Evangelium Lukas 19, 41-48.
Text:
Und als er nahe hinzu kam, sah er die Stadt an, und weinte über sie, und sprach: Wenn du es wüsstest, so würdest du auch bedenken zu dieser deiner Zeit, was zu deinem Frieden dienet. Aber nun ist es vor deinen Augen verborgen. Denn es wird die Zeit über dich kommen, dass deine Feinde werden um dich und deine Kinder mit dir eine Wagenburg schlagen, dich belagern, und an allen Orten ängsten. Und werden dich schleifen, und keinen Stein auf dem andern lassen; darum, dass du nicht erkannt hast die Zeit, darinnen du heimgesucht bist. Und er ging in den Tempel, und fing an auszutreiben, die darinnen verkauften und kauften. Und sprach zu ihnen: Es steht geschrieben: Mein Haus ist ein Bethaus; ihr aber habt es gemacht zur Mördergrube. Und er lehrte täglich im Tempel. Aber die Hohenpriester und Schriftgelehrten und die Vornehmsten im Volk trachteten ihm nach, dass sie ihn umbrächten; und fanden nicht, wie sie ihm tun sollten, denn alles Volk hing ihm an und hörte ihn.
In den Jammer und das Herzeleid der dem göttlichen Zorngerichte anheimfallenden Stadt Jerusalem sehen wir heut den Sohn Gottes sich versenken. „Und als Er nahe hinzu kam, sah Er die Stadt an und weinte über sie.“ Dass Er geweint hat, das hat Er über die Sünde geweint und über der Sünde Sold, welcher der Tod ist, und dasselbe Herz, dem diese Tränen entströmten, hat Er auch mit hinauf genommen in den Himmel und das hat Er noch heut für uns. Noch immer sehen wir sie, diese hohe Gestalt, auf dem Ölberg stehend, umgeben von dem Volk, das Ihm jetzt zujauchzte und Ihn danach kreuzigte; diese Gestalt, wie Gottes Wort sie uns in dem heutigen Evangelio vormalt: die Augen voll Tränen, die Lippen geöffnet, dem Volk zu verkündigen, was zu seinem Frieden dient. Sehen wir uns die Leute an, die Ihn umgaben, Leute, die zum Osterfeste nach Jerusalem pilgerten: Einige sind gekommen um irgend eines Gewinnes, eines Vorteils willen, andere, um sich zu erlustigen; alle sind gekommen, um zu genießen, ohne Ahnung davon, was für eine Gestalt, Gott Mensch geworden, mitten unter ihnen stand und über sie weinte. Geliebte! Diese Tatsache, die unser Evangelium uns berichtet, trotzdem Jahrhunderte darüber hingerauscht sind, hat einen unvergänglichen, einen bleibenden Inhalt. Das Gericht über Jerusalem, welches der HErr hier verkündigt, war ein erster Blitzschlag aus dem Gerichtsgewitter, welches über die ganze Welt am jüngsten Tage hereinbrechen wird. Wie damals Gottes Herberge zu Zion und im Tempel zu Jerusalem war, so ist sie es heute in Seiner Kirche. Und wenn Er nun ansieht Sein Reich auf Erden, die heutige Christenheit; ob die wohl eine andere Gestalt hat, als die im heutigen Evangelium vorgemalte, ob Sein Volk mehr Gedanken für die Ewigkeit hat in unserer Zeit, als zu der damaligen? O, es ist tief betrübend und beugend, wenn man mit den Augen, die der HErr Jesus uns schenkt, die Welt ansieht. Lasst uns aber diesem Blick nicht ausweichen, die Augen nicht schließen vor dem Gemälde, das das heutige Evangelium vor uns aufrollt. „Darum schaue die Güte und den Ernst Gottes; den Ernst an denen, die gefallen sind, die Güte aber an dir, sofern du an der Güte bleibest; sonst wirst du auch abgehauen werden.“ (Röm. 11,22.) Ich wüsste nicht, wo diese Ermahnung des Apostels eine richtigere Stelle finden könnte, als hier, wo der HErr Jesus auf dem Ölberg steht und Jerusalem. ansieht und weint!
Lasst uns nach unserem heutigen Evangelium betrachten: wie der HErr Jesus zum letzten Mal vor Seinem Kreuzestode nach Jerusalem zum Fest kommt. 1. Er kommt mit Tränen. 2. Er kommt mit einer Klage, die zur Anklage wird. 3. Er kommt mit einer zu brennendem Eifer aufgehobenen Hand.
„Und als Er nahe hinzu kam, sah Er die Stadt an und weinte über sie.“ Jerusalem ist eines großen Königs Stadt, dieser König ist Er, der zweigestammte Held, der Herzog unserer Seligkeit, der Auserwählte von Ewigkeit zu Ewigkeit. Aber hier kommt Er nicht in Majestät, hier ist Seine Majestät verborgen in der Knechtsgestalt, und so kommt Er zu dem Advent, den die Kirche zweimal in ihrem Evangelium betrachtet, einmal am 1. Adventsonntage und zum andern Mal am Palmsonntage. Das Volk breitet die Kleider auf den Weg, jauchzt Ihm zu, und den Jüngern ist wohl, meinen sie doch, es solle nun der Tag anbrechen, an dem der HErr ihr sehnliches Verlangen nach der Offenbarung Seiner Herrlichkeit erfüllen wolle. Aber, während das Volk jauchzt und Er dahin zieht unter ihrem Jauchzen und Er auf die Höhe des Ölberges kommt und die Stadt ansieht, da bricht Ihm Sein Herz und da weint Er! Er wusste es, dass dies selbe Volk nach wenigen Tagen Ihn ans Kreuz schlagen würde. Das Lamm Gottes ging zur Schlachtbank. Nicht, um mit Gewalt die Untertanen Seines Reiches unter Seine Füße zu bringen, zieht Er hin, sondern Er kommt, um Sein Leben für sie zum Opfer zu bringen. Er hat Sich erwiesen als den rechten Christus. Er hat verkündigt das Evangelium, welches selig macht, die daran glauben, und richtet, die ihm den Rücken zuwenden. Dieses Wort hat Er geredet. Nun neigte Seines Arbeitstages zwölfte Stunde sich ihrem Ende zu, und Er kommt und sucht die Frucht Seiner Arbeit. „Da Er aber nahe hinzu kam, sah Er die Stadt an und weinte über sie.“ Was bedeuten und wovon zeugen. diese Tränen? Das ist die allerberedteste Sprache der ewigen Liebe! Er sieht das Elend Seiner Stadt. Er geht nicht kalt und gleichgültig an diesem Elend vorüber, nein, Er fühlt ihr Elend mehr als sie selber, und darum weint Er über sie. Jede Widerlegung, auch die, welche unsere frommen lutherischen Väter unternommen haben gegen die gottlose Lehre von einem kalten, gefühllosen „Schicksal“, dem die Menschen unterworfen seien und welchem ihr Leben in seinen Wandlungen anheim falle, ist matt und schwach gegen die Widerlegung, die in diesen Tränen liegt, Tränen einer Liebe, die, wenn sie alles getan hat, was sie vermochte, nichts anderes mehr hat, als Mitleidstränen! Hier komm her, liebe Seele, hier lass dir durch den rechten Maler, den heiligen Geist, ins Herz malen, dass dein Heiland geweint hat, auch über dich. Hier weint Er über die Stadt, die Ihn morden wird, nicht über das, was Er zu leiden hat; bittere Tränen des allerinnigsten Mitleids weint Er über sie; o, wie hat Er sie so lieb gehabt; in Ihm ist sie vollendet, die Liebe der Selbstverleugnung. Seele! Hast du denn ein Gefühl für O diese Liebe? O, was soll es noch geben, wenn ein Menschenherz über diesen Tränen nicht stille wird! Siehe, so geliebt bist auch du. Aber freilich, es ist ein unerbittlicher Ernst, der in den Tränen Jesu liegt. Hier handelt es sich nicht um Ansichten, nicht um Standpunkte; auch um die besten und edelsten Güter dieses Lebens handelt es sich hier nicht; hier handelt es sich darum, selig werden oder verdammt werden, errettet werden oder sterben. Weil die, die den HErrn Jesum hier umgeben, durchaus sterben wollen, weil sie die Zeit ihrer Heimsuchung nicht erkennen wollen, darum weint Er über sie. Ein treuer Zeuge Jesu machte bei der Auslegung dieses Evangeliums vor Jahren seinen Zuhörern die Tränen Jesu besonders eindrücklich durch das Bild eines Hauses, um welches hernach einem großen Regen überall Spuren dieses Regens zu entdecken seien. O Menschenkind! Wenn du Augen bekämest, die Spuren zu entdecken von den Tränen, die dein Heiland um dich her geweint! Lass von Ihm sie dir schenken.
Und nun hören wir, zu welcher Klage des HErrn Lippen sich öffnen und wie sie zugleich zur Anklage wird. Er hatte Seinem Volke verkündigt: „Ich bin das Licht der Welt“ und bei ihnen blieb alles finster. „Wenn du es wüsstest zu dieser deiner Zeit, was zu deinem Frieden dient; aber nun ist es vor deinen Augen verborgen. Denn es wird die Zeit kommen, dass deine Feinde werden um dich und deine Kinder mit dir eine Wagenburg schlagen, dich belagern und an allen Orten ängsten. Und werden dich schleifen und keinen Stein auf dem andern lassen, darum, dass du nicht erkannt hast die Zeit, darinnen du heimgesucht bist.“ Eben die Liebe, die Tränen weint, verkündigt dies Gericht; die mächtige Hand des HErrn war ausgestreckt nach ihnen, aber es ist ihnen verborgen, sie sehen den Heiland nicht, der in Jesu Gestalt vor ihnen stand. Schrecklichste Blindheit, den Heiland nicht sehen! Warum sehen sie Ihn nicht? Es ist doch nichts erkennbarer als diese Stimme, von der ein Liederdichter singt: „die trotz Weltgelärme uns so kenntlich ist an ihrer Wärme.“ Aber es sehen Ihn eben nicht alle stolzen und weltseligen Leute, weil sie Ihn nicht lieben. Göttliche Dinge muss man lieben, um sie zu erkennen. Und sie liebten Ihn nicht, weil sie Ihn nicht brauchten; war doch Abraham ihr Vater, dessen trösteten sie sich. Aber, weil sie Gottes Wort nicht in sich wohnen hatten, darum zuschanden sie Ihn nicht und darum wurden sie immer blinder. Ihre Blindheit war eine verschuldete Blindheit, verschuldet, weil sie selbst ihre Augen verblendet hatten gegen das Licht, welches mitten unter sie getreten war. Wacht auf, lieben Seelen! Niemand erwehre sich der Frage: Sehe ich den Heiland, meinen Heiland? Wer den Heiland nicht sieht, der muss den Richter fühlen.
Geliebte, es gibt so viele, denen es unbequem ist, eine ewige Entscheidung zu glauben. Ja, eine ewige Seligkeit, das ginge noch, aber ewige Verdammnis, das können sie nicht mit der Liebe Gottes vereinbaren. Nun, der HErr Jesus würde über Jerusalem nicht geweint haben, wenn auch die schwerste über sie hereinbrechende Trübsal nur Heimsuchung gewesen wäre. Er weinte, weil sich hiermit das Gericht einer ewigen Verwerfung entschied. Und deine Zeit, wie lange dauert sie denn noch? Du Weltkind, wenn du so munter herumhüpfst und das Leben genießest, wie lange dauert es noch? Es ist wahrlich nicht leicht, an jedem Abend der Vergebung wieder so gewiss zu sein; denn hier, vor Jesu Augen, gilt nichts anderes, denn die neue Kreatur, und zwar gilt das nicht bloß für die verlorenen Söhne, die sich an den Träbern der Welt gesättigt haben, auch für den ältesten Sohn gilt das, der daheim geblieben war und sein Gut nicht mit Prassen umgebracht hatte. Frage dich: Ist Jesus dein Heiland, dein größtes Interesse, dein höchstes Gut? sonst ist dein Christentum nicht echt, du musst zu einer wahren, aufrichtigen, rechtschaffenen Bekehrung kommen. O, dass sich niemand betrüge! Jerusalem hat sich betrogen, da es nicht bedachte zu seiner Zeit, was zu seinem Frieden diente, und Gott hat Gericht über dasselbe gehalten. Hat der HErr nicht ernstlich gewünscht und gewollt, dass die Kinder Jerusalems erkennten, was zu ihrem Frieden diente, und dass ihr Heil allein bei Ihm stünde? Die Tränen und die Klageworte des Sohnes Gottes über Jerusalem besiegeln das prophetische Wort, dass Gott keinen Gefallen habe am Tode des Gottlosen (Ezech. 33, 11) und verwehren dem lästerlichen Irrtum, dass jemand zufolge zwingenden göttlichen Verhängnisses verloren gehe, auf immer den Eingang in die Kirche des Wortes der Wahrheit. Stelle dir, liebe Seele, den Heiland recht vor die Augen des Gemüts, wenn dich der Zweifel quält, ob Er will, dass du zur Buße dich kehrest und in Ihm deinen Frieden findest; siehe, wie Er weint über die arge Sünderstadt; höre, wie Er wehklagt und seufzt: „O, dass du es wüsstest!“ Ach, lieber HErr Jesu, lass Deine Tränen uns im Herzen brennen wie Feuer, dass wir's endlich nicht lassen können, zu schreien: Erbarme Dich unser! Amen.