Inhaltsverzeichnis

Jacoby, Carl Johann Hermann - Der erste Brief des Apostels Johannes in Predigten ausgelegt - I. Die Gewissheit des Glaubens.

1. Joh. 1,1-5.

Das da von Anfang war, das wir gehört haben, das wir gesehen haben mit unseren Augen, das wir beschauet haben, und unsere Hände betastet haben, vom Worte des Lebens; und das Leben ist erschienen, und wir haben gesehen und zeugen und verkündigen euch das Leben, das ewig ist, welches war bei dem Vater und ist uns erschienen; was wir gesehen und gehört haben, das verkündigen wir euch, auf dass auch ihr mit uns Gemeinschaft habt, und unsere Gemeinschaft sei mit dem Vater und mit seinem Sohne Jesu Christo. Und solches schreiben wir euch, auf dass unsre Freude völlig sei. Und das ist die Verkündigung, die wir von ihm gehört haben und euch verkündigen, dass Gott ein Licht ist, und in ihm ist keine Finsternis.

Ein hervorragender Gottesgelehrter hat das Urteil ausgesprochen, dass christliche Gesinnung und Überzeugung in der Gegenwart eine weitere Verbreitung gefunden haben, als wir vorauszusehen pflegen. Ein unbewusstes Christentum habe auch da Wurzeln geschlagen, wo wir nur eine kühle, fremde Stellung zur Kirche, eine Ablehnung der Formen, in denen die Heilswahrheit verkündet werde, wahrnehmen. Ohne Zweifel, diesem Urteil liegt eine Trost gewährende Wahrheit zu Grunde. Denn es gibt in unserer Mitte nicht wenige Persönlichkeiten, welche vertrauend zu Gott, dem Lenker unserer Schicksale, emporschauen, welche mit großer Gewissenhaftigkeit ihr Leben gestalten und ihre Berufspflichten treu erfüllen, welche nach dem Zerfall der irdischen Hütte dieses Leibes ein Leben der Seele bei Gott erhoffen, und welche mit Bewunderung und Verehrung Jesu Christi gedenken, in dem sie den Verkünder ewiger Wahrheit und das Vorbild heiligen Lebens erkennen. Gewiss, wir haben kein Recht, diesen Persönlichkeiten den Anspruch auf den Namen „Christ“ zu bestreiten, wir sind verpflichtet, auch hier Wirkungen der Strahlen wahrzunehmen, die von Christus ausgehen.

Aber dennoch kann unser Auge nicht mit ungetrübter Freudigkeit auf ihnen ruhen; wieviel sie auch besitzen mögen, ihnen fehlt doch alles, was die Herrlichkeit des christlichen Lebens bildet. Die Fülle der göttlichen Gnade, die sich uns in Christus offenbart hat, der Trost seines Kreuzes, die Gewissheit der Versöhnung des Sünders mit Gott, die umschaffende und erlösende Kraft des heiligen Geistes, welche von Christo nimmt und den Seinen gibt, diese himmlischen Heilsgüter bleiben ihrem Auge verborgen. Was sie besitzen, ist doch nur ein dürftiger, wenn auch unendlich wertvoller Teil der Gaben, die ihnen Gott als ihr Erbe bestimmt hat; was ihnen eigen ist, es erscheint uns doch nur als ein kleines und oft genug dahinschwindendes Kapital, das ihnen von einem reichen Schatz übrig geblieben ist. Was sie ergriffen haben, was, ein Strahl himmlischer Herrlichkeit, ihr Herz erhellt und erwärmt, es leuchtet doch nur, wie aus weiter Ferne, in mattem Licht in ihr Inneres hinein. Es ist doch nur ein unsicheres Ahnen, das sie über dies irdische Dasein hinaus zu der unsichtbaren Welt emporhebt. Sie mögen sich der Verheißung getrösten, dass der Herr das zerstoßene Rohr nicht zerbrechen und das glimmende Docht nicht auslöschen wird (Ev. Matth. 12,20), aber sie mögen sich auch vor der verderblichen Selbsttäuschung hüten, dass ihre Armut ein Reichtum sei. Sie stehen im Vorhof, aber nicht im Heiligtum. Sie haben das herrlichste Gut nicht gefunden, weil sie es nicht gesucht haben. Ihnen fehlt die selige Gewissheit, dass in Christo Gott ihr Vater, dass sie in ihm seine Kinder geworden sind, ihnen fehlt die Kindesfreude, der Kindesfriede, das Kindesvertrauen, und deshalb bleibt der unendlich Nahe ihnen doch oft unendlich fern.

