Tauler, Johannes - Von der höchsten Würde und Seligkeit des Menschen.

In unserm Herrn Jesu Christo grüße ich euch, und wünsche euch ein seliges Leben, und darum schreibe ich dieses Wort:

Zu einem seligen Leben gehört ein Sinn, der wohl bewahrt, aus der Welt und dem Fleische gezogen, allein zu Gott erhoben, nichts von der eiteln Welt haben will, nicht um vergängliche Dinge bekümmert, nur mit himmlischen Gedanken und Gestalten, ohne einige Vermischung mit irdischen, erfüllet ist, die Gesellschaft aller Kreaturen ekelhaft findet, und endlich durch die Kraft des Heiligen Geistes, nach diesem Leben, in die oberste Region überbracht wird.

Darnach, wünsche ich, soll euer herzliches Verlangen gerichtet seyn.

Laßt euch überall wieder zu Sinne kommen und stets zu Herzen gehen, daß euere Seele mit Gott getrauet, und keine Kreatur auf Erden so edel oder würdig sey, daß sich das Herz vor Gott darum bekümmern sollte.

Verloren soll man den Tag halten, an dem man seinen Eigenwillen, um der Liebe Gottes willen, nicht gebrochen hat. Ach! ist es nicht Jammer und Noth, daß das Herz, welches geschaffen ist, Gott allein zu besitzen, getheilet, und ihm Alles, was auf das Himmelreich Bezug hat, so lästig ist! Den Menschen, den Gott für sich und seinen Willen bereit haben möchte, ziehen und reizen alle Kreaturen, daß er ihnen zu Gebote stehe.

Quelle: Sailer, Johann Michael - Briefe aus allen Jahrhunderten