Matthäus, Kapitel 18

18:1 Zu derselben Stunde traten die Jünger zu Jesu und sprachen: Wer ist doch der Größte im Himmelreich? 1)
Wie hoch stehen die Jünger über uns! Wir fragen nicht, wer der Größte im Himmelreich sei, wohl aber, wer wohl die meisten Millionen habe und wer in unserem Staatsbetrieb die mächtigste Hand habe und wer durch die Kraft seines Blicks und den Fleiß seiner Forschung der größte Denker sei. Davon reden unsere Zeitungen und dafür interessiert sich jedermann. Die Jünger fragten nicht nach solcher Größe, beschäftigten sich dagegen eifrig mit der Frage, wem Gottes alles vollendende Offenbarung die größte Größe gebe, wem er den Reichtum seiner Gnade in der herrlichsten Fülle gewähre, wem er in seinem Reich das weiteste Arbeitsfeld und den größten Machtbereich zuteile. Sie dachten nicht an die Größe, die der Mensch sich selbst erwerbe zu seiner eigenen Verherrlichung, sondern denken an das, was Gottes königliches Wirken aus uns Menschen machen wird. Gerade deshalb zerbrach ihnen Jesus ihre Frage ganz. Sie treibt sie dem Sturz entgegen. Wenn sie nicht von ihr lassen, geht ihnen nicht nur die Größe, sondern jeder Anteil am Himmelreich verloren. Für wen war nach der Meinung der Jünger Gottes Werk und Gnade da? Für wen soll sie da sein, wenn nicht für sie? Darum wurde es ihnen zum wichtigen Anliegen, wer von ihnen der am reichsten Begabte und am höchsten Gestellte sei. Ihr Verlangen streckte sich nach dem, was ihnen zuteil werden soll. Die eigensüchtige Wurzel ihrer Frage kam sofort dadurch ans Licht, dass an ihr zwischen ihnen ein Zank entstand. Weil jeder nach der größten Größe strebt, zersprengt diese Frage ihre Gemeinschaft. Damit zerstören die Jünger das, was Jesus ihnen gab; denn er hat sie zur Gemeinde vereint. Damals vergaßen die Jünger, dass sie bei Jesus beten gelernt hatten: Dein Name werde geheiligt. Das Himmelreich ist nicht deshalb gekommen, damit der Mensch groß werde, sondern damit Gott offenbar und sein Name geheiligt sei. Gottes Herrschaft geschieht freilich an uns und uns zugut und nimmt Sünde und Tod von uns weg uns zum Heil und gibt uns Gerechtigkeit und Leben uns zur Seligkeit, allein nicht dazu, damit Gottes Macht und Güte von uns erkannt und gepriesen sei. Wer von Jesus beten gelernt hat: Dein Name werde geheiligt, in dem ist die Frage nach der Größe tot.
Obwohl Dein Reich, Vater, bei uns ist, gelangen wir nicht zu ihm, weil der Schatten unserer Größe unsere Augen blendet. Gepriesen sei Deine Barmherzigkeit, die uns rettet und heilt. Mache mir Dein Wort, das unsere Größe zerbricht, zum heilenden Balsam, zum stärkenden Trank, zur Quelle der Kraft. Amen. (Adolf Schlatter)

18:2 Jesus rief ein Kind zu sich und stellte das mitten unter sie

18:3 und sprach: Wahrlich ich sage euch: Es sei denn, daß ihr umkehret und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen.
Wir glauben an eine Gnade, die mannhaft und zugleich kindlich macht. Unkindliches kommt überhaupt nicht ins Reich Gottes, und der Kindlichste, das heißt nach unserer Stelle der Demütigste, ist der Größte im Himmelreich. Fragen wir uns doch: Bin ich Gottes Kind oder warum bin ich noch unkindlich? Jetzt, vor Weihnachten, kann man die Kinder und das Kindliche besonders studieren. Zum Beispiel: Die Kinder sehen keine Erniedrigung darin, sich beschenken zu lassen. Sie verhehlen ihre Armut nicht. Wie vertrauensvoll äußern sie ihre Wünsche und halten ihre irdischen Eltern oft für reicher, als die Großen den himmlischen Vater. Sie freuen sich schon im voraus der sicher erhofften Gaben, obgleich mit weniger Grund als wir, angesichts der großen und sicheren Verheißungen Gottes. Gottlob! Gottes Wort und Geist machen auch unkindliche Menschen zu Gotteskindern und kindlich, so daß wir den Himmel auf Erden haben und unserm Vater im Himmel ähnlich werden. (Otto Schopf)


Die Jünger traten einst zu Jesu und sprachen: Wer ist doch der Größeste im Himmelreiche? Statt der Antwort auf diese Hochmuthsfrage ruft der Herr ein kleines Kind zu sich und stellt es mitten unter sie. Ihre Hoffarth will er demüthigen, an dem Kinde sollen sie lernen, was sie sein müßten und nicht sind. Denn obwohl alle Kinder von Adam her die Sünde mit auf die Welt bringen und von Natur verloren sind, so sind sie doch in gewisser Hinsicht unschuldig, so lange sie noch nicht zu den Jahren gekommen sind, wo sie Gutes und Böses unterscheiden können. Auf ihren blühenden Wangen liegt noch etwas vom Morgenduft des Paradieses und aus ihren hellen Augen strahlt noch etwas vom Adel des göttlichen Ebenbildes. Das kleine Kind weiß nichts von dem glühenden Ehrgeize des Erwachsenen, so lange es von demselben noch nicht in die Schule der Hoffarth gebracht ist. Es treibt seine kindlichen Spiele und hat seine Freude an geringen Dingen. Es fragt nichts danach, was man im Nachbarhause von ihm sagt, oder ob man es auf den Gassen ehrerbietig grüßt. Es will nur sein, was es ist, und hat seine Freude daran, nichts anders zu sein. Wie beschämend ist das für uns Erwachsene, die wir so gern noch einige Fuß höher sein wollen, als wir wirklich sind. Wir jagen nach vergänglichen Schatten und werden dessen nicht froh, was wir besitzen. Darüber verlieren wir das Reich Gottes ganz aus dem Auge und machen uns selbst ungeschickt, in dasselbe einzugehen. Denn was, hoch ist in der Welt, das ist ein Greuel vor Gott. Keinem Laster ist der Herr so feind, als dem Hochmuth. „Denn also spricht der Hohe und Erhabene, der ewiglich wohnet, deß Name heilig ist, der ich in der Höhe und im Heiligthum wohne, und bei denen, so zerschlagenen und demüthigen Geistes sind, auf daß ich erquicke den Geist der Gedemüthigten und das Herz der Zerschlagenen.“ (Jes. 57, 15.)
Ein Kind ist einfältig und aufrichtig, es weiß nichts von Verstellung und Heuchelkünsten. Und wie oft geben wir uns anders, als wir sind, sprechen anders, als wir's meinen. Ein Kind glaubt ohne Bedenken und Mißtrauen, was ihm die Eltern und Lehrer sagen; aber unserem zweifelsüchtigen Geschlecht ist alles das ein Aergerniß und eine Thorheit, was es mit seiner Hand nicht greifen und mit seinen Gedanken nicht fassen kann. Ein Kind weiß nichts von dem Gifte des Hasses, nichts von der Galle der Rachsucht, nichts von dem Schmutze des Eigennutzes, womit wir behaftet sind; mit offenen Augen der Liebe schaut es in die Welt, wer von ihm fordert, dem theilt es mit, wer ihm nahet, den betrachtet es als seinen Freund. Ein Kindlein sorgt nichts, sondern läßt die Eltern sorgen. Die Erde ist ihm noch ein Paradies, das Leben ist ihm noch ein Fest.(Christian Wilhelm Spieker)

18:4 Wer nun sich selbst erniedrigt wie dies Kind, der ist der Größte im Himmelreich.

18:5 Und wer ein solches Kind aufnimmt in meinem Namen, der nimmt mich auf.

18:6 Wer aber ärgert dieser Geringsten einen, die an mich glauben, dem wäre es besser, daß ein Mühlstein an seinen Hals gehängt und er ersäuft werde im Meer, da es am tiefsten ist.

18:7 Weh der Welt der Ärgernisse halben! Es muß ja Ärgernis kommen; doch weh dem Menschen, durch welchen Ärgernis kommt!

18:8 So aber deine Hand oder dein Fuß dich ärgert, so haue ihn ab und wirf ihn von dir. Es ist besser, daß du zum Leben lahm oder als Krüppel eingehst, denn daß du zwei Hände oder zwei Füße hast und wirst in das höllische Feuer geworfen.

18:9 Und so dich dein Auge ärgert, reiß es aus und wirf's von dir. Es ist dir besser, daß du einäugig zum Leben eingehest, denn daß du zwei Augen habest und wirst in das höllische Feuer geworfen.

18:10 Sehet zu, daß ihr nicht jemand von diesen Kleinen verachtet. Denn ich sage euch: Ihre Engel im Himmel sehen allezeit in das Angesicht meines Vaters im Himmel.2)
DIeses Spruchs mögen sich die kleinen und geringen / als Kinder und irs gleichen trösten. Denn sie hierin hören / das sie Gott nicht wil verachten / Sondern sie in das Reich seines Sons / des HErrn Jhesu Christi / zum ewigen Leben und seligkeit wil annemen / Derhalben auch seine Engel im Himel inen zu dienen verordnet / wil sie also durch seinen Göttlichen rat und schutz leiten und regieren.
Darumb sollen die Kleinen / das ist / Kinder und irs gleichen / solche grosse gnade auch erkennen / Gottes Wort gern hören / vleissig lernen / bewaren / und sich darnach richten. (Caspar Cruciger)


Um seine Gemeinde herzustellen, zerbrach Jesus die Urteile, durch die wir einander als groß oder klein einschätzen. Unterschiede in der Begabung sind unter uns freilich vorhanden. Es gibt Kleine, deren Blick nicht weit reicht und deren Kraft nicht zu vielem brauchbar ist, Kleine, die man stützen muss, die auf unsere Gaben und unsere Führung angewiesen sind und mit starker Kraft schaffen, was vielen nützt. Das müssen nicht wir erst Jesus sagen, dass es kleine und große Menschen gibt; er hat seine Jünger „diese Kleinen“ genannt. Dennoch sah Jesus im Unterschied, den wir zwischen den Kleinen und den Großen aufrichten, ein Hindernis, das er überwinden musste, damit seine Gemeinde entstehe. Denn wir ziehen aus dem Tatbestand, dass es nicht nur Große, sondern auch Kleine gibt, einen falschen Schluss. Vor den Großen scheuen wir uns und hüten uns, sie anzugreifen; die Kleinen misshandeln wir. An die Großen hängen wir uns; die Kleinen meiden wir. Den Großen geben wir die Bewunderung, den Kleinen die Verachtung. Nun haben wir den Frieden verscheucht. Es ist nur unsere Eigensucht, die die Kleinen und die Großen in dieser Weise schätzt. Wenn wir auf unseren Vorteil sehen, ist die Verbindung mit den Großen förderlich und die mit den Kleinen hinderlich. Allein unsere Eigensucht misst falsch und Jesus wirft ihren Maßstab weg und misst die Kleinen nach Gottes Maß. Bei Gott gibt es aber keine Verachtung für die Kleinen. Ihre Engel, sagt er, haben zu jeder Zeit den Zutritt zu Gott. Gott stellt seine himmlischen Geister in den Dienst der Kleinen und ist immer bereit, ihnen seinen gnädigen Willen kundzutun und sie mit Hilfe und Gaben für seine Kleinen auszurüsten. Das Gleichnis, das Jesus formt, ist freilich mit den irdischen Farben gemalt und vom irdischen König herübergenommen, dessen Angesicht nicht jedermann zu jeder Zeit sieht, weil ihm nur gewichtige Anliegen vorgelegt werden. Aber auch durch dieses irdische Bild glänzt eine herrliche und mächtige Wirklichkeit hindurch, die, dass Gott auch der Gott der Kleinen ist und ihre Kleinheit seine Gnade nicht verkürzt, dass er sie vielmehr auch ihnen in ihrer göttlich großen Vollkommenheit verleiht. Nun wisst ihr, sagt Jesus seinen Jüngern, was ihr den Kleinen schuldig seid.
Schreibe mir, lieber Herr, dies Dein Wort in meine Seele. Sprich es zu mir, dass ich es höre. Gäbe es denn Gnade für die Großen, wenn Du sie den Kleinen nicht gäbest? Was ist klein und groß vor Dir? Gäbe es für mich Deinen Frieden und Deine Gemeinschaft, wenn Du sie den Kleinen versagtest? Vergib mir und Deiner Christenheit, dass uns unsere Größe blendet und für die Kleinen unnütz macht. Amen. (Adolf Schlatter)

18:11 Denn des Menschen Sohn ist gekommen, selig zu machen, das verloren ist.3); 4)

18:12 Was dünkt euch? Wenn irgend ein Mensch hundert Schafe hätte und eins unter ihnen sich verirrte: läßt er nicht die neunundneunzig auf den Bergen, geht hin und sucht das verirrte?

18:13 Und so sich's begibt, daß er's findet, wahrlich ich sage euch, er freut sich darüber mehr denn über die neunundneunzig, die nicht verirrt sind.

18:14 Also auch ist's vor eurem Vater im Himmel nicht der Wille, daß jemand von diesen Kleinen verloren werde.
Dieser Ausspruch des Sohnes Gottes, der das Herz Seines himmlischen Vaters am besten kennet, sollte allen Argwohn, als ob Gott einen verborgenen Willen hätte, nach welchem Er einigen Menschen die Seligkeit nicht zukommen lassen wollte, auf einmal und auf immerhin abschneiden. Schon durch Ezechiel, K. 18,23., hat Gott eben dieß bezeugen lassen, da es heißt: meinest du, daß Ich Gefallen habe am Tode des Gottlosen, spricht der HErr HErr, und nicht vielmehr, daß er sich bekehre von seinem Wesen und lebe? Ja, K. 33,11. wird eben diese theure Wahrheit noch einmal wiederholt und mit einem hohen Eid bekräftigt.
Gott will also, ganz gewiß, - so gewiß, als Er Gott ist -, daß auch du, der du dieses liesest, selig werden sollest. Aber eben darum will Er auch, daß du dich, wenn’s noch nicht geschehen wäre, von Herzen bekehrest; oder, wofern es geschehen ist, im Stand der Bekehrung und der Gnade beharrest. Er will nicht, daß Eines von den Kleinen, das ist von den Kindern, verloren werde: Er will aber auch, daß diese Kinder sorgfältig auferzogen, und durch Worte und Exempel, durch Lindigkeit und heilsame Schärfe zur Erkenntniß und zum Dienst Gottes angehalten werden.
So wenig ein roher, stolzer, eigensinniger, heimtückischer Sünder, der Gottes Zeugniß und Ordnung verachtet, und nach eigenem Belieben einen Weg zum Himmel sucht, sich des Willens Gottes, alle Menschen selig zu machen, mit Grund getrösten kann: so zuverläßig darf man jeden bußfertigen und heilsbegierigen Sünder versichern, daß er keine vergebliche Arbeit vornehmen werde, wenn er mit aufrichtigem Herzen die durch Christum erworbene Gnade der Rechtfertigung, Bekehrung, Erneurung und Heiligung ernstlich suchen, und der heilsamen Zucht Seines Wortes und Geistes, die ihn vom Verderben zum Heil bringen kann, von Zeit zu Zeit Raum geben will: allein eben so zuverläßig kann man auch bekümmerte Eltern versichern, daß Gott ihre Kinder, ungeachtet der Sünde, die sich in ihnen reget, selig machen darf man jeden bußfertigen und heilsbegierigen Sünder versichern, daß er keine vergebliche Arbeit vornehmen werde, wenn er mit aufrichtigem Herzen die durch Christum erworbene Gnade der Rechtfertigung, Bekehrung, Erneurung und Heiligung ernstlich suchen, und der heilsamen Zucht Seines Wortes und Geistes, die ihn vom Verderben zum Heil bringen kann, von Zeit zu Zeit Raum geben will: allein eben so zuverläßig kann man auch bekümmerte Eltern versichern, daß Gott ihre Kinder, ungeachtet der Sünde, die sich in ihnen reget, selig machen wolle.
Ach, wie viel ist daran gelegen, zur Zeit der Anfechtung diese ernstliche – und mehr als Einmal mit einem Eid bekräftigte Willensmeinung Gottes fest zu halten, und sich auch durch das schmerzhafteste, niederschlagendste Gefühl seiner Sündhaftigkeit oder durch den Anblick der Unarten seiner Kinder nicht davon abtreiben zu lassen! Denn wer das Vertrauen aufgibt, daß Gott ihn und die Seinigen um Jesu Christi willen begnadigen könne und wolle, der gibt eben darum, zu seinem großen Schaden, auch das Beten um Gnade und Erbarmung auf, und entfernt sich von dem Arzt, der allein im Stande ist, ihm zu helfen, und ihn auch von der desperatesten Seelenkrankheit zu heilen.
O so laßt uns doch, auch bei der traurigsten Herzensfassung des Wortes Jesu nicht vergessen: bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgethan. Lasset uns den geoffenbarten Willen Gottes zum Grund unsers Vertrauens auch bei dem Beten machen, und uns durch ängstliche Vermuthungen und eigenmächtige Vernunftschlüsse nicht selber quälen!(Magnus Friedrich Roos)

18:15 Sündigt aber dein Bruder an dir, so gehe hin und strafe ihn zwischen dir und ihm allein. Hört er dich, so hast du deinen Bruder gewonnen.

18:16 Hört er dich nicht, so nimm noch einen oder zwei zu dir, auf daß alle Sache bestehe auf zweier oder dreier Zeugen Mund.

18:17 Hört er die nicht, so sage es der Gemeinde. Hört er die Gemeinde nicht, so halt ihn als einen Zöllner oder Heiden.

18:18 Wahrlich ich sage euch: Was ihr auf Erden binden werdet, soll auch im Himmel gebunden sein, und was ihr auf Erden lösen werdet, soll auch im Himmel los sein.
In der Christenheit darf Gottes Gebot nicht schwankend werden. Es gehört vielmehr zu ihrem heiligen Beruf, dass sie den Kampf gegen das Böse gemeinsam führe. In der Christenheit stärkt sich jeder am Widerstand der anderen gegen das Sündliche. Die Wahrhaftigkeit aller trennt alle vom Lügen und die Liebe aller macht allen ihre Eigensucht zur hässlichen Not. Gemeinschaft ist aber ein hohes Ziel, vollends dann, wenn sie im gemeinsamen Kampf gegen alles Böse wirksam wird. Die Gemeinschaft kommt in Verwirrung, wenn sie zu weit greift und das Recht eines jeden, sein Innerstes für sich zu haben, antastet. Darum verbot Jesus dem, der in der Gemeinschaft der Jünger lebt, sich mit seiner Klage sofort an die Brüder zu wenden. Freilich darf das, was recht ist, nicht verletzt und die Gemeinschaft nicht durch die Duldung von Unrecht geschwächt werden. Der Verletzte soll aber nicht zur Gemeinde gehen, sondern zum Fehlenden, der ihn geschädigt hat. So kannst du den Bruder gewinnen, sagt uns Jesus, und das hohe Ziel, das er uns damit zeigt, soll uns für einen solchen Gang mit Mut ausrüsten und mit Weisheit begaben. Da aber Jesus die Macht der Sünde kennt, verheißt er nicht, dass ein solcher Schritt sicher gelinge. Menschen werden nicht nur gewonnen, sondern auch verloren, und einen mechanisch wirkenden Schutz gegen die Versündigung gibt es nicht. Keine Höhe der Erkenntnis, kein Sakrament, auch keine werbende Liebesmacht des Bruders, der den Bruder vom bösen Handeln befreien will, trägt die Bürgschaft in sich, dass sich der Sündigende unter das ihn strafende Wort beuge. Aber auch dann lässt Jesus dem Geschädigten nicht zu, dass er schon jetzt auf die Erneuerung der Gemeinschaft verzichte. Er hat noch zwei Mittel bei der Hand, die vielleicht den Bruder gewinnen, das unparteiische Urteil anderer Brüder und das einträchtige Urteil der gesamten Bruderschaft. Erst mit diesem fällt über das Schicksal des Boshaften die Entscheidung. Hält er auch gegen die Gemeinde an seinem Unrecht fest, dann ist diese verpflichtet, das Band zwischen ihr und ihm aufzulösen. Um den Preis der Duldung des Bösen wird die Gemeinschaft nicht gewährt und Jesus spricht in Kraft seines königlichen Amtes, wenn er sagt, dass ein solches Binden das Binden im Himmel bewirke, wie auch das Lösen und Vergeben der Gemeinde die Vergebung Gottes gewährt.
Ich kann die Last der anderen, heiliger Vater, nicht auf mich nehmen, wenn nicht Dein Vergeben mein Schutz und meine Stärke ist. Sonst bin ich, wenn Unrecht geschieht, ratlos und ohnmächtig und gewinne am Unrecht des Bruders nur den Zorn, der ihn schilt und von sich stößt. Wie könnte ich nach Deinem Willen handeln, wenn ich nicht um die Weisheit bitten dürfte, die von oben kommt? Alle Hilfsmacht, die den anderen hilft, ist Dein Geschenk. Ich suche und erbitte sie von Dir. Amen. (Adolf Schlatter)

18:19 Weiter sage ich euch: wo zwei unter euch eins werden, warum es ist, daß sie bitten wollen, das soll ihnen widerfahren von meinem Vater im Himmel.
Wenn die Gemeinschaft auf uns drückt und uns das Gebet verdirbt, so macht uns Jesus von ihr frei. Das tut er aber nicht deshalb, damit wir einsam werden. Wie könnten wir der Gemeinschaft entbehren müssen, da er unser aller Herr ist? Sein königlicher Name spricht aus, dass es der Schöpfer und Führer der in Gott verbundenen Gemeinde ist. Darum führt er den Beter zum Beter und gibt ihrem einträchtigen Bitten seine besondere Verheißung. Erhörlich wird mein Gebet dann, wenn ich nicht gegen, sondern nach Gottes Willen bete. Ob aber mein Begehren in Gottes Ordnung bleibt, dafür ist es eine heilsame Erprobung, wenn ich den Versuch mache, mit einem anderen eins zu werden. In dem, was als Gottes große Verheißung über der ganzen Menschheit und der ganzen Kirche steht, sind alle Glaubenden ohne Mühe geeint. Wenn wir den Inhalt des Evangeliums in unser Gebet aufnehmen, kommen wir, auch wenn wir viele sind, leicht zusammen. Jesus spricht aber hier von dem, was meine besondere Lage und Pflicht zum Inhalt meines Bittens macht, und wenn ich in meiner Beurteilung meiner Lage und in meinem Verlangen nach Gottes Hilfe nicht einsam bleibe, sondern mich mit meinem Verlangen nach Gottes Hilfe nicht einsam bleibe, sondern mich mit meinem Bruder einigen kann, dann ist etwas erreicht, was meiner Bitte Richtigkeit gibt und ihre Übereinstimmung mit Gottes Willen verstärkt. Wir sind dazu beisammen, damit wir eins seien und unser Wort nicht als das unsrige, sondern gemeinsam betreiben. Entsteht zwischen uns die Gemeinschaft des Gebets, so sind wir an den Ort gelangt, zu dem uns die Gnade Jesu führt, die keinen nur für sich selbst begabt, sondern unser Leben zum gemeinsamen Dienst ineinander flicht.
Nun hat mir Dein Wort, Herr Jesus, wieder ein kostbares Kleinod aus dem Schatz gezeigt, den Dein Reich uns gewährt. Wir dürfen vor Dir eins werden, eins als die Bittenden. Denn Du pflanzest in uns den einen Glauben und die eine Liebe und schaffst den lebendigen Leib, in dem wir Glieder sind. Das gib uns, lieber Herr. Amen. (Adolf Schlatter)

18:20 Denn wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.
Unsere religiösen Versammlungen dürfen nicht formell, äußerlich, nicht bloße Gewohnheit und fromme Übung sein. Wir müssen es wissen, dass wir im Namen Jesu zusammenkommen. Sein Wohnen und Wirken in unserer Mitte muss uns die Hauptsache sein. Der Herr ist da, wir sind um Ihn versammelt, das bewege und erfülle Herz und Sinn. Wie ganz anders klingen jetzt unsere Lieder! Ihm singen wir. Im gemeinsamen Gesang liegt eine große Macht, wenn die Herzen gesammelt und auf den Herrn gerichtet sind. Das Gebet sei Anbetung, Lob Gottes. Alle dürfen mitsingen, alle sollen auch mitbeten. Empor zu Gott die Herzen, Ihm gilt der Lobgesang, Ihn beten wir an! Dann soll Christi Wort reichlich unter uns wohnen, Prediger und Zuhörer sich unter das Wort stellen. Seid stille, achtsam, betend, denn der Herr redet. Gerade im Wort will Er selbst nahetreten, will Er Seine Gegenwart offenbaren, Leben in die Herzen gießen. Versammelt in Jesu Namen, spüren und empfinden wir Gottes Gegenwart. Wir vergessen die Welt, wir kommen heraus aus den eigenen Gedanken; wir lassen uns füllen von Gottes Wort und Geist. Und das Wort tut Wunder; es schafft und kräftigt die Gesundheit, erfrischt den Geist, die Seele und den Leib. Verschlossen nach unten, offen nach oben, weg den Blick von der Erde, empor das Herz zum Herrn, das ist ja eine der ersten Bedingungen, direkte Segnungen und Gaben zu empfangen. Erwarte viel, komm als einer, der sich auf Sein Wort verlässt. Nichts ist Ihm unmöglich, nichts will Er uns vorenthalten. (Markus Hauser)


Wenn wir als Jünger des Herrn in Seinem Namen versammelt sind, Ihm singen, vor Ihm die Knie beugen, „der da tot war und ist wieder lebendig geworden“, wenn unser Sehnen dem Auferstandenen gilt -, dann senken sich die Himmel wieder in unsere Mitte, eine Tür aus der stillen Ewigkeit tut sich auf, dann ist der Unsichtbare da, Kräfte Gottes wirken, Leib und Seele werden fröhlich im Herrn. „Mitten unter den goldenen Leuchtern seiner Gemeinden wandelt Er, die Gemeinschaft der Heiligen ist Sein Gebiet. Wir sollten mehr Gewicht darauf legen, im Namen des Herrn beisammen zu sein. Hier weicht der Böse, hier dringt Licht hinein in die Finsternis, Pilger ziehen Gottes Lebenskräfte an, Kranke genesen, Teufel fahren aus -, hier wird es offenbar: Jesus lebt und tut sich unter seinen Jüngern kund. Das ist heilige Bewegung von oben. Musst auch du sein in dem, das des Vaters ist? Bist du gern mitten unter Jesu betenden Brüdern? Merkst du hier die Nähe dessen, nach dem auch deine Seele dürstet? Ist dein Herz dem Lebensfürsten zugetan, neigt es hin zu ihm? Darf Er jetzt Besitz von dir nehmen? Je nach dem Stande unseres Glaubens wirkt Sein Nahesein auf uns. Suchende finden Gnade. Wer mit stillem Geiste und gesammeltem Gemüte seinen Willen auf Jesum richtet, wird Lebenskräfte in sich aufnehmen. O, wieviel Freude bringen diese inneren Vorgänge, diese Umwandlungen in des Heilands Gemeinschaft! Neues Leben macht das Herz fröhlich. Versäume nicht, diesen Gewinn dir anzueignen in der Gemeinschaft der Kinder Gottes. (Markus Hauser) —-
Mit großer Zuversicht verspricht uns Jesus: „Ich bin immer bei euch, wenn mein Name euch zusammenführt, und überall, wo ihr euch zum Gebet vereinigt.“ Diese Verheißung lässt das menschliche Maß ganz und gar hinter sich. Wer kann sich über den Raum und die Zeit erheben? So wirkt Gott, der Schöpfer des Raumes und der Zeit. Darum, weil dies die Weise ist, wie Gott wirkt, weiß sich Jesus zu dieser Verheißung ermächtigt, mit der er den Jüngern versprach: Der Tod trennt mich nicht von euch; keine räumliche und zeitliche Entfernung scheidet euch von mir; ich bin bei euch, denn alles, was der Vater hat, ist mein, und seine Allgegenwärtigkeit gibt auch mir die Gegenwart bei euch. Denen hat er dies versprochen, die sein Name zusammenführt. Ihre Gemeinschaft verbindet sie nicht nur miteinander; denn sie sind deshalb verbunden, weil Er sie zusammenbrachte. Darum vollendet Er ihre Gemeinschaft dadurch, dass auch Er bei ihnen ist. Sie sollen nicht meinen, diese Verheißung trete erst dann in Kraft, wenn sie eine große Schar sind, an der sichtbar wird, wie reich ihr Herr ist, und wie mächtig Er regiert. Sie ziehen ihn nicht durch die Größe ihres Verbands zu sich hinab. Seien es nur zwei oder drei, so sind sie eine Gemeinde, die nicht von Jesus, ihrem Haupt, geschieden ist, der vielmehr Jesus dadurch die Vollendung gibt, dass er bei ihnen ist. Nun sind sie in den Stand gesetzt, das zu tun, was eine christliche Gemeinde tun soll. Nun können sie beten. Weil er bei ihnen ist, wird ihrem Gebet die Erhörung geschenkt. Weil er bei ihnen ist, können sie lösen und binden, können vergeben, so dass im Himmel vergeben ist, und Sünde richten, so dass sie im Himmel gerichtet ist. Weil er bei ihnen ist, bekommt ihr Wort die Kraft des Zeugnisses; nun können sie so reden, dass ihr Wort Glauben schafft. Weil er bei ihnen ist, können sie tun, was der Hirt dem entlaufenen Schaf tut. Nun können sie barmherzig sein mit heilsamer Kraft. Das könnten sie nicht, wären sie allein, auch nicht, wenn sie eine große Schar wären mit vielen hervorragenden Kräften. Nun aber können sie es, und wären sie nur zwei oder drei, weil da, wo sein Name ist, auch er bei ihnen ist. Diese Verheißung kann er ihnen deshalb geben, weil der Vater den Sohn lieb hat und ihm alles zeigt, was er tut. Darum empfängt auch er durch Gottes Allgegenwart die Allgegenwart.
Nun, Herr, endet jede Sorge, Frage und Angst. Gehe es mit uns, wie es gehen mag, bist Du dabei, so hat es keine Not. Du bist bei uns wohl auf dem Plan mit Deinem Geist und Gaben. Nun ist das Eine notwendig, dass wir Deinem Gebot gehorchen: bleibt bei Mir. Amen. (Adolf Schlatter)

18:21 Da trat Petrus zu ihm und sprach: HERR, wie oft muß ich denn meinem Bruder, der an mir sündigt, vergeben? Ist's genug siebenmal?
Petrus rechnete auch im Kreis der Brüder auf hartnäckige Bosheit, die dem Vergeben unbeugsam widersteht. Er kannte die harte Festigkeit unseres boshaften Willens, der auch die brüderliche Gemeinschaft zerreißt. Vielleicht dürfen wir aber auch daran denken, dass Petrus nicht nur die, die mit ihm Jesus begleiteten, sondern jeden Juden seinen Bruder hieß. Er sah aber deutlich, dass er von diesen Brüdern bittere Feindschaft zu erwarten hatte, weil er ein Jünger Jesu war. Die Erfahrung hat den Jüngern rasch das Auge dafür geöffnet, dass die jüdischen Brüder ihnen den Anschluss an Jesus mit unversöhnlichem Hass vergalten, der sie immer wieder zu schändlichen Werken und boshaftem Handeln trieb, und Jesus selbst hat sie von Anfang an mit starken Worten über ihre Lage aufgeklärt und sie für ihren Kampf gerüstet. Wenn aber der Hass kein Ende nimmt und die Bosheit sich beständig wieder erneuert, kann dann das Vergeben endlos sein? Muss es nicht eine Grenze geben, die uns von dieser Pflicht befreit? Siebenmal war Petrus bereit, Unrecht freundlich zu dulden, siebenmal willig, sich verhöhnen zu lassen und still den Schaden zu tragen, mit dem der Feind ihn plagt. Ist es nun nicht deutlich, dass der Widersacher die Versöhnung nicht will und die Gemeinschaft mit ihm unmöglich ist? Und doch empfand Petrus, dass dieser Gedanke, mochte er ihm noch so richtig scheinen, gegen den Willen Jesu stritt, weshalb er mit der Frage vor ihn trat, und was er ahnte, wurde ihm durch das bestätigt, was ihm Jesus zur Antwort gab. Jede Zählung des Vergebens tat Jesus weg und nahm von ihm jede Schranke fort. Es hat kein Maß und kein Ende, sondern ist immer vorhanden und unerschöpflich. Wir bleiben mit unserem rechnenden Vergeben immer noch an die anderen gekettet und ihr Hassen behält Gewalt über uns. Erst die ganze Liebe macht uns von allem Hader frei, die, die die Vergeltung nicht nur aufschiebt, sondern unterlässt, die, die sich nicht auf das Wohltun anderer stützt, sondern selber gütig ist und sich die Gemeinschaft nicht von den anderen geben lässt, sondern sie selbst herstellt. Mit diesem Vergeben ist Petrus unverwundbar gemacht, auch wenn er den Hass seiner Brüder nicht überwinden kann. Er steht nun über dem wilden Getümmel der Verleumdung und Befehdung als ein freier Mann. Dies ist er, weil ihm Jesus die Liebe gab.
Dein Vergeben, gnädiger Gott, ist ganze Liebe. Du wägst nicht unser Fallen, zählst nicht unsere falschen Worte und bewahrst nicht unsere gottlosen Gedanken. Sie sind eine unendliche Reihe ohne Zahl. Du aber vergibst und bleibst, der Du bist, in der Herrlichkeit Deiner Güte. Nun schaffe, Herr, Dein Bild in mir und gib mir an Deiner Liebe teil, die vergeben kann. Amen. (Adolf Schlatter)

18:22 Jesus sprach zu ihm: Ich sage dir: Nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal.

18:23 Darum ist das Himmelreich gleich einem König, der mit seinen Knechten rechnen wollte.

18:24 Und als er anfing zu rechnen, kam ihm einer vor, der war ihm zehntausend Pfund schuldig.
Jesus spricht hier nicht mit einem Zöllner oder einer Dirne, sondern mit Petrus und seinen anderen Jüngern. Der König rechnet hier mit seinen Knechten, nicht mit seinen Feinden, mit dem, der ihm diente, nicht mit dem, der ihm entlief. Petrus zeigt er seine riesengroße Schuld, der Christenheit zeigt er sie, mir zeigt er sie. Schuld entsteht da, wo Pflicht ist. Pflicht entsteht da, wo Liebe und Gabe empfangen sind. Das war die Lage des Petrus und ist die der Christenheit. Sie hat Gottes Gabe empfangen; deshalb ist sie verpflichtet und deshalb ist ihr Verhalten Schuld. Wie entsteht die Schuld? Nicht verstandenes und unbeachtetes Wort, unbenutzte, nicht gebrauchte Kraft, Erkenntnis ohne Glauben, Glaube ohne Werke, Dienst ohne Liebe, das ist Schuld. Zu viel Erkenntnis haben, zu viel, weil unser Verhalten ihr widerspricht, zu viel Glauben haben, zu viel, weil wir ungläubig handeln, zuviel Geist Gottes haben, zu viel, weil wir ihm nicht gehorchen, das ist unsere Schuld. Sie entsteht nicht aus unserer Armut, sondern aus unserem Reichtum, nicht aus unserer Unwissenheit, sondern aus unserer Erkenntnis, nicht aus dem, was uns fehlt, sondern aus dem, was uns gegeben ist, nicht aus unserer natürlichen Art, sondern aus unserem Christenstand. Ist sie wirklich riesengroß? Jesus hat recht, tausendmal recht, wenn er von zehntausend Talenten redet, die der Knecht dem König schuldig blieb. Wie könnte ich Jesus widersprechen, wenn ich mein Gebet ansehe, wie zerstreut es ist, oder meinen Glauben beschaue, wie schwer es mir wird, mich an Gott zu erinnern, oder meine Liebe betrachte, wie kalt und träge sie bleibt? Ich muss nicht erst auf die anderen sehen, um mir an ihnen das Urteil Jesu zu verdeutlichen, muss nicht erst erwägen, was in unseren Kirchen geschieht, wenn wir zum Gottesdienst beisammen sind, was unser Singen, Beten und Predigen wert ist. Ich finde in mir selbst den Beweis für das Urteil Jesu und kann ihm nur sagen: Du bist gerecht, wenn du richtest. Legt das aber nicht auf Petrus einen Druck, der ihn in seinem apostolischen Wirken lähmen muss, wenn die zehntausend Talente, die nicht bezahlten und nie bezahlbaren, vor ihm stehen und er weiß: ich bin und bleibe ein Schuldner? So macht ihn Jesus fähig zu seinem Dienst. Denn als der Knecht den König bat, erließ er ihm seine ganze Schuld, weil er ihn bat. Nun weiß Petrus und ich weiß es auch, was Vergeben ist. Nun kann er vergeben, und wenn er das nicht könnte, wäre er nicht brauchbar für Jesu Dienst.
Nach Deinem Willen, Herr, bitte ich: Vergib uns unsere Schulden, wie wir vergeben unseren Schuldnern. Ich dürfte nicht so beten, wenn Du es nicht gebötest. Dein Gebot ist in seiner Gnade göttlich groß und wunderbar. Du vergibst uns unsere Schulden, damit wir Dich fürchten. Amen. (Adolf Schlatter)

18:25 Da er's nun nicht hatte, zu bezahlen, hieß der Herr verkaufen ihn und sein Weib und seine Kinder und alles, was er hatte, und bezahlen.

18:26 Da fiel der Knecht nieder und betete ihn an und sprach: Herr, habe Geduld mit mir, ich will dir's alles bezahlen.

18:27 Da jammerte den Herrn des Knechtes, und er ließ ihn los, und die Schuld erließ er ihm auch.
Das Recht, Sünder zu begnadigen, ist ein wichtiges und für uns sehr tröstliches Majestätsrecht des großen Gottes; wie Er aber dasselbe ausübe, hat Christus in einem Gleichniß, Matth. 18., gezeigt. Im Himmelreich, sagt Er, geht es so zu, wie wenn ein König mit seinen Knechten rechnen willen, da ihm dann ein Knecht vorkommt, der ihm zehntausend Talente (eine ungeheure Summe) schuldig ist. Dieser Einzige ist ein Bild vieler Menschen. Ein jeder Mensch hat vor Gott eine ungeheure Sündenschuld auf sich liegen, und es gibt eine Zeit, da Gott mit ihm rechnet, das ist, ihm seine Sündenschuld aufdeckt, und im Gewissen vorhält. Ist sie mir aufgedeckt? Ist sie mir vorgehalten? Ach, daß noch in der Gnadenzeit geschehe, was in diesem Stück noch fehlt! Der König läßt es aber bei dem Rechnen nicht bewenden, sondern, weil der Knecht nicht bezahlen kann, so heißt er ihn und sein Weib und seine Kinder, und Alles, was er hatte, verkaufen, und bezahlen. Dieses war nämlich das strengste Recht gegen einen Schuldner, das man in den Morgenländern auszuüben pflegte, daß man ihn und die Seinigen als Sklaven, und seine Habe zugleich verkaufte, und von dem Erlös seine Schulden bezahlte, s. Kön. 4,1. Hiemit wird angezeigt, daß Gott den Menschen bei seiner Bekehrung erkennen, ja fühlen läßt, wie weit Er Sein strenges Recht treiben könne. Er zeigt ihm nämlich, wie er werth sei, von Ihm, wenn er auch länger leben dürfe, verlassen, verstoßen, in seinen verkehrten Sinn dahin gegeben, ja der Gewalt des Satans überlassen zu werden, da dann freilich zuletzt das ewige Verderben folgte. Ein andersmal, wenn er durch eine neue Untreue sein Sündenmaß vollgemacht hat, übergibt Er ihn durch einen unseligen Tod geradezu und ohne weitern Aufschub den Peinigern, das ist, Er wirft ihn in die Hölle, wo er klagen muß: ich leide Pein in dieser Flamme. So weit geht das strenge Recht des großen Gottes; Sein Begnadigungsrecht aber geht so weit, daß Ihn des Knechts, der seine Schuld bekennt, um Geduld bittet, und Seinen HErrn mit einer neuen treue zu dienen verspricht, jammert, Er ihn losläßt und die Schuld ihm auch erläßt. Daß hier Christi Verdienst und Fürbitte dem Knecht zu gut komme, und der Knecht dazu im Glauben seine Zuflucht nehme, wollte der HErr Jesus zu derjenigen Zeit, da Er dieses Gleichniß vortrug, noch nicht sagen, weil Seine Zuhörer es noch nicht hätten fassen können, der Heilige Geist aber hat es hernach deutlich genug entdeckt, wiewohl auch die Propheten schon darauf gedeutet haben. Das Jammern ist das Gegentheil von Zorn, das Loslassen das Gegentheil von dem Verkaufen oder Verstoßen. Der gute König sagt nämlich zu dem bösen Knecht: du sollst doch noch länger Mein Knecht bleiben, und gibt ihm zur neuen Treue einen neuen und gewissen Geist. Die Schuld erläßt Er ihm auch, ganz und umsonst mit einer unbegreiflichen Großmuth. Wie wichtig ist es also, wenn ein Christ in seinem Catechismus sagt: ich glaube eine Vergebung der Sünden“ Wehe aber dem Menschen, der durch beständige Zerstreuungen sogar der göttlichen Rechnung ausweicht, oder nach derselben, anstatt sich bußfertig zu demüthigen, sich durch einen neuen Leichtsinn zu helfen sucht, oder nach der Begnadigung wieder rückfällig wird!(Magnus Friedrich Roos)

18:28 Da ging derselbe Knecht hinaus und fand einen seiner Mitknechte, der war ihm hundert Groschen schuldig; und er griff ihn an und würgte ihn und sprach: Bezahle mir, was du mir schuldig bist!

18:29 Da fiel sein Mitknecht nieder und bat ihn und sprach: Habe Geduld mit mir; ich will dir's alles bezahlen.

18:30 Er wollte aber nicht, sondern ging hin und warf ihn ins Gefängnis, bis daß er bezahlte, was er schuldig war.

18:31 Da aber seine Mitknechte solches sahen, wurden sie sehr betrübt und kamen und brachten vor ihren Herrn alles, was sich begeben hatte.

18:32 Da forderte ihn sein Herr vor sich und sprach zu ihm: Du Schalksknecht, alle diese Schuld habe ich dir erlassen, dieweil du mich batest;

18:33 solltest du denn dich nicht auch erbarmen über deinen Mitknecht, wie ich mich über dich erbarmt habe?

18:34 Und sein Herr ward sehr zornig und überantwortete ihn den Peinigern, bis daß er bezahlte alles, was er ihm schuldig war.

18:35 Also wird euch mein himmlischer Vater auch tun, so ihr nicht vergebt von eurem Herzen, ein jeglicher seinem Bruder seine Fehler.5); 6); 7);8); 9)
Du hast, o Herr, dem Menschen das Verlangen nach Glückseligkeit eingepflanzt, und uns unter einander verbunden, damit ein jedes dieses Ziel desto eher erreiche. Aber ach, wir sündige, schwache Geschöpfe hindern und stören einander oft mehr, als daß wir uns hülfen und förderten. Auch ich trage diese Schuld. Ich liebe den Nächsten nicht so innig und aufrichtig wie ich sollte, ich kenne die Größe wahrer Nächstenliebe kaum. Ich bin der barmherzige Samariter nicht, den mir das Evangelium zum Vorbilde aufstellt, und sträube mich oft gar sehr, die hundert Groschen zu erlassen und zu vergeben. Nur bisweilen ahnet mein Herz, wie viel Herrliches auf Deiner Erde gewirkt, wie viel Seligkeit genossen werden könnte, wenn aller Hader und Streit, alle Feindschaft und Mißgunst überwunden würde und uns Alle reines, lebendiges Wohlwollen beseelte! O Vater, Du Gott der Liebe, treibe doch alle feindseligen Gedanken aus mir aus; besiege mit dem allmächtigen Hauch Deiner Barmherzigkeit die unheimliche Kälte, die in den Klüften meiner Brust verborgen ist! – ich bin oft mit mir selber unzufrieden. Mein Gewissen sagt mir: Du bist doch gar nichts, denn du hast die Liebe nicht. Wenn ich mit Andern rede, ach, ich habe oft schon beleidigende Ausdrücke gebraucht; ich war finster, ungesellig, kalt und gleichgültig, oder wenn ich wärmer wurde und zärtlicher redete, so tönte mir selber mein Wort wie mattes Erz, wie eine klingende Schelle. Wenn ich auch manchmal einem armen Bruder Theilnahme bezeuge, rathe und helfe, ach, so fehlt doch meinem Thun die rechte Weihe, die heilige Liebe, das Band der Vollkommenheit. Und wenn ich auch Einzelne aufrichtig liebe, so ist meine Liebe schwach, und umfaßt nicht meine Mitchristen und Mitmenschen alle. O Liebe, die am Kreuze starb, lehre Du mich lieben! O Liebe, die dem Feind vergab, lehre mich verzeihen! Lehre mich beständig lieben, auch wenn ich nicht geliebt werde! Es ist so süß, geliebt zu werden; darum will ich lieben. Liebe mich, ewige Liebe, damit alle Kälte aus dem Herzen weiche. Offenbare Dich mir immer mehr in Deiner Herrlichkeit und Majestät, damit die träge Selbstgenügsamkeit und die weichliche Eigenliebe dem heiligen Eifer des Wohlwollens Platz mache und uneigennützigem Brudersinn. Amen. (Johann Friedrich Wilhelm Arndt)


In diesem Kapitel sind verschiedene überaus wichtige Lehr- und Vermahnungsstücke abgehandelt.
Für's erste bezeuget Christus: Wenn wir nicht umkehren - und werden wie die Kinder, das ist, so liebreich, einfältig und unschuldig, wie sie im Vergleich mit andern und erwachsenen Menschen zu seyn pflegen, so werden wir nicht in das Himmelreich kommen.
Es geschiehet aber insgemein, daß, je mehr die Kinder an Verstand und Jahren zunehmen, nach dem 4. Kap. des Buchs der Weisheit „die Bosheit ihren Verstand verkehret, und falsche Lehre ihre Seele betrüget, da die bösen Exempel, die man täglich vor Augen hat, verführen und verderben einem das Gute, und die reizende Lust verkehret unschuldige Herzen,“ welche trotz ihrer sogenannten Unschuld gleichwohl mit der Erbsünde empfangen und geboren, also von innen und von außen durch die Lüste dieser Welt und des Fleisches angefochten werden. Darum warnet unser Heiland sehr nachdrücklich, daß man ja keines dieser Geringsten ärgern solle, nämlich der kleinen, unerwachsenen Kinder, die an Ihn glauben; welchen Glauben der heilige Geist in der Kirche neuen Testamentes auch durch die Taufe in der Kinder Herzen wirket und anzündet. Jenes Aergern geschieht aber, wenn man sie etwas sehen oder hören lasset, das Sünde und unrecht ist, und das sie, wenn sie es nachthun, nicht frömmer und besser, sondern ärger und schlimmer macht.
Wie schwer nun aber das Gericht und die Verdammniß derjenigen sey, welche Aergerniß geben mit falscher Lehre oder sündlichem Verhalten, daran sich andere stoßen können, ist daraus zu erkennen, daß Christus das Wehe darüber ausruft und sagt, es wäre besser, einem solchen Menschen würde ein Mühlstein an seinen Hals gehänget, und er würde ersäuft im Meer, da es am tiefsten ist; ja, es könne ein Mensch mit seinen Gliedmaßen in das höllische Feuer geworfen werden, wenn er dieselben, nämlich die Augen, Hände und Füße, zur Sünde und zur Gottlosigkeit mißbrauchet, da er sie doch viel lieber wegwerfen oder abhauen, das ist, in wahrem Bußeifer im Zaum halten oder bändigen sollte.
Hierauf ist merkwürdig, was Christus von den Engeln der kleinen Kinder sagt, daß sie allezeit das Angesicht ihres Vaters im Himmel sehen, der auch Seinen Sohn in die Welt gesandt habe, um das Verlorene zu suchen. Die Gegenwart und Anwesenheit der heiligen Engel, an deren Schutz und Beistand es auch den Erwachsenen nicht fehlet, wenn sie gläubig und fromm sind, sollen wir scheuen, daß wir weder für uns selbst allein, noch so, daß es andere sehen und wissen, etwas Böses thun.
Was ferner in diesem Kapitel folget, betrifft die Art und Weise, wie man denen begegnen soll, die uns gröblich und vorsätzlich beleidiget, auch damit Aergerniß angerichtet haben.
Da erfordert die von dem Heiland erwähnte Kirchenzucht und -ordnung, daß man zuerst alles anwende und versuche, um den Nächsten zur Erkenntniß und Bereuung seiner Uebertretung zu bringen, ehe man es öffentlich kund werden läßt - oder ihn gar von der Kirchengemeinschaft ausschließt; was auch im Himmel kräftig und giltig seyn soll, wo es endlich, nachdem keine Besserung sich gezeiget hat, erfolgen müsse. Denn wo zween oder drei beisammen sind in dem Namen Christi, es sey zum Gebet - oder anderen heiligen, gottgefälligen Verrichtungen, da will Jesus mitten unter ihnen seyn.
Wie oft man aber seinem Nebenmenschen verzeihen und vergeben müsse, und daß der Christ keine Vergebung seiner Sünden bei Gott dem himmlischen Vater zu hoffen habe, welcher seinem Bruder seine Fehler nicht vergebe und vergesse, zumal wenn dieselben erkennet und bereuet werden, - das erkläret Jesus in dem Evangelium von dem König, der mit seinen Knechten rechnen wollte; wie dasselbe jährlich am 22. Sonntag nach Trinitatis vor öffentlicher Gemeine ausgeleget wird. Gott helfe durch Seinen heiligen Geist, daß wir in kindlicher Scheu vor Ihm wandeln, niemand ein Aergerniß geben - und, wenn wir von jemand beleidiget werden, mit demselben umgehen nach dem Vorbild der Geduld und Barmherzigkeit Gottes, da Er mit uns nicht handelt nach unsern Sünden - noch vergilt nach unserer Missethat, sondern Gnade für Recht ergehen lasset, - um Jesu Christi, des Sündentilgers, willen. Amen. (Veit Dieterich)