Hohelied 3,1-3.; 4,16 und 5, 6. 7.
Kap. 3,1-3.: Ich suchte des Nachts in meinem Bette, den meine Seele liebte. Ich suchte, aber ich fand Ihn nicht. Ich will aufstehen, und in der Stadt umhergehen auf den Gassen und Straßen, und suchen, den meine Seele liebt. Ich suchte, aber ich fand ihn nicht. Es fanden mich die Wächter, die in der Stadt umhergehen: Saht ihr nicht gesehen, den meine Seele liebt? Kap. 4, 16.: Stehe auf, Nordwind, und komm', Südwind, and wehe durch meinen Garten, dass seine Würze triefen. Kap. 5,6.7.: Und da ich meinem Freunde aufgetan hatte, war Er weg und hingegangen. Da ging meine Seele heraus nach seinem Worte. Ich suchte Ihn, aber ich fand Ihn nicht; ich rief, aber Er antwortete mir nicht. Es fanden mich die Hüter, die in der Stadt umhergehen, die schlugen mich wund; die Hüter auf der Mauer nahmen mir meinen Schleier.**
„Ich fand Ihn,“ dies Wort wird selten wahr. Wenige finden den HErrn. Jesus wird zwar von vielen gesucht, aber bei wenigen nur heißt es: „Ich suche, den meine Seele liebt.“ Als der HErr noch auf Erden wandelte, da wurde Er oft von vielen gesucht; denn Er speiste sie und heilte sie. Aber sehen wir uns um nach solchen, die das Leben in Ihm suchten und ihn selber liebten, so finden wir deren nicht viele. Es gibt ein Suchen des HErrn, das keine Verheißung der Seligkeit hat; aber auch ein Suchen, dabei man schon selig ist. Das erste Suchen ist das Anklopfen bei dem HErrn, das Anrufen in der Not. Da zieht der Mensch die Sturmglocke, die uns der barmherzige Gott gegeben hat in seiner Verheißung: „Rufe mich an in der Not, so will ich dich erretten.“ Man sucht den HErrn, und findet Errettung, ja Erquickung. Wir müssen aber vom fachlichen Suchen übergehen zum persönlichen Suchen. Den HErrn selbst suchen oder nur eine äußere Hilfe bei Ihm suchen, ist zweierlei. Das Suchen wird dann erst ein seliges, wenn es heißt: „Ich suche, den meine Seele liebt.“ Das fehlt bei so vielen, dass sie den ganzen Jesum suchen, als den Geliebten. Du fragst: Wie kann ich das? Wie, hätten wir keine Ursache, Jesum zu lieben, schon ehe wir Ihn haben, ehe Er sich uns zu eigen gibt? Sollte uns seine Reinheit, seine Liebe nicht anziehen? Sollte niemand unter uns sein, der den HErrn in Liebe sucht, nicht nur in Angst und Not? Ich meine, Kranke sollten es besonders gut lernen, Jesum liebend zu suchen; sie schauen ja so oft, welch' Erbarmen Jesus mit uns hatte, da wir noch so in Sünden dahinlebten. Der HErr gebe, dass wir Ihn liebend suchen lernen! Das ist der Anfang, um mit Ihm in einen vertrauten Umgang zu kommen - und dann kommt erst das rechte Pfingsten. Ja, so kommt man erst in den Besitzen des HErrn, dass man nicht nur sagen kann: Meine Seele liebt Ihn, sondern: Ich habe ihn. Lieben und Haben ist zweierlei. Manche Seelen besitzen Jesum noch nicht, wie sie Ihn gerne hätten, als ihren Schatz und Bräutigam, die sollen nur aufstehen und Ihn fort und fort recht suchen.
„Ich will aufstehen und in der Stadt umhergehen auf den Gassen und Straßen, und suchen, den meine Seele liebt,“. spricht die Braut (V. 2). Aber wie? Sie klagt: „Ich suchte, aber ich fand Ihn nicht.“ Seht, da wird uns schