Ahlfeld, Johann Friedrich - Die rechte evangelische Fastenfeier.

(Estomihi 1848.)

Die Gnade unseres Herrn und Heilandes Jesu Christi, die Liebe Gottes des Vaters, und die Gemeinschaft des heiligen Geistes sei mit euch Allen. Amen.

Text: Lukas 18. 31-43.
Er nahm aber zu sich die Zwölfe und sprach zu ihnen: Sehet, wir gehen hinauf gen Jerusalem, und es wird Alles vollendet werden, das geschrieben ist durch die Propheten von des Menschen Sohne. Denn er wird überantwortet werden den Heiden; und er wird verspottet und geschmäht und verspeit werden; und sie werden ihn geißeln und töten; und am dritten Tage wird er wieder auferstehen. Sie aber vernahmen der keins, und die Rede war ihnen verborgen, und wussten nicht, was das gesagt war. Es geschah aber, da er nahe zu Jericho kam, saß ein Blinder am Wege und bettelte, Da er aber hörte das Volk, das durchhin ging, forschte er, was das wäre. Da verkündigten sie ihm, Jesus von Nazareth ginge vorüber. Und er rief und sprach: Jesu, du Sohn Davids, erbarme dich meiner! Die aber Vorne an gingen, bedrohten ihn. er sollte schweigen. Er aber schrie vielmehr: Du Sohn Davids, erbarme dich meiner! Jesus aber stand stille und hieß ihn zu sich führen. Da sie ihn aber nahe bei ihn brachten, fragte er ihn und sprach: Was willst du, dass ich dir tun soll? Er sprach: Herr, dass ich sehen möge. Jesus sprach zu ihm: Sei sehend, dein Glaube hat dir geholfen., Und alsobald ward er sehend und folgte ihm nach und pries Gott. Und alles Volk, das solches sah, lobte Gott.

Wenn, in dem Herrn geliebte Gemeinde, das Volk Israel sich schwer versündigt hatte und ein schweres Kreuz auf ihm lag, wenn Gott das Volk mit Krieg, Hunger oder Pestilenz schlug, dann gaben die Könige Befehl: „Schreiet ein Fasten aus im Lande, dass sich das Volk demütige vor dem Herrn seinem Gott, ob er dreinsehen und sein Erbarmen an seinen Knechten offenbaren wolle.“ Dann schwieg im Lande alle Freude. Die Festkleider wurden bei Seite gelegt; einen Sack gürtete man um die Lenden und streute Asche auf das Haupt. Es schwieg die Stimme des Bräutigams und der Braut. Alles Volk hatte nur einen Ruf, den Ruf, dass Gott die Plage von ihm nehmen, dass er ihm seine Sünden vergeben, dass er seine Erbarmung von Neuem aufschließen möge. -

In dieser Woche beginnt die Fastenzeit der christlichen Kirche. Sie ist die Gedenkzeit an die schwerste Sünde, die unser Geschlecht je begangen hat. Die Menschen haben ihren eigenen und einigen Heiland an das Holz geschlagen. Sie ist die Gedenkzeit an die höchste Erbarmung und Liebe, die wir je erfahren haben. Denn „fürwahr, er trug unsere Krankheit, er nahm auf sich unsere Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Aber er ist um unserer Missetat willen verwundet und um unserer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Friede hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt. Wir gingen alle in der Irre wie Schafe, aber der Herr warf unser aller Sünde auf ihn. Da er gestraft und gemartert ward, tat er seinen Mund nicht auf, wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird, und wie ein Schaf, das verstummet vor seinem Scherer und seinen Mund nicht auftut.“ Das ist Grund genug zum Trauern und Fasten, und so lange noch ein Fünklein von Glauben und von Dankbarkeit gegen diesen Mittler und Bürgen übrig bleibt, so lange wird auch der heilige Ernst und die liebende Trauer durch die Fastenwochen gehen wie ein schwarzer Faden, an dessen Ende das goldene Siegel unserer Erlösung hängt. Das ist der alte, dauernde Grund der Fasten. -

Oft aber bringt das sündige Treiben der Welt noch neue Gründe dazu. Wie waren wir heute vor acht Tagen noch so sicher ein jeder an seinem Orte! Wir machten unsere Rechnung noch hinaus auf lange Zeit, wie wenn die Erde eine Ruhestätte wäre, auf der man ungestört seine Pläne machen und ausführen könnte. Und doch war der Streich schon gefallen, doch war das Erdbeben schon losgebrochen, das seinen Herd und Sitz in Frankreich hat, dessen Wellen aber durch ganz Europa dahinschlagen. Wer ist denn unter uns, dem nicht Unruhe und Sorge durch Herz und Gebeine gegangen sei? Wenn in zwei Tagen Königsgeschlechter fallen können, die da meinten, sie hätten ihren Thron so fest gebaut, wie der Adler sein Nest auf dem Felsen, was kann dann im Jahre geschehen, was stehet dann fest? Auch unser Leben, auch unsere Ruhe ist wie ein Zelt, dessen Pfähle in einem Tage ausgezogen, dessen Stricke über Nacht abgeschnitten werden können. Auch wir haben Zorn und Strafe verdient um unserer Sünde willen. - Aber wollen wir bei dem Hinblick gen Westen in Kleinmut fallen? Nein, nimmer. Dem Herrn wollen wir dabei ans Herz fallen. Seine Liebe, mit der er für uns in den Tod gegangen ist, soll uns zu ihm ziehen an Seilen der Liebe, und die Empörung der Welt soll uns zu ihm treiben, auf dass auch sie seinem Reiche und seiner Ehre dienen müsse. Ruhen wir in ihm, dann haben wir auch einen Verlass gegen die Stürme, die da kommen können. Wer will uns scheiden von der Liebe Gottes? Trübsal, oder Angst, oder Verfolgung, oder Hunger, oder Blöße, oder Fährlichkeit oder Schwert? In dem Allen überwinden wir weit um des willen, der uns geliebt hat. -

Und dass wir uns recht in ihn versenken, dass wir recht mit ihm eins werden auf Leben und Sterben, dazu soll uns die liebe Fastenzeit helfen, die in dieser Woche angeht. Wir reden heute von

Der rechten evangelischen Fastenfeier.

Und zwar:

  1. Von der Fastenstimmung.
  2. Von den Fastenbitten.

Dreieiniger Gott, du wollest unsere Herzen selbst stimmen, dass unsere Sünde und deine Gnade und das bittere Leiden unseres Herrn und Heilandes in denselben stets wiederklinge zu deiner Ehre und unserer armen Seelen Errettung. Amen.

I.

Die evangelische Fastenstimmung.

Der Grundton der ganzen Fastenzeit ist angegeben in den ersten Versen unseres Textes. Der Herr nimmt zu sich die Zwölfe und spricht zu ihnen: „Sehet, wir gehen hinauf gen Jerusalem, und es wird Alles vollendet werden, was geschrieben ist durch die Propheten von des Menschen Sohne. Denn er wird überantwortet werden den Heiden, und er wird verspottet und geschmäht und verspeit werden. Und sie werden ihn geißeln und töten, und am dritten Tage wird er wieder auferstehen“ Wie damals der Herr die Zwölfe zu sich nahm und ihnen sein Leiden und seinen Ausgang verkündigte, so nimmt er jetzt die ganze Kirche zu sich, auch uns allzumal, geliebte Gemeine, und verkündigt uns dasselbe. Also Jedem von uns sagt es der Herr, und die Geschichte fügt hinzu: Er hat wahr geredet. So wie wir eintreten in die Fastenzeit, kommen wir in die Tage seines Leidens. Sein Tod ist ja nicht plötzlich gekommen, sondern die Anschläge der Obersten in Israel bereiteten ihn nach und nach vor. Ihm aber war der Keines verborgen. Wie die Nacht langsam niedersinkt, wie die Schatten am Abend langsam wachsen, bis völliges Dunkel wird, so wuchs auch sein Leiden bis zur Todesnacht. Das erste Gefühl, das uns dabei übermannt, ist Mitleid. Der Unschuldige wird in den Tod gebracht. Welcher keine Sünde getan hat, in dessen Munde kein Betrug erfunden ist, der muss den bittersten Kelch des Sünders trinken. Dies Mitleid aber muss auch jeder Heide und jeder Jude fühlen, der nicht mit Stumpfheit und bösem Willen auch die letzte Stimme des Herzens in sich erstickt hat. In einem Christenherzen muss es noch anders aussehen, muss sich noch Anderes regen in dieser Zeit. Wenn du dir sagst „Er hat nicht um seinetwillen gelitten, Gott hat ihn nicht um seinetwillen in die Marter gegeben,“ so musst du zugleich fragen: „Um weswillen hat er denn gelitten?“ Die Antwort lautet: „Um meinetwillen, ja um meiner selbst willen. Für uns hat er sich dar gegeben zur Gabe und Opfer, Gott zu einem süßen Geruch.“

O Herr, was du erduldet,
Ist Alles meine Last,
Ich, ich hab es geschuldet.
Was du getragen hast,
Schau her, hier steh' ich Armer,
Der Zorn verdienet hat.
Gib mir, mein Erbarmer,
Den Anblick deiner Gnad.

Für mich hast du gerungen in jener Nacht am Ölberge, für mich bist du gefangen und gebunden worden, für mich bist du verspottet vor geistlichem und weltlichem Gericht, für mich hast du die Dornenkrone und das Kreuz getragen, für mich bist du angenagelt an den Todespfahl, und für mich bist du endlich unter unaussprechlichen Schmerzen gestorben. Du hast den Tod erwählet, damit ich das Leben hätte. Du bist für uns zur Sünde gemacht worden, auf dass wir in dir würden die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt. -

O liebe Christen, wenn dies Bewusstsein, wenn dieser Glaube, der doch der Grund unseres Heiles ist, unsere Herzen erfüllte in dieser Fastenzeit, dann wäre die rechte Fastenstimmung von selbst da. Dann brauchte keine Obrigkeit Freuden in dieser Zeit zu verbieten; das Herz verböte sie von selbst. Gottfried von Boullion sprach, als man ihm die Königskrone von Jerusalem anbot: „Ich will an dem Orte keine Königskrone tragen, wo mein Herr die Dornenkrone getragen hat.“ Und wir würden sprechen: „Ich will in den Tagen keine Freude haben, wo mein Herr um meiner Seele willen betrübt war bis in den Tod.“ Ihr Witwen, wenn eures. Mannes Todestag herankommt, dann werdet ihr von selbst stille, die Freude schweigt von selbst, und ihr begeht die Zeit als eine Fastenzeit. Ihr Waisen, wenn die Krankheits- und Sterbewochen eures Vaters und eurer Mutter herankommen, dann braucht euch kein Mensch zu sagen: „Nun höret auf euch zu freuen, die Freude passt nicht in diese Zeit.“ Das Licht her Freude erlischt von selbst, wie eine Lampe, auf der kein Öl mehr ist.

Ja, so ist es. Aus dieser Versammlung würde mehr denn ein Zeuge für die Wahrheit dieses Wortes auftreten. Haben nun Vater und Mutter mehr für dich getan, denn er? Liebst du Vater und Mutter mehr, denn ihn? Weißt du nicht, dass die also tun, seiner nicht wert sind? Vater und Mutter sind gestorben, aber der Tod war der Sünde Sold. Er ist rein und unschuldig gestorben. Sie sind gestorben, er aber ist für dich gestorben. - Und nun fragen wir uns: Wie steht es um unsere Stimmung in der Fastenzeit, um unsere Mittrauer, um unser Mitleiden mit dem leidenden Jesus? Wenn einem Baum oder einem Weinstock ein arger Hieb in den Stamm getan wird, dann zittert er durch alle Zweige, dann welken alle Zweige, und die Blätter hängen schlaff nieder. Jesus Christus ist der Weinstock, die Gläubigen sind die Reben. Sein Tod ist der Streich, der gegen den Stamm geführt wird. Fühlst du Nichts davon, so ist es auch nicht wahr, dass du ein lebendiger Rebe bist. Was erinnert uns denn aber an die Fastenzeit? Was ist denn das Hauptinteresse, das uns in derselben regt? Zumeist nur ein sehr äußeres, ja völlig unpassendes. Der Landmann spricht: „Die Fastenzeit ist da, ich muss meine Feldarbeiten beginnen.“ Also nicht Christus, sondern das Feld. Der Schiffer spricht: .Die Fastenzeit ist da, die Flüsse werfen das Eis ab, ich muss mich zur Frühlingszeit rüsten.“ Also nicht Christus, sondern sein Kahn. Tausend Andere dächten gar nicht daran, wenn nicht mit dieser Zeit die Fastnachtsvergnügungen und die Fastnachtsgelage, die Karnevalsnarretei und die Maskeraden einträten. Wie sind wir denn in der evangelischen Kirche zu diesem Unwesen gekommen? Es ist ein katholisches Erbe. In der katholischen Kirche wird vom ersten Fasttage ab wirklich gefastet. Nun will man sich den Tag oder die Tage zuvor noch gründlich Etwas zu Gute tun. Daher alle diese Freuden. Was für Recht haben sie aber in der evangelischen Kirche? Hier ist ja doch kein leiblich Fasten geboten, hier ist also auch kein Anspruch auf Entschädigung. Das Fleisch, Geliebte, fragt nach keiner Konfession. Wenn es nur seine Rechnung findet, so harmoniert es mit den Katholiken, und wenn es nicht anders ist, auch mit den Heiden. Also hier erinnern an die Fastenzeit nicht Christi Leiden, sondern des Fleisches Freuden. Wollt ihr aber den Abstand zwischen dem Grundtone der ganzen Fastenzeit und den Freuden, mit denen sie gewöhnlich begonnen wird, einmal recht fühlen? Wohlan, denket euch hin in eine solche Karnevalsnacht, in das Wogen der Freude und der Masken. Da träte denn ein Mann herein und hielte ein Bild mit dem Gekreuzigten in der Hand und riefe durch die Versammlung: „Sehet, wir gehen hinauf gen Jerusalem, und es wird Alles vollendet werden, was geschrieben ist durch die Propheten von des Menschen Sohne. Denn er wird überantwortet werden den Heiden, und er wird verspottet und geschmäht und verspeit werden. Und sie werden ihn geißeln und töten, und am dritten Tage wird er wieder auferstehen.“ Weiter brauchte er Nichts zu sagen. Wahrlich, ich sage euch. Vielen würde hinter ihren Masken die Röte der Scham, vielleicht die Morgenröte neuen Lebens, über das Gesicht fahren. Es würden Etliche da sein, die nach der Tür suchten, die da eilten, dass sie nach Hause kämen, und die den Weg, den sie mit Freuden hingegangen, mit Tränen zurückgingen, darum dass sie die Zeit, wo sie ihr Heiland losgekauft hat, nicht mit vergänglichem Golde oder Silber, sondern mit seinem heiligen und teuren Blut, so verkannt und verkehret, und mit Tand und Eitelkeit der Welt begonnen hätten. -

Der dritte Klang in jener Fastenstimmung ist der: „Der Herr ist um unserer Sünde willen gestorben, wir sollen um seinetwillen der Sünde absterben.“ Die ersten Verse in unserm Texte drücken so recht klar aus, wie der Herr dem Tode immer näher kommt, wie er endlich in den Tod, in das Grab kommt. Das ist für deinen alten Menschen ein Fingerzeig, wir möchten sagen, ein Fastenprogramm, Wie der Herr dem Leben nach und nach abstirbt, soll er auch ersterben. Er soll mit ihm begraben werden in den Tod. Was in mir der Welt anhängt, sei in Christi Grab gesenkt. -

Nun sage, ist dieses Mitleiden und Mitsterben mit Christo ein so mechanisch Ding? Kannst du sagen: „Heute will ich mich erst noch einmal recht mit der Welt freuen, und morgen will ich diese Heilsarbeit anfangen?“ Vergiss es nicht: Zu dem Jüngling, der erst seinen Vater begraben und dann ihm nachfolgen wollte, sprach er: „Lasset die Toten ihre Toten begraben. Wer die Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt zum Reich Gottes.“ Nun wahrlich, dass Jemand hingehe und begrabe seinen Vater, das ist nötiger, denn dass er sich noch einmal in eine Freude hineinstürze, die den leidenden Christus zu ihrem, wenn auch unbewussten Deckmantel nimmt. Wie möchte sein Urteil darüber lauten! Das Kreuz wird ja vergessen, und aus wilden Rosen, die um seinen Stamm herum wachsen, flicht man sich Kränze der Lust. -

Der Herr hat unschuldig gelitten, er hat für mich gelitten, er ist für mich gestorben, ich soll der Sünde absterben und der Gerechtigkeit leben, das soll für alle gläubige Christen der Grundton der Fastenzeit sein. Leben soll aus dem Tod hervorgehen. Einst kam der Gras Zinzendorf, der Erneuerer der alten Brüdergemeinde, der so viel auf Reisen gewesen ist, nach Düsseldorf. Unter vielen andern schönen Gemälden fand er einen Christus mit der Dornenkrone. Unter demselben stand geschrieben: „Das tat ich für dich, was tust du für mich?“ Diese Frage fiel ihm schwer aufs Herz. Er konnte wenig darauf antworten. Aber der Vorsatz stand fest, ihm sich selbst und sein ganzes Leben zu geben. Mag der Herr auch uns aus Gnaden diesen Vorsatz mit lebendigen Buchstaben ins Herz schreiben! Später kam der Graf Zinzendorf auf einer andern Reise als Fremdling in ein Gasthaus auf dem Lande. In der Stube hing ein Christusbild am Kreuze. Als er allein im Zimmer war, schrieb er dieselben Worte unter das Bild. Nach Jahr und Tag kam er wieder. Als er eintrat, bewillkommneten ihn Wirth und Wirtin aufs Herzlichste und dankten ihm für die Unterschrift, die er ihnen hinterlassen habe. Sie hatte sie aus dem Schlaf aufgeweckt, sie hatte ihnen die Augen über sich selbst und über ihren Heiland aufgetan. In diese Fastenstimmung müssen wir Alle kommen. Um sie rufen wir auch den Herrn an in

II.

unserer Fastenbitte.

Als Jesus nahe bei Jericho war, saß ein Blinder am Wege und bettelte. Da er aber das Volk hörte, das durchhin ging, forschte er, was das wäre. Da verkündigten sie ihm, Jesus von Nazareth ginge vorüber. Und er rief und sprach: .Jesu, du Sohn Davids, erbarme dich meiner!“ Wer Jesum Christum nicht als lebendiges Gut im Herzen hat, wem das Licht aus Gott geboren Herz und Augen nicht erleuchtet hat, der ist auch ein Blinder am Wege. Und wenn er in weltlicher Klugheit so weit gekommen wäre, dass er das Gras wachsen hörte, ja wenn er weissagen könnte und wüsste alle Geheimnisse, so wäre es doch Nichts, so wäre er doch ein Blinder. Der Glaube an Christum und die Liebe zu ihm sind die beiden Augen des inwendigen Menschen. An unserm Blinden im Evangelio ist das erste Erfreuliche, dass er seine Blindheit kennt. Dann setzt er sich an den Weg, da Jesus vorüberziehet. Dann ruft er: „Jesu, du Sohn Davids, erbarme dich meiner.“ Und da man ihn bedrohet, dass er schweigen soll, schreit er vielmehr: „Jesu, du Sohn Davids, erbarme dich meiner.“ Endlich legt er dem Herrn seine Bitte vor: „Herr, dass ich sehen möge!“ -

Du Menschenkind, das erste Erfreuliche an dir ist, dass du deine natürliche Blindheit in geistlichen Dingen erkennest. Nur dadurch, dass die Sonne scheint, können wir die Sonne sehen. Nur dadurch, dass Gott sich uns in Christo geoffenbart hat, können wir Gott erkennen. Und wenn du fühlest, dass du aus dir selber den Heilsweg nicht sehen und nicht gehen kannst, so setze dich an den Weg, wo Christus vorüber zieht. Welches ist der Weg? Es ist vornehmlich die Fastenstraße, seine Marterstraße. Nie geht seine Liebe fenstern Schrittes an dir vorüber, als in den Tagen, da er für dich nach Golgatha geht. Da schreie: „Jesu, du Sohn Davids, erbarme dich meiner!“ Man wird auch dich zum Schweigen bringen wollen, wie den Blinden bei Jericho. Man wird dir sagen: „Was schreiest du ihm nach? Es ist ein alter Wahn, dass in ihm allein Heil sei.“ Man wird dein Gewissen stillen wollen mit schönen Reden. Aber höre nicht auf, schreie ihm nach. Und wenn er dich fragt: „Was willst du, dass ich dir tun soll?“ so antworte: „Herr, dass ich sehen möge!“ Jenem Blinden hat er seine beiden Augen aufgetan. Auch dir wird er beide Augen des Geistes auftun. Was ist es aber mit den beiden Augen des Geistes? Eins sieht nieder, eins sieht deine Sünde. Das andere sieht hinauf, das sieht seine Gnade. Hast du schon jemals deine Sünde recht erkannt? Ihrer ist mehr, denn des Sandes am Meer, sie gehet uns über das Haupt, sie ist schwerer denn Blei. Wenn du fremde Sünde ansiehst, hast du ein Vergrößerungsglas vor. Wenn du deine eigne ansiehst, hast du einen Flor oder gar das Häutlein Tobiä über dem Auge. Das muss herunter. O wenn Christus in dieser Fastenzeit, wenn er jetzt vor uns vorüberzieht, dieses ablöste, dann wäre ein großer Schritt zu unserer Heilung, zu unserm Sehen geschehen. -

Hast du je die Fülle der göttlichen Gnade gefühlt? Nur wo das Auge helle wird, das nach unten sieht, wird auch das helle, das nach oben sieht. Nur wenn ich die Tiefe meiner Sünde erkenne, fange ich auch an, die Länge und Breite, die Höhe und Tiefe der göttlichen Barmherzigkeit recht zu erkennen. Wie steht es aber damit unter uns? Ja, wir nennen Christum unsern Heiland. Wir sagen: „ Er ist für uns gestorben.“ Aber sein Werk steht nicht vor uns in der unaussprechlichen Glorie, in der es vor uns stehen müsste. Es steht uns so fern, es liegt noch wie ein Nebel um dasselbe. Weil wir noch nicht aus einem geängstigten und zerschlagenen Herzen zum Kreuze aufschauen, fühlen wir auch die grundlose Barmherzigkeit noch nicht ganz. Weil das eine Auge noch nicht helle geworden ist, bleibt auch das andere trübe. Der Missionar Brainerd sah eine bekehrte Indianerin in einer Versammlung bitterlich weinen. Er fragte sie um die Ursache. Sie antwortete: „ Wenn ich daran denke, dass Christus wie ein Lamm zur Schlachtbank geführt ist, und dass er sein Blut für die Sünder vergossen hat, dann kann ich das Weinen nicht lassen.“ Wir können es noch lassen, weil uns das Wort „für die Sünder“ und „für mich“ noch keine lebendige Wahrheit, noch kein über Alles süßer Trost geworden ist. Daher lasst uns immerfort rufen: „ Jesu, du Sohn Davids, erbarme dich meiner!“ und „dass ich sehen möge! dass ich sehen möge meine Sünde, dass ich sehen möge deine Gnade!“ Wenn diese beiden Augen helle sind, dann ist es genug, dann ist es selbst im Tode helle.

Isaak Newton, der berühmte englische Sternkundige, der mit Augen und Ferngläsern so viel am Firmament gesucht hatte, bekannte auf seinem Sterbebette: „Ich habe im Leben zwei wichtige Dinge gelernt; erstens, dass ich ein großer Sünder bin, und zweitens, dass Jesus Christus ein noch größerer Heiland ist.“ Da waren beide Augen helle. Wie aber, wenn eins von beiden dunkel ist? Was jammerst du schon, wenn du mit einem deiner leiblichen Augen nicht sehen kannst! Ein römischer Kaiser hatte einem seiner Hofdiener im Zorn eins ausgestoßen. Hernach tat es ihm leid. Er fragte ihn wiederholt, was er ihm für das Auge geben sollte? Der Hofdiener antwortete: „Ach Herr, wenn ihr mir mein Auge könntet wiedergeben, ich achtete es höher, denn ein Königreich!“ Und höher stehen die Augen des Geistes, denn die des Leibes. Hier hängt eins ganz eng an dem andern. Sie haben beide nur einen Nerv. Bist du blind für die göttliche Gnade, so fällst du in Verzweiflung bei Erkenntnis der Sünde. Bist du blind für die Erkenntnis deiner Sünde, so betrügst du dich, wenn du nach der Gnade siehst. Eins steht und fällt mit dem andern. Für beide gilt der Ruf: „Herr, dass ich sehen möge!“ Und wenn wir aus beiden sehen, kann die rechte evangelische Fastenstimmung nicht fehlen. -

Nehmen wir nun zum Schluss noch ein Stück heraus, das recht wesentlich in die diesjährige Fastenstimmung gehört. Ihr kennt unsere Zeit. Ihr wisst, wie jetzt mündlich und schriftlich Alles gemessen und gemustert wird, was in Staat und Kirche geschieht. Ihr wisst, wie mancher Same des Misstrauens dadurch zwischen Fürsten und Völker gesät ist. Ihr wisst, dass auch in unserm Vaterlande dergleichen Dinge geschehen sind. Die Zeit ist aus. Sie muss aus sein. Wenn es in dem Hause neben dir brennt, haderst du nicht mehr mit deinem Bruder, ob hie oder da ein Stück Mauer ganz im Loth steht, oder ob dieser oder jener Nagel gerade oder schief eingeschlagen ist. Ihr gebt euch dann beide die Hände und geht und schaffet, dass das Feuer das Haus nicht ergreife. Neben unserm Vaterlande brennt es auch. Die Flammen dringen bis an die Scheidewand. Darum lassen wir alles Hadern! Es werden Zeiten kommen, wo streitige Fragen in Frieden geschlichtet werden können. Jetzt geben wir uns die Hände: Wir wollen eins bleiben mit unserm Gott und Heilande droben, wir wollen eins bleiben mit unserm Könige hienieden. Es soll wieder die alte Losung sein: „Gott, König und Vaterland.“ Die soll es bleiben. Wenn König und Volk hienieden mit dem Könige der Könige droben zusammen stehen in einem Bunde, dann fürchten wir uns nicht, und wenn der Feinde Heere ungezählt, und wenn ihre Macht ohne Gleichen wäre. Den Klang lasset mitgehen durch die Fastenzeit. Er mag durch alle deutschen Lande gehen, er mag alle Herzen erfüllen. Und Du, der Du mit Deinen Armen die Welt am Kreuze umfasset:

Schau herab vom Himmel droben.
Herr, den der Engel Zungen loben.
Sei gnädig diesem deutschen Land.
Donnernd aus des Feuers Wolke
Sprich zu den Fürsten, sprich zum Volke,
Umfasse sie mit starker Hand.
Sei Du uns Fels und Burg.
Du hilfst uns wohl hindurch.
Halleluja!
Denn er ist heut
Und allezeit
Das Reich, die Kraft, die Herrlichkeit.

Amen.

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