen Rock losen. Dort stehen die Spötter, die ihre Häupter schütteln und ihm zurufen: „Er hat Andern geholfen und kann ihm selber nicht helfen.“ Dort läuft der Mann, der den Schwamm füllet mit Essig und Galle, um ihn zu tränken. Und neben ihm hängt der Missetäter, der ihn anruft: „Bist du Gottes Sohn, so steig herab vom Kreuze und hilf dir und uns.“ Unter ihnen Allen aber hängt der Mann der Schmerzen, durchbohrt an Händen und Füßen, gekrönt mit einer Dornenkrone, und der Tod nahet ihm in langsamem aber schwerem Schritt.
Das ist das erste Bild, das uns an diesem Tage entgegentritt. Wollen wir dabei stehen bleiben? Wollen wir uns in die Bitterkeit und Trauer hineinsenken, die von da aus unsere Seelen erfasst? Ja, wir können nicht los davon. Wer kann es heute lassen, an die Mörder und an den unschuldig Sterbenden zu denken. Die Trauer muss durch unsre Seele gehen.
Aber wir haben noch ein anderes. Wir sehen im Hintergrunde dieses Bildes ein zweites, gemalt mit himmlischen Farben, gemalt mit den Versöhnungszügen. Wer das zweite sieht, und ein Christ muss es sehen, der findet darin die Versöhnung mit dem ersten. Das zweite wirft ein mildes Licht auf jenes zurück. Wir fragen uns daher zum zweiten Male, und diese Frage soll durch unsere ganze Predigt hindurch gehen:
Was siehst du am Kreuze Christi?
Die Antwort lautet:
- Die Liebe, die um uns wirbt,
- Die Liebe, die für uns stirbt,
- Die Liebe, die nie verdirbt.
Ja. Herr Jesu Christe,
Lass uns heute nicht allein
Deine Marter sehen;
Lass uns auch die Ursach sein
Und die Frucht verstehen.
Ach die Ursach war auch ich,
Ich und meine Sünde,
Diese hat gemartert dich.
Dass ich Gnade finde. Amen.
I. Die Liebe, die um uns wirbt.
Der eingeborne Sohn Gottes, wahrhaftiger Mensch wie wir, reiner denn die Sonne, denn diese hat Flecken, hängt am Kreuze. Er ist unter die Übeltäter gerechnet. Er hängt mitten dazwischen, als ob er der sonderlichste unter ihnen wäre. Er ist behandelt wie ein Übeltäter. Er ist an's Kreuz geschlagen wie sie. Wenn man dies bedenket und ins Herz sich senket, möchte man fragen: „Ist denn kein Gott mehr im Himmel, der regiert, der die Unschuld kennet, der den Unschuldigen errettet von seinen Feinden?“ Der Heilige Gottes rufet: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Ist denn Gottes Gerechtigkeit gestorben, und soll sie denn begraben werden auf dieser Schädelstätte? O nein, sie stirbt nicht.
Blicken wir zuerst empor in Gottes wunderbaren Rat. Gottes ewige, unergründliche Liebe wirbt hier um unsere Seelen, wie ein Bräutigam um die Braut. - Unter dem Gesetz kann Niemand selig werden, denn Niemand hat's erfüllet. Wenn wir die zehn Gebote lesen mit einem bangen, schlagenden Gewissen, das nicht leicht und blind über unsere Sünden hinläuft, so erkennen wir, dass wir uns an allen versündiget haben. Und was wir aus Furcht vor dem Gesetze Gutes tun, was wir aus Furcht vor dem Gesetze an Gehorsam üben, das ist kein Kindeswerk, sondern Knechtschaftsarbeit aus Furcht der göttlichen Strafe und des Gerichts. Aber nur die Kinder werden das Erbe empfangen. Unter den schweren Steinen, die draußen liegen, da wächst auch manch armes Pflänzlein und mancher Grashalm. Aber alles ist matt und vergilbt, und es ist keine Frische des Gebens und kein fröhlicher Trieb nach oben darinnen. So ist es mit den guten Werken unter dem Gesetze auch. Wenn wir am Ende unseres Lebens unsere Gerechtigkeit nach dem Gesetz mustern, wenn wir am Ende unseres Lebens uns fragen: „Hast du dem Gesetze nach im Gehorsam Gottes gestanden? Kannst du dem Gesetze nach eingehen in das neue Jerusalem, die heilige Gottesstadt?“ so antworten wir uns allzumal: „Ich bin ihm mehr denn zehntausend Pfund schuldig. Mein Gehorsam ist Nichts gewesen. Meine Sünde verdammet mich vor ihm. Meine Gerechtigkeit fällt zusammen wie ein Bau, der keinen Grund hat. Mein Himmel, den ich mir erkaufen wollte mit Werken, zerrinnt wie ein Nebel. Mein Ende ist die Verdammnis.“ - Das jammert unsern Vater im Himmel, der die Liebe ist von Anbeginn. Sein Herz schlägt dem verirrten Volke entgegen. Darum bauet er in Christo, darum bauet er heute eine neue Gerechtigkeit, nicht aus dem Gesetze, sondern aus Gnaden. - In die Welt gesandt hat er seinen lieben Sohn. Der, in dem Gottheit und Menschheit in einem vereinet, in dem alle vollkommene Fülle erscheinet, hat keine Sünde getan. Er steht da in der Nacht der Erde als der einzige helle Stern. Er steht da unter den Menschen als Gottes lieber Sohn, an dem er Wohlgefallen hat. Er gehöret Gott, denn er ist sein Kind. Er gehöret uns, denn er hat unser Fleisch und Blut angenommen, er ist unser Bruder. Den gibt Gott als Opfer und Lösegeld in den Tod. Er gibt ihn, denn er ist sein. Er nimmt ihn, denn Christus gibt aus heiliger, freier Liebe sich selbst. Und so straft Gott die Menschheit, indem er ihr teuerstes Glied an das Kreuz und in den Tod nimmt. Er bricht aus ihrem Baume die Krone, die die einzige, reine, schneeweiße Blüte getragen hat. - Aber warum war er nicht zufrieden mit der Gerechtigkeit, die er im Leben erfüllet hatte? Das Gesetz Gottes soll fest stehen, fester denn die ewigen Berge. Wo Sünde ist, soll Strafe sein. Das ganze Geschlecht hat gesündigt, sie sind allzumal abgewichen und untüchtig geworden. Da ist nicht Einer, der Gutes tue. Darum wird das Geschlecht gestraft in seinem heiligen Vertreter. Er ist für uns zur Sünde gemacht worden, er ist für uns wie ein Sünder gestraft worden, damit wir in ihm würden die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt. Wir gingen Alle in der Irre, ein Jeglicher sah auf seinen Weg; aber der Herr warf unser aller Sünde auf ihn. - Musste denn aber diese Strafe, die er auf ihn legte, die schwerste sein, musste es denn der bittere Tod am Kreuze sein? Musste denn Gott so hart fahren mit dem armen Geschlecht? Liebe Christen, ihr wisset, wie es mit der Sünde stehet. Wie viel Elend und wie viel Tod hat sie veranlasst! Wenn mit dem Tode eines Gerechten alle diese Schuld getilgt und gebrochen wird, so ist es immer noch ein Werk der unergründlichen Erbarmung Gottes. Ihr wisst, wie es mit der Vergebung stehet. Wir lernen die Sünde schätzen nach der Schwere der Strafe. Wo die Strafe leicht ist, da achtet man auch die Sünde leicht. Und wo leicht vergeben wird, da wird auch leicht wieder gesündigt. An dem Tode Christi, als des unschuldigen und unbefleckten Lammes, da lernen wir auch die Schwere und Tiefe unserer Sünde erkennen. Daran, dass das Lamm Gottes sich zu Tode getragen hat an unserer Schuld, lernen wir die Last dieser Schuld erkennen. Auch mit dieser Gerechtigkeit wirbt Gott um unsere Seelen wie ein Bräutigam um die Braut. Wenn du durch deine Sünde deinen Vater in Herzeleid und deine Mutter unter die Erde gebracht hast, dann lernest du das wohl an ihrem Grabe erkennen. O dann wird dir diese Sünde zum Stachel in deinem Herzen. Wenn sie vorher deine Lust war, ist sie dir fortan ein Gräuel. So ist diese Gerechtigkeit Gottes dir die gewaltigste Bußpredigt. Am Kreuze musst du erkennen, dass du mit deinen Sünden Christum in den Tod gebracht hast. Um deiner Sünde willen hat er so Schweres dulden müssen. Soll dir nun nicht die Sünde, die auf ihn solche Last gebracht hat, selber zur Last werden? Soll in dir nun nicht die Sünde, um derentwillen er hat sterben müssen, selber ersterben? Da Gott seinen Sohn an's Kreuz gegeben hat, da ist deine Sünde mit gekreuzigt. Sie ist mit gekreuzigt in Gottes Rat, denn Christus ist ihr Lösegeld. Sie soll mit gekreuzigt sein in deiner Tat. Denn wie kann ich in dem weiter leben, das meinen liebsten Freund in den Tod gebracht hat! - Aber auch mit seiner Liebe wirbt Gott um deine Seele wie ein Bräutigam um die Braut. Groß ist die Weckstimme im Weihnachtsfeste. Groß offenbaret sich da die Liebe Gottes, da er seinen Sohn ins Leben gibt. Aber viel größer offenbart sie sich an dem heutigen Tage, da er ihn für dich in den Tod gibt. Es gibt sich leichter in das Leben, denn in den Tod. Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingebornen Sohn gab, auf dass Alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. Er hat uns erkauft nicht mit vergänglichem Gold oder Silber, sondern mit dem heiligen und teuren Blute seines lieben Sohnes, als eines unschuldigen und unbefleckten Lammes. Simon, der Fürst in Juda, wollte seinen gefangenen Bruder Jonatan von dem syrischen Tyrannen Tryphon mit 100 Zentner Silber loskaufen. Und obgleich er voraus sah, dass er betrogen würde, schickte er dennoch das Silber. Das ist treue, brüderliche Liebe. Kaiser Friedrich l. erbot sich, der Stadt Bologna, die seinen Sohn seit 22 Jahren gefangen hielt. eine goldene Kette machen zu lassen, die um die ganze Stadtmauer reichte, wenn sie ihm seinen Sohn frei gäbe. Das ist ächte väterliche Liebe. Aber die Liebe Gottes, der seinen einigen Sohn für die Sünder, die von ihm abgefallen sind, in den Tod gibt, die geht über alle Liebe. Denn wenn das Leben eines armen Menschen nach Geld und Gold nicht zu schätzen ist, womit wollen wir dies Leben des Heiligen Gottes schätzen? Darum gibt es für den Christen keinen gewaltigeren Ruf zur Buße als das Wort: „Gott hat seines eingeborenen Sohnes nicht verschonet, sondern hat ihn für uns Alle dahingegeben.“ Das ist die erste Liebe, die wir auf Golgatha sehen, die Liebe, die um uns wirbt.
II. Die zweite ist die Liebe, die für uns stirbt.
Das ist die Liebe deines Herrn und Heilandes. Blicken wir herunter von den Himmelshöhen auf das Kreuz auf Golgatha. Blicken wir heraus aus den Tiefen des göttlichen Rates auf die Liebestat, die der Sohn für uns vollbringt. Sehen wir diese Liebe in ihrem ganzen Umfange. Wie der Herr seine Arme ausbreitet nach beiden Seiten, so breitet er die Arme seiner Liebe aus nach der ganzen Welt. Und ob er gleich diese Arme ausrecket, gezwungen durch wilde Gewalt, so breitet er doch die Arme seiner Liebe aus aus eigenem Willen und aus heiliger Freiheit. Er breitet sie aus über die, so um ihn weinen, die noch einen Rest ihrer alten Liebe mit an das Kreuz gebracht haben, welche ihre Liebe zur Schädelstätte geführt hat. Er breitet sie aus nach denen, welche stumpf und gleichgültig dastanden, welche die Schaulust an die Schädelstätte geführt hat. Er breitet sie aus nach denen, welche ihn in den Tod brachten, welche der Hass an die Schädelstätte geführt hat. Ja, wenn Judas, der ihn verriet für 30 Silberlinge, anstatt in den Tempel vor diesen Gnadenstuhl gekommen wäre, und hätte nicht die Silberlinge, sondern sich selbst mit Seel' und Leib ihm zu Füßen geworfen, er hätte seine erbarmende Liebe auch über ihn ausgebreitet. Er bittet für seine Feinde: „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Er breitet sie aus nach seiner Mutter und nach dem Jünger, den er lieb hatte; er breitet sie auch aus nach den Schächern, die an seiner Seite hingen, aber nur einer greift zu. Er breitet sie aus über Israel und die Heidenwelt. Wir fühlen es: es ist an jener Stätte ein Segen gefallen auf viele Söhne und Töchter Abrahams, es ist auch ein Segen gefallen auf den römischen Hauptmann, der die Wache hielt mit seiner Schaar. Er breitet sie aus nach denen, die vor ihm gelebt haben, und nach denen, die in Zukunft leben sollen. Die da warteten im stillen Reich der Toten, dass sich ihre Erlösung nahe, schloss er in seine Liebe. Die noch nicht geboren waren, trug er auf seinem Herzen. Dem Hohenpriester Israels waren die zwölf Geschlechter Israels auf sein Schildlein auf der Brust geschrieben. Christo, diesem wahrhaftigen Hohenpriester, waren alle Völker der Erde und alle einzelnen Seelen tief ins Herz geschrieben, nicht in Stein, sondern in die lebendige Liebe hinein. - O liebe Brüder, wenn es kalt ist, zieht die Kälte Alles zusammen, z. B. deine Finger, dass dir dein Trauring heruntergleiten möchte. Wenn die Kälte der Not über dich kommt, dann zieht sie dein Herz zusammen. Die Liebe wird eng. Sie hat keinen Raum mehr für Freunde, oft nicht mehr für Vater und Mutter, Bruder und Schwester. Und hier in diesem Auserwählten Gottes dehnet und weitet sie sich gerade recht. Er umfasst mit seiner Liebe Alles, alle Kreatur, alle Völker, alle Zeit. In seinem Sterben vertrauet er sich mit der ganzen Menschheit. Er stirbt für ihre Sünde. Und wie seine Liebe weit wird, wird sie nicht dünn und locker. Welche Tiefe und Lauterkeit zeiget sich in dieser Liebe! Tief ist das Meer, doch kann man es gründen und den Boden finden. Tief gehen in die Erde die Schächte, aus denen das Gold und das Silber hervorgebracht wird. Aber tiefer ist die Liebe, aus der uns das ächte Gold unserer Erlösung an den Tag gebracht ist. - Was war es doch, was ihn bewogen hat? Niemand hatte ihm Etwas zuvorgetan, dass er es ihm solle wiedervergelten. Er leidet für die, so seine Feinde waren. Seine Treuesten hatten ihn verleugnet und waren geflohen. Jetzt standen sie von ferne, hoben scheu und ängstlich ihre Blicke zu ihm empor. Er verleugnet sie nicht, er verleugnet in seiner Liebe auch die nicht, die ihn in den Tod gebracht hatten. - Und was hatte er von seiner Liebe? Wo sonst Jemand stirbt für sein Vaterland oder für seine Freunde, da hat er doch das, dass dies Vaterland ihn in dankbarem Herzen trägt, dass es seine Grabstätte schmücket mit den Denkmälern der Liebe. Aber unter dem Geschlechte, für das er zunächst starb, waren nur wenige Seelen, die ihn so in ihrem Herzen trugen. Erst unter einem späteren Geschlechte sollte diese Liebe für ihn aufblühen. Die meisten derer, die um das Kreuz standen, freuten sich, dass er tot war, und versiegelten und bewachten das Grab, dass er ja sicher tot bliebe. - Fasse, lieber Christ, ja die Lauterkeit seines Todes recht ins Auge. Wenn sonst dem Menschen die letzten Stunden kommen, wird er im Todeskampfe und Todeskrampfe hin und her gezogen. Und wie Kampf und Krampf durch den Leib gehen, so gehen sie auch durch die Seele. Da wird gerüttelt am Glauben, da wird gerüttelt an der Liebe. Wie Wenige sind, die auf stillem Bette ohne die Kämpfe in Glauben und Liebe still und eben dahin sterben! Sein Totenbette aber ist das Kreuz. Seine letzten Zusprecher sind seine Feinde. Nur aus unserer Seele heraus, nur im Gefühl unserer Sündenlast, die er trug, ruft er: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen.“ Aber bald hellet es sich auch hier auf, bald bricht er aus in das Siegeswort: „Es ist vollbracht.“ Vor seine Liebe jedoch, die ganz sein eigen ist, tritt auch nicht einmal ein Schauen. Er hat sie Alle geliebt bis in den Tod, bis in das Wort: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ - Beherzige endlich die Beharrlichkeit dieser Liebe. Alles hat die Welt getan, um sie auszulöschen. Schon die ganzen Wochen, die dem Kreuzestode vorangehen, zielen dahin ab, die Liebe zu töten. Denn wie Laug das Feuer tötet, so tötet Hass die Liebe, Und als die eigentlichen Martertage kamen, da folgt Eins auf das Andere. Vor Hannas, vor Caiphas, vor Herodes und Pilatus wird er geführt. Und überall hat er ein gleiches Los. Spott und Hohn, Schmach und Schläge sind sein Teil. Dann folgt noch die Dornenkrone. dann der Kreuzesgang, dann das Leiden am Kreuze. Aber immer hat er sein heilig Ziel im Auge. Mit Gerechtigkeit und Liebe wirbt er um unsere Seelen. Wenn es darauf ankommt, für eine heilige und teure Sache zu sterben, dann stirbt auch wohl ein Anderer, wenn es schnell gestorben ist. Aber unter dieser Reihe von Qualen da wird die Liebe müde. Nur die seine ermüdet nicht. Sie hält aus bis zu dem Worte: „Es ist vollbracht!“
III. Die Liebe, die nie verdirbt.
Haben wir nun des Vaters und des Sohnes Liebe hier gesehen, so wollen wir auch noch eine dritte Liebe hier sehen: die Liebe, die nie verdirbt. Wessen Liebe ist die dritte? Ist es die seiner Mutter, die den Sohn nicht verleugnet? Ist es die des Jüngers, der ihn lieb hatte, und der gern das Vermächtnis hinnimmt, das ihm Christus vom Kreuze herunter zuspricht? Ja, sie ist nicht verdorben. Er hat Glauben gehalten. Er ist bis zu ihrem Tode mit ihr in Jerusalem geblieben. Er hat für sie gesorgt, wie ein einiger Sohn für seine Mutter sorget. Ist es die Liebe des Schächers, der sich in den Todesfluten anklammerte an den Todesanker? Sie ist auch nicht verdorben, der Herr hat ihm die Pforten des Paradieses aufgetan, Ist es die des Hauptmanns, der ausrief: „Fürwahr, dieser ist ein frommer Mensch gewesen?“ Auch seine Liebe ist nicht verdorben. Das Bild des sterbenden Herrn ist mitgegangen und hat ihn getragen in seinen Kämpfen. Es ist mitgegangen, und an dem sterbenden Sohne Gottes hat er leben und sterben gelernt als ein Kind Gottes. Aber sehen möchten wir am Kreuze deine Liebe, unserer Aller Liebe. Jedes Land, jeder Boden hat seine Früchte, die da gedeihen. Auf Libanon wuchsen die Zedern, auf Basan die Eichen. Golgatha, die Stätte am Kreuz Christi, hat auch ihre Frucht, die da gedeihet. Ihr Name ist Liebe, die Liebe in den Herzen der Bekenner des Herrn. Seine Wunden sind die Quellen, aus denen sie fließt, seine letzten Worte der Hauch, der sie wachsen und gedeihen lässt. Du Menschenherz, an dieser Stätte musst du an die Erbarmung deines Gottes glauben lernen. Mit seiner höchsten Liebe ringt er hier um deinen Glauben und um deine Liebe. An dieser Stelle musst du an die Liebe deines Heilandes glauben lernen. Soll er umsonst verspottet und zerschlagen sein? Hat er umsonst für dich geblutet und gebetet? Hat er dich umsonst da gesegnet? Schlägt dein Herz nicht zu dem, dessen Herz für dich geschlagen hat bis in den Tod? Wäre denn kein Dank in deiner Seele für das Liebeswerk, das er an diesem Tage für dich vollbracht hat? Die Erde erbebte, da er starb. Also soll auch unser Herz erbeben in seinen Tiefen. Wenn es die tote Kreatur erregte, der kein Ebenbild Gottes aufgeprägt ist: wie soll es dich bewegen! Wie soll der heilige Rest des allen aus Gott geborenen Menschen in dir nicht aufstehen und hindurchbrechen! Die Felsen zerreißen. Nun ja, es gibt Menschenherzen, die härter sind als Fels, die unter dem Feuer der Trübsal nicht weich werden, die auch der Hammer der göttlichen Züchtigung nicht zerschmeißet zur Buße. Siehe hier, die Liebe wirbt um dich, die Liebe stirbt um dich, dass du nicht verderbest. Meine Liebe ist für mich gekreuzigt, auf dass die Sünde in mir gekreuzigt werde, und ich das neue Leben in Glauben und Liebe lebe. Ich muss den lieben, der ihn für mich in den Tod gegeben hat; ich muss ihn lieben, der für mich gestorben ist. - Siehst du aber Christum am Kreuze an, hast du seinen Tod und seine Treue bis in den Tod vor Augen, so muss auch heilige Bruderliebe dein Karfreitagserbe sein. Da lernest du aus seiner Liebe Vater und Mutter recht lieben, denn alle natürliche Liebe ist unechtes Gold, das da verfliegt im Schmelztiegel der Trübsal. Da lernest du aus seiner Liebe die lieben, die uns weder Gutes noch Böses getan haben. Da lernest du aus seiner Liebe lieben deine Feinde, segnen, die dir fluchen, wohl tun denen, die dich hassen, bitten für die, so dich beleidigen und verfolgen. Der Königin Constantia von Arragonien fiel im 13. Jahrhundert nach Christo der Prinz Carl von Salerno als Gefangener in die Hände. Sein Vater hatte ihren Vater, hatte auch ihren Vetter Conradin um Krone und Leben gebracht. An einem Freitage in der Frühe schickte sie zu ihm und ließ ihm sagen, er möchte für seine Seele sorgen, denn heute sei sein Todestag. Er solle auf dieselbe Weise sterben wie ihr Vetter, unter dem Schwert. Der Gefangene antwortete, der Tod würde ihm um so leichter werden, weil er ihn an dem Todestage seines Erlösers leiden solle. Als die Königin das hörte, sprach sie: „Weil der Prinz von Salerno dieses Tages wegen gern stirbt, will ich ihm auch aus Liebe zu dem verzeihen, der an diesem Tage gestorben ist, um uns zu erlösen.“ Sogleich ließ sie ihn benachrichtigen, dass ihm das Leben geschenkt sei. So gewiss wir die Liebe Gottes sehen über dem Kreuze und die Liebe Christi am Kreuze, so gewiss will Christus unsere Liebe sehen unter dem Kreuze. Der Vater hat den Sohn in den Tod gegeben, der Sohn ist für uns gestorben, wir sollen um seinetwillen unsern natürlichen Menschen in den Tod geben. Die Liebe, die dies ausrichtet, verdirbt nun und nimmer. Wer von seinem Herrn im heiligen Geist diese Opferkraft empfängt, hat in ihm die Erlösung, die Erlösung durch sein Blut, hat in ihm und mit ihm die Auferstehung und das Leben, feiert mit ihm Ostern. Amen.