Nagel, Gustav Friedrich - Über Irrlehren

Die einseitige Auffassung und Ausbildung einer Wahrheit hat schon zu schrecklichen Ketzereien und Irrtümern geführt, und immer wieder läßt sich der Fluch solcher Einseitigkeiten wahrnehmen. Es zeigt sich denn auch durchweg bei denen, auf deren Panier eine besondere, vor anderen ausgewählte Heilswahrheit geschrieben steht, eine oft beängstigende Unwissenheit und Unklarheit, sobald es sich um das Ganze des Ratschlusses Gottes handelt. Ihr Lieblingsthema, möge dasselbe nun Evangelisation, Heiligung, Versiegelung oder wie immer heißen, gewinnt in demselben Maße an Bedeutung, als ihnen der Blick auf das Ganze der Wahrheit getrübt wird. […]

Auf diese Weise ist es denn dahin gekommen, daß man vielerorts an einem gründlichen Anschauen und Betrachten des geschichtlichen Ganges der göttlichen Offenbarung im allgemeinen und der grundlegenden Thatsachen des Heils weder Freude noch Geschmack mehr hat. Man fühlt sich nur heimisch in jener ganz einseitigen Betrachtungsweise, die natürlich umso hohler werden muß, je mehr man sich dabei von dem Schriftganzen löst.

Es ist erklärlich, daß es bei einer solchen Stellung zur Heiligen Schrift, wo der Schwerpunkt unvermerkt von dem Opfer Christi in den persönlichen Heiligungseifer verlegt wird, zur Ausbildung von allerlei Theorien kommt, die das verheißende Ziel völliger Heiligkeit und damit völliger Sicherheit in nahe Aussicht stellen. Sobald man aber den Maßstab des gesamten Schriftzeugnisses an jene Theorien legt, erweist sich für den Verständigen bald ihre Oberflächlichkeit, und trotz aller versuchten Begründung mit der Schrift treten die Irrtümer zu Tage.