Prediger, Kapitel 9

9:1 Denn ich habe solches alles zu Herzen genommen, zu forschen das alles, daß Gerechte und Weise und ihre Werke sind in Gottes Hand; kein Mensch kennt weder die Liebe noch den Haß irgend eines, den er vor sich hat.

9:2 Es begegnet dasselbe einem wie dem andern: dem Gerechten wie dem Gottlosen, dem Guten und Reinen wie dem Unreinen, dem, der opfert, wie dem, der nicht opfert; wie es dem Guten geht, so geht's auch dem Sünder; wie es dem, der schwört, geht, so geht's auch dem, der den Eid fürchtet.

9:3 Das ist ein böses Ding unter allem, was unter der Sonne geschieht, daß es einem geht wie dem andern; daher auch das Herz der Menschen voll Arges wird, und Torheit ist in ihrem Herzen, dieweil sie leben; darnach müssen sie sterben.

9:4 Denn bei allen Lebendigen ist, was man wünscht: Hoffnung; denn ein lebendiger Hund ist besser denn ein toter Löwe.
Das Leben ist etwas Köstliches, und auch in seiner armseligsten Gestalt ist es dem Tode vorzuziehen. Diese Wahrheit ist im geistlichen Sinne von unendlicher Bedeutung. Es ist besser, im Himmelreich der Letzte zu sein, als außer demselben der Größte. Der niedrigste Grad der Gnade ist weit vorzüglicher, als die höchste Entwicklung der unwiedergebornen Natur. Wo der Heilige Geist einer Seele das göttliche Leben eingepflanzt hat, da ist ein köstlicher Schatz, welchem die trefflichste Erziehung nicht das Wasser zu bieten vermag. Der Schächer am Kreuz überstrahlt den mächtigen Cäsar auf seinem Thron; Lazarus, den Hunde umgeben, ist besser als Cicero im Rat der Senatoren; und der ungebildetste Christ steht in den Augen Gottes über Plato. Das Leben ist im Reich des geistlichen Daseins der wahre Adelsbrief, und Menschen, die ihn nicht besitzen, sind nur gröbere oder feinere Stücke eines toten Stoffes, welcher der Belebung bedarf; denn sie sind tot in Übertretung und Sünden.
Eine lebendige, liebedurchglühte, evangelische Predigt, und wäre sie noch so einfach an Inhalt und noch so kunstlos in der Form, ist besser als die kunstgerechteste Rede, der es an Salbung und Kraft, der Überzeugung fehlt. Ein lebendiger Hund hält besser Wache als ein toter Löwe und ist seinem Herrn von größerem Nutzen; und so ist der Geringste an Begabung, der das Evangelium in der Kraft des Geistes verkündigt, besser als der ausgezeichnetste Redekünstler, der nur Wortweisheit besitzt und nur die Macht des Wortschwalls kennt. Dasselbe gilt von dem Wert unserer Gebete und anderer Übungen der Gottseligkeit; wenn wir dabei vom Heiligen Geist belebt und angeregt sind, so sind sie Gott angenehm durch Jesus Christus, ob wir sie gleich unwürdig achten, während unsere größten Anstrengungen in geistlichen Dingen, denen aber unser Herz fremd bleibt, dem toten Löwen gleichen und in den Augen Gottes nur Leichname sind. Ach, dass sich doch lebendige Seufzer, lebendige Schmerzen, lebendiges Zittern der Angst in uns regte, statt lebloser Loblieder und toten Friedens. Alles besser als der Tod. Welchen größeren Fluch kann man sich denken, als toten Glauben und totes Bekenntnis? Mache uns lebendig, ja, lebendig, o Herr! (Charles Haddon Spurgeon)

9:5 Denn die Lebendigen wissen, daß sie sterben werden; die Toten aber wissen nichts, sie haben auch keinen Lohn mehr, denn ihr Gedächtnis ist vergessen,

9:6 daß man sie nicht mehr liebt noch haßt noch neidet, und haben kein Teil mehr auf dieser Welt an allem, was unter der Sonne geschieht.

9:7 So gehe hin und iß dein Brot mit Freuden, trink deinen Wein mit gutem Mut; denn dein Werk gefällt Gott.

9:8 Laß deine Kleider immer weiß sein und laß deinem Haupt Salbe nicht mangeln.

9:9 Brauche das Leben mit deinem Weibe, das du liebhast, solange du das eitle Leben hast, das dir Gott unter der Sonne gegeben hat, solange dein eitel Leben währt; denn das ist dein Teil im Leben und in deiner Arbeit, die du tust unter der Sonne.

9:10 Alles, was dir vor Handen kommt, zu tun, das tue frisch; denn bei den Toten, dahin du fährst, ist weder Werk, Kunst, Vernunft noch Weisheit.
Alles, was dir vor Handen kommt zu tun. Dies bezieht sich auf Werke, die möglich sind. Es gibt manche Dinge, die sich unserem Herzen darbieten, und die wir doch nicht durchführen können. Es ist gut, wenn‘s in unserem Herzen ist; aber wenn wir uns möglichst nützlich machen wollen, so dürfen wir uns nicht damit zufrieden geben, dass wir uns etwas im Herzen vornehmen, und etwa davon reden; sondern wir müssen uns in Wahrheit frisch daran machen, alles zu tun, „was uns vor Handen kommt.“ Eine einzige gute Tat ist mehr wert, als tausend herrliche und glänzende Pläne. Warten wir nicht lange auf gute Gelegenheiten, oder auf ein Werk anderer Art, sondern tun wir frisch, „was uns vor Handen kommt“ Tag für Tag. Uns ist keine andere Zeit zum Leben geschenkt als die vorhandene. Das Vergangene ist vorbei; die Zukunft ist noch nicht da; uns steht nie eine andere Zeit zur Verfügung als die gegenwärtige. Darum warte nicht, bis deine Erfahrung alt geworden ist, ehe du anfängst, Gott zu dienen. Bestrebe dich nun, Frucht zu bringen. Diene Gott jetzt, aber sei achtsam auf die Art, wie du es tust. Alles, was dir vor Handen kommt zu tun, „das tue frisch.“ Tue es bald; vertändle nicht dein Leben damit, dass du immer nur Pläne entwirfst, was du morgen tun willst; als ob du dich daran für die vergeudete Zeit des heutigen Tages schadlos halten könntest. Noch nie hat jemand Gott damit gedient, dass er morgen etwas tun will. Wenn wir Christus ehren und von Ihm Segen empfangen, so ist‘s durch das, was heute geschieht. Alles, was du für Christus tust, tue mit ganzem Herzen: wirf dich mit aller Kraft deiner Seele hinein. Bringe deinem Heiland nicht lässige Arbeit, die du stückweise getan hast, hier ein wenig, da ein wenig; sondern wenn du Ihm dienst, so sei‘s von ganzem Herzen, von ganzer Seele, und aus allen deinen Kräften.
Aber worin liegt des Christen Kraft? Nicht in ihm selbst, denn er ist die völlige Ohnmacht. Seine Kraft steht bei dem Herrn Zebaoth. Darum lasst uns seine Hilfe suchen; wir wollen unter Gebet und im Glauben an unsere Arbeit gehen, und wenn wir getan haben, „was uns vor Handen gekommen ist zu tun,“ so wollen wir harren, dass es der Herr segne. Was wir so tun, ist wohlgetan, und wird nicht fehlschlagen. (Charles Haddon Spurgeon)

9:11 Ich wandte mich und sah, wie es unter der Sonne zugeht, daß zum Laufen nicht hilft schnell zu sein, zum Streit hilft nicht stark sein, zur Nahrung hilft nicht geschickt sein, zum Reichtum hilft nicht klug sein; daß einer angenehm sei, dazu hilft nicht, daß er ein Ding wohl kann; sondern alles liegt an Zeit und Glück.

9:12 Auch weiß der Mensch seine Zeit nicht; sondern, wie die Fische gefangen werden mit einem verderblichen Haken, und wie die Vögel mit einem Strick gefangen werden, so werden auch die Menschen berückt zur bösen Zeit, wenn sie plötzlich über sie fällt.

9:13 Ich habe auch diese Weisheit gesehen unter der Sonne, die mich groß deuchte:

9:14 daß eine kleine Stadt war und wenig Leute darin, und kam ein großer König und belagerte sie und baute große Bollwerke darum,

9:15 und ward darin gefunden ein armer, weiser Mann, der errettete dieselbe Stadt durch seine Weisheit; und kein Mensch gedachte desselben armen Mannes.

9:16 Da sprach ich: „Weisheit ist ja besser den Stärke; doch wird des Armen Weisheit verachtet und seinen Worten nicht gehorcht.“

9:17 Der Weisen Worte, in Stille vernommen, sind besser denn der Herren Schreien unter den Narren.

9:18 Weisheit ist besser denn Harnisch; aber eine einziger Bube verderbt viel Gutes.1)
Salomo führt seine Betrachtungen über die Unerforschlichkeit der Weltregierung Gottes weiter aus in diesem Kapitel. Der forschgierige Mensch möchte so gern in Gottes Geheimniß-Cabinet eindringen und hienieden schon völlig und überall begreifen, wie Gott waltet, warum so oder so? Umsonst; er weiß nicht einmal, was im Innern der Menschen ist, die vor den Augen sind, viel weniger, was in Gott ist, ob er in Liebe oder Haß bei Gott stehe. Gott regiert alle Dinge; die Werke der Menschen ordnet und vergilt Er nach Seinem Wohlgefallen; und es ist durchaus eine Sache des Glaubens, und nicht des Schauens, die göttliche Weltregierung in ihrem Walten hienieden zu erkennen. Der Glaubende und Gott Alles Vertrauende thut immer hellere Blicke in die Gründe Seines Verfahrens; daher alle diejenigen, welche an diesem Glauben nicht festhalten, darüber toll werden und in dem Tode nichts als den Untergang all’ ihrer Freude und Hoffnung erblicken. In diesem Bewußtsein, daß Alles in Gottes Hand stehet, und nur von Ihm uns gegeben wird, daß an Seinem Segen Alles gelegen ist, daß wir Ihm unser Leben, unsere Ausbildung, die Verhältnisse und Umstände, unter welchen wir unsere Fähigkeiten anwenden, und den Erfolg unserer Bestrebungen verdanken, daß Er ja unserm Thun Sein Ja und Amen geben muß, wenn es gelingen soll, können wir, von allen Sorgen und Zweifeln frei, freudig unsere Berufspflichten heilig achten und mit gewissenhaftem Fleiße erfüllen, und unter allen Verhältnissen dann auf des Herrn Gnade warten. Des Christen ganzes Leben ist auf diese Weise eine Arbeit für Gott; und wie wechselnd und beschwerlich es auch ist, der Herr blickt freundlich auf ihn herab und nimmt auch den kleinsten Dienst an, der um Seinetwillen gethan ist. Herr, hilf mir denn also meine Zeit auskaufen, dann wird weder die Thätigkeit am Tage, noch die Erholung am Abende jemals verlorne Zeit sein. Amen. (Johann Friedrich Wilhelm Arndt)