Der Gedanke, dass ein unbewusstes Christentum in vielen lebt, die fremd an der Kirche vorübergehen, soll ein Trost für uns sein, an den Kindern unserer Zeit nicht zu verzagen, soll uns vergegenwärtigen, dass ein treues Haushalten mit wenigem fruchtbarer ist und reiferen Segen bringt als die untreue Verwaltung vieler und großer Güter; aber er darf uns nicht verführen, ein Geringes als ein Großes zu schätzen und da helles Tageslicht zu sehen, wo eine Dämmerung waltet, die hier vielleicht den Anbruch des Morgens weissagt, die aber dort vielleicht den Beginn der Nacht verkündigt.

Nein, meine Lieben, unser Fuß darf nicht im Vorhof stehen bleiben, er muss in das Heiligtum, in das Allerheiligste eintreten.

Christus muss uns alles werden, nicht bloß Lehrer und Vorbild, nicht bloß Prophet, sondern auch Hohepriester und König. Wir wollen nicht bloß ahnen und aus der Ferne schauen, wir suchen Gewissheit des Glaubens und in der Gewissheit Reichtum des Lebens. So sei

Die Gewissheit des Glaubens

der Gegenstand unserer andächtigen Betrachtung. Wir fragen nach dem Grunde, auf dem sie ruht, nach der Wahrheit, welche sie in sich schließt, und nach der Frucht, die sie trägt.

1.

Der Grund, auf dem die Gewissheit des Glaubens ruht, ist die innere Erfahrung. Aus dieser Wurzel war der Glaube des Apostels Johannes erwachsen. Er verkündet, was er mit seinen Augen gesehen, mit seinen Ohren gehört, mit seinen Händen betastet hat. Die Worte Christi, die er bezeugt, er selbst hat sie vernommen; die Herrlichkeit des eingebornen Sohnes Gottes, die er uns vergegenwärtigt, er selbst hat sie geschaut. Er redet zu uns, der am Busen Jesu geruht hat, der seine Hände in Jesu Hände gelegt hat. Aber war es nur die sinnliche Wahrnehmung die seinen Glauben begründete? Wahrlich, nein! Das Volk Israel hatte auch Jesus gesehen, war ein Augenzeuge seiner Wunder, ein Ohrenzeuge seiner gnadenreichen Worte gewesen und war dennoch im Unglauben ihm fern geblieben. Was die Sinne zeigen, nur die Sinne, was nur äußere Erfahrung bleibt, es erzeugt den Glauben nicht. Nur, was die Wahrnehmung des Geistes, was der innere Sinn offenbart, führt in das Heiligtum, nur aus innerer Erfahrung erwächst die Gewissheit des Glaubens. Der Apostel Johannes war vom Wort des Herrn in den innersten Tiefen des Herzens bewegt worden, er hatte in ihm das Wort der Wahrheit und der Gnade erkannt, das Wort des Friedens und des Lebens. Ein mächtiger Zug seiner Seele hatte ihn zum Herrn hin und in seine Nachfolge hineingeführt, er war gefesselt worden von dem heiligen Ernst, der alle Sünde ausschloss, von der zarten Liebe, welche die Schwachen so langmütig trug, von der Hirtentreue, welche das Verlorene suchte, von der Barmherzigkeit, welche die Elenden tröstete, von dem gnadenreichen Wirken, welches dem Bußfertigen die Vergebung der Sünden in das Herz sprach, von dem sündlosen Wandel des Gerechten, der doch nicht richten, sondern retten wollte. So enthüllte sich für den Apostel Johannes das Geheimnis, welches dies einzigartige Leben in sich schloss, er erkannte in Jesus den Messias, Christus, der Menschensohn wurde ihm der Sohn Gottes, alle Wunder erschienen ihm als Zeichen, als Offenbarungen der Herrlichkeit des Heilands, sein Wort wurde ihm Gottes Wort, sein Werk Gottes Werk; er erblickte in ihm das ewige Abbild des Vaters im Spiegel sündlosen, heiligen Menschenlebens. Aus der Liebe zu Jesu erwuchs der Glaube, nach dem Gesetz, dass alles Verständnis, alles tiefere Eindringen in das Leben der Geister an die Liebe gebunden ist. Wir verstehen sie nur, wenn wir sie lieben; die Grenze der Liebe ist auch die Grenze des Verstehens.

Und nun, meine Lieben, fragen wir uns, ob auch für uns die Gewissheit des Glaubens auf demselben Wege gewonnen wird. Wir könnten zweifeln, da ja fast neunzehn Jahrhunderte verflossen sind, seitdem Jesus Christus in die Menschheit eingetreten ist, da niemand von uns in sein Angesicht zu schauen vermag, niemand seine Lippen zu holdseliger Rede sich öffnen sieht. Und dennoch, meine Teuren, der Glaubensweg des Apostels kann und muss auch unser Glaubensweg werden. Dieselbe Erfahrung bietet sich auch uns dar. Denselben Eindruck von der Persönlichkeit Jesu Christi, von seinem Wort, von seinem Werk, von seinem Wandel, den die Apostel erhielten, können auch wir empfangen. Zuverlässige Zeugen haben uns sein Bild gezeichnet, sein Wirken, sein Leiden, seine Erhöhung zur Rechten des Vaters bezeugt, seine Worte überliefert. Und je mehr wir dies Bild in unser Inneres aufnehmen, je tiefer sich Jesu Wort in unser Herz senkt, desto mehr erfahren wir es, dass nicht Dichtung, sondern Wirklichkeit hier zu uns redet. Nicht die schöpferische Phantasie eines sündigen Menschen hat dies Lebensbild geschaffen, in dessen Gestalt auch die schärfste, unerbittlichste Beurteilung keine Spur der Sünde zu entdecken vermag, sondern Gottes treue und barmherzige Liebe hat sich der elenden Menschheit angenommen und hat sich selbst in ihr versöhnend und erlösend offenbart. Er hat der Wirklichkeit sündigen Weltlebens die Wirklichkeit des heiligen Lebens des Sohnes Gottes gegenübergestellt, sie zu überwinden. Und, meine Teuren, wenn wir dem Heiland unser Herz erschließen, so spüren wir es, wie ein neuer, unserm natürlichen Menschen fremder, heiliger Geist unsern Geist berührt, wie die Kräfte neuen, heiligen Lebens uns erfüllen, wie sich das Reich Gottes in uns erbaut, wie die unsichtbare Welt uns als ihre Glieder in sich aufnimmt. Wir werden durch Erfahrung unsers Glaubens gewiss. Und zu diesem eignen innersten Erleben spricht die Geschichte der Menschheit, in die Christus eingetreten ist, ihr Ja und Amen. Als der Apostel Johannes die Worte der Glaubensgewissheit niederschrieb, denen wir in diesen Betrachtungen folgen, war die Christenheit nur eine kleine Schar mitten in einer heidnischen Welt. Das Evangelium hatte sich noch nicht als den alles durchdringenden Sauerteig offenbaren können, noch gab es keinen christlichen Staat, keine christliche Wissenschaft, keine christliche Kunst. Noch waren die bürgerlichen Ordnungen nicht vom Evangelium erneuert und umgeschaffen worden. Ein christliches Volkstum hatte sich noch nicht gebildet. Und dennoch welche Zuversicht, welche Kraft erfüllt des Apostels Glauben! Sollte nicht unser Glaube dieselbe, wenn nicht eine größere Lebensfülle besitzen! Blicken wir doch auf die Erfahrungen einer Geschichte von neunzehn Jahrhunderten zurück, einer Geschichte, welche, wie viele Denkmale getrübten, ja entstellten Christentums sie auch aufweisen mag, dennoch, als ein Ganzes angesehen, die fortschreitende Entwickelung des Reiches Gottes, den Sieg des Lichtes über die Finsternis, der Liebe über den Hass, der Wahrheit über die Lüge offenbart! Wahrlich, wir haben ein Recht, zu bezeugen: Unser Glaube ruht auf innerer Erfahrung, der eigne Lebensweg und die Geschichte der Menschheit bilden den Grund, in dem er wurzelt.

2.

Aber ebenso erwächst die Gewissheit unsers Glaubens aus der überzeugenden Kraft der Wahrheit, die er in sich schließt. Der Apostel fasst sie in dem Worte zusammen, dass Gott ein Licht ist und in ihm keine Finsternis, und dass uns in Christus das ewige Leben, das bei dem Vater war, erschienen ist. Und so nennt er den Heiland das Wort des Lebens. Licht und Leben sind die Heilsgüter, welche uns das Evangelium bezeugt und darbietet, ewiges, göttliches Licht, das immer strahlt und nie mit der Finsternis wechselt, ewiges, göttliches Leben, das selbst nie endet und alle Mächte des Todes überwindet. Welche selige Gewissheit! Es gibt ein ewiges Licht, unser Gott ist das Licht der Welt. Unsre Seele verlangt nach Licht. Schon das irdische, natürliche Licht erquickt uns. Wenn das Licht des anbrechenden neuen Tages das Dunkel der Nacht verscheucht hat, zieht neue Freudigkeit in unser Herz. So viele trübe Gedanken, die in der Nacht durch das bekümmerte Gemüt ziehen, wenn Sorge oder Krankheit den tröstenden und stärkenden Schlaf fern halten, weichen, wenn die Tageshelle in das Zimmer dringt, oder verlieren doch ihre niederbeugende Gewalt. Wenn ein bedeckter Himmel, der den Sonnenstrahlen nur gehemmten Zugang gestattet, zur Schwermut geneigten Sinn in Dunkel hüllt, so wandelt er sich leicht in Freude, wenn die Sonne durchbricht und hellen Schein über die Erde breitet. Aber freilich hier ist immer Wechsel von Licht und Finsternis, Wechsel von Zagen und Hoffen, von Lebensmut und Lebensmüdigkeit, und unwillkürlich löst eine Stimmung die andere ab. Aber in den innersten Tiefen unsers Gemüts soll es immer licht und klar sein, soll immer eine stille, heilige Freude walten, denn uns ist die Botschaft geworden: Gott ist Licht, ewiges Licht, das nie erlischt, dessen Strahlen in immer gleicher Kraft erleuchten, durch keine Wolken gehemmt. Darum, trauerndes Herz, wenn das Erdenleben dich in dunkle Schatten hüllt, wenn Schmerz und Sorge dich niederbeugen, wenn du Geliebte beweinst, die dir entrissen wurden, wenn dich der Blick in die Vergangenheit mit Kummer, und der Blick in die Zukunft mit Bangigkeit erfüllt, wenn es finster geworden ist in deinem Herzen, weil finster in deiner Welt, dann blick auf zu deinem Gott. Er ist Licht und wohnt im Licht. In ihm ist Klarheit, Friede und Freude. Er will dein Licht werden, dir Klarheit, Frieden und Freude geben. Deshalb hat er seinen eingebornen Sohn, Jesum Christum, zu uns gesandt, dass wir durch ihn an seinem ewigen Lichte teil haben.

Gott ist Licht, die Quelle ewiger Freude, aber Gott ist auch Licht, die Quelle des Reinen, Heiligen, Guten. Die Finsternis ist das Sinnbild der Sünde, das Licht das Bild der Lauterkeit. Lichtes Auge, klare Züge offenbaren die Einfalt des Herzens. Ein Auge, das nicht frei ausschaut, das scheu sich senkt, Züge, die gebunden, gefesselt erscheinen, nicht ungehemmt sich entfalten, gewiss nicht immer, aber wie oft sind sie Zeichen sündigen Geisteslebens!

Welch reicher Trost ist in dem Worte beschlossen: Gott ist Licht! Über die Welt der Sünde erhaben, lebt Gott, das heilige Licht. Und er hat sein Licht hineinscheinen lassen in die Welt, nicht, um sie zu richten, sondern, um sie zu retten; er hat in Jesu Christo sich als Licht offenbart, hat durch ihn ein Reich des Lichts gestiftet und ruft uns, in dasselbe einzutreten.

Das ew'ge Licht geht da hinein,
Gibt der Welt einen neuen Schein,
Es leucht wohl mitten in der Nacht
Und uns des Lichtes Kinder macht.
Kyrie eleis.

Unser Gott ist Licht und alles Lichtes Quelle, das Licht der Freude und das Licht der Heiligkeit. Aber auch das Licht der Wahrheit geht von ihm aus. Wahrheit ist Licht des Lebens, wie Lüge und Irrtum Finsternis des Todes. Wer in ihr wandelt, gleicht dem Wanderer, der im Dunkel der Nacht, des Weges unkundig, einherschreitet. Er erreicht nicht das Ziel, nach welchem er hinstrebt; er kann schwer Gefahren entgehen, die ihm Verderben bereiten, Sumpf und Moor, in denen er versinkt, Abgründen, in die er zerschmettert hinabstürzt. Wir alle sind Pilgrime auf Erden, ein hohes, herrliches Ziel winkt uns aus der Ferne. Aber wir erreichen es nicht, wir kommen ihm nicht näher, es entschwindet unsern Augen, wenn uns nicht die Wahrheit leuchtet. Wir verirren uns in der Welt und können den Rückgang nicht finden, Elend und Untergang drohen uns, wenn wir Lüge und Irrtum als Führern folgen. Aber wir dürfen nicht verzagen. Gott, die ewige Wahrheit, ist uns in Christus erschienen. Wenn wir seinem Worte glauben, so ist die Wahrheit in uns, wir schauen das Ziel, wir erkennen den Weg.

Gott ist das Licht der Freude, der Heiligkeit, der Wahrheit, und deshalb das Leben. Wenn Gott uns seine Freude, seine Heiligkeit, seine Wahrheit offenbart, wenn wir sie in Christo anschauen, von ihm ergriffen ihren Strahlen uns erschließen, dann empfangen wir Leben aus Gott, Leben in Gott. Die Kinder der Welt wähnen freilich, das Leben, ungestörten Genuss, ungebrochene Kraft, könnten sie nur gewinnen und bewahren, wenn sie sich von Gott entfernen. Aber, was ihnen Leben scheint, ist Tod. Ein Leben ohne Licht, ohne Licht der Freude in Gott, ohne Licht der Heiligkeit aus Gott, ohne Licht der Wahrheit von Gott lägt nur den Schein des Lebens. Ein Erdenwandel, der nur Erdengüter sucht, ist Wandel im Schatten des Todes, nicht Wandel im Licht des Lebens. Vergängliches ist sein Teil, das unter der Hand zerrinnt, von dem nichts bleibt. Wer sein Leben, sein tiefstes, innerstes Leben im Vergänglichen sucht, beschreitet den Weg des Vergehens, des Sterbens. Aber wer im Lichte Gottes lebt, lebt wahrhaft, lebt in dem, was bleibt, denn er lebt in Gott, alles Lebens Grund, alles Lebens Quell, alles Lebens Ziel.

Siehe da die herrliche Wahrheit unsers Glaubens! Er trägt die Gewissheit in sich. Was uns das höchste, das bleibende Leben gibt, Wahrheit, der wir unentwegt vertrauen, Heiligkeit, die uns aus den Ketten der Sünde befreit, Freude, die auch im trauernden Herzen nicht erlischt, das erfahren wir als beseligende Wirklichkeit. Unser Glaube ist gewiss.

3.

Und deshalb trägt er auch herrliche Früchte. Er breitet sich aus, er kann nicht schweigen. Wovon das Herz voll ist, geht der Mund über. Die Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohne, diese Gemeinschaft des Lichts und des Lebens, diese heiligende und beseligende Erfahrung, wir können nicht anders, als sie denen bezeugen, die ihr noch ferne stehen, damit auch sie ihre erneuernde Kraft spüren. Daher sagt der Apostel: Was wir gesehen und gehört haben, das verkündigen wir euch, auf dass auch ihr mit uns Gemeinschaft habt, und unsre Gemeinschaft sei mit dem Vater und mit seinem Sohne Jesu Christo. Ist es doch schon so in unsern natürlichen Lebensverhältnissen, dass wir gedrungen werden, sobald eine große Freude uns zuteil geworden, sobald wir eine beglückende Botschaft empfangen haben, an deren Zuverlässigkeit wir nicht zweifeln können, sie denen mitzuteilen, die unserm Herzen nahe stehen. „Freut euch mit mir,“ ruft der Hirt, der dem verlorenen Schaf in die Wüste nachgegangen war, „denn ich habe mein Schaf gefunden, das verloren war.“ „Freut euch mit mir,“ jauchzt das Weib, das so eifrig den vermissten Groschen gesucht hatte, „denn ich habe meinen Groschen gefunden, den ich verloren hatte.“ (Ev. Luk. Kap. 15.) Unsre eigne Freude ist nur vollkommen, wenn wir sie verkündigen dürfen. Daher fügt auch der Apostel hinzu: Und solches schreiben wir euch, auf dass unsre Freude vollkommen sei. Ja, es ist in der Tat so, dass unsre Freude wächst, wenn wir die Botschaft des Heils verkündigen. Das ist der Segen der Predigt des Evangeliums. Wir haben ihn erfahren. Wenn wir, von der seligen Gewissheit des Glaubens erfüllt, unsern Kindern das Bild des Heilands vor Augen malen, wenn wir sie lehren, ihre Hände zu falten und ihre Augen zum Vater im Himmel zu erheben, wenn wir so als Priester walten, Vater und Mutter im Hause, Lehrer und Lehrerin in der Schule, wenn wir sie so hineinziehen in die Gemeinschaft mit unserm Gott, in der wir selbst stehen, dann erwacht in unsern Herzen das Gefühl seliger Freude. Oder, wenn ein Freund es dem andern bezeugt, von der Gewissheit des Glaubens bewegt, dass er den Heiland gefunden, wenn er ihn einladet, denselben Weg des Lebens zu gehen, wie einst Andreas es Petrus zurief: Wir haben den Messias gefunden, und Philippus dem Nathanael die gleiche Botschaft verkündete (Ev. Joh. 1, 41-45), wenn dann das Wort des Glaubens zündet, Glaube Glauben weckt, dann werden Stunden seligster Freude erlebt. Und bedarf es, dass wir uns die erquickenden Erfahrungen vergegenwärtigen, die spärlich hier, reichlich dort, den Dienern des Evangeliums an den Gemeinden beschieden sind, die Erfahrungen, dass ihre Arbeit nicht vergeblich gewesen ist, dass sie Frucht getragen, dass des Herrn Segen sie begleitet hat, diese Erfahrungen, die uns trösten wollen, dass wir so oft anklopften, ohne dass uns aufgetan wurde, und mit neuer Freudigkeit, mit neuem Mut erfüllen, das Werk des Herrn zu treiben, an seinem Reiche zu bauen.

Aber, meine Lieben, es würde ein selbstischer Sinn uns beherrschen, wenn wir nur deshalb unsern Glauben verkündeten, um die eigne erlebte Freude zu bezeugen und sie bezeugend zu erhöhen, wenn wir so in der Botschaft des Evangeliums nur uns selbst dienen wollten, das eigene Genügen zu suchen. So ist es nicht, so kann es nicht sein. Wenn wir unsern Gott und Heiland gefunden haben, dann erkennen wir in ihm den Gott und Heiland aller Menschen, dann erwacht in uns die Bruderliebe, welche zum Lichte führen will, die noch im Schatten der Finsternis wandeln, erwacht in uns die Liebe zum Herrn, die sein Reich mehren und Kinder, die in ihm das Heil finden, in seinem Hause sammeln will. So rufen wir es in die Welt hinein: Licht und Leben ist erschienen; Schlafende, wacht auf, dass euch Christus erleuchte; Tote, lasst euch erwecken, dass ihr das Leben empfangt (Ephes. 5,14). Es ist etwas Hohes und Seliges, eigner Freude Raum zu geben, aber es ist herrlicher, die Freude der Brüder zu schaffen. Geben ist seliger denn Nehmen (Apostelgesch. 20,35).

An beides zugleich, an die Mehrung der eignen und an das Wachstum der Freude der Brüder, werden wir in unserm Texte erinnert. Es muss zweifelhaft bleiben, ob die Worte des Apostels lauten: „Und solches schreiben wir euch, auf dass eure Freude völlig sei“, oder „auf dass unsre Freude völlig sei“. Wir sind der letzten Lesart gefolgt, weil ältere Handschriften sie bezeugen, Luther der ersten. Aber diese beiden Lesarten mögen uns Wegweiser sein zu zwiefacher Wahrheit. In treuer Verkündigung wächst unsre Freude, wächst die Freude der Brüder. Gebend empfangen wir, Freude säend ernten wir Freude. Siehe da die Frucht der Gewissheit des Glaubens! Im Glauben die Liebe, welche Gottes Reich baut und den Brüdern dient, freudig den Reichtum der Gnade darbietet, damit die Armen reich, die Trauernden getröstet, Gebende und Empfangende in der Gemeinschaft dankbarer Freude verbunden werden.

In dem Herrn Geliebte! Das Kirchenjahr geht mit schnellen Schritten seinem Ende entgegen. Am nächsten Sonntage beschließen wir es, indem wir unsrer Toten gedenken. Werden wir dann in Gewissheit des Glaubens über das Grab hinaus in die unsichtbare, ewige Welt hineinschauen als die Trauernden und doch als die Getrösteten? Gewissheit des Glaubens, meine Teuren, ist des Lebens in Gott Wurzel und Anfang, aber auch Frucht und Ziel. Jeder größere Abschnitt im Verlauf unsres Erdenwandels, jedes Kirchenjahr, das uns Gottes Gnade geschenkt hat, will uns in der Glaubensgewissheit stärken. Alle himmlischen Botschaften, die wir von geweihter Stätte vernehmen, alle freudigen und schmerzlichen Geschicke, die Gottes Führungen uns zu teil werden lassen, sind ein Ruf zum Glauben, wollen des Glaubens Gewissheit stärken. Wo aber Gewissheit des Glaubens ist, da ist auch die Hoffnung, die der Tod überwindet. Ihr erhellt das Licht Gottes das Dunkel des Grabes, sie erkennt im Weg des Todes den Weg des Lebens, den Weg zu Gott, alles Lebens Duell. Herr, stärke uns den Glauben, gib uns Gewissheit des Glaubens und in ihr Trost der Hoffnung. Amen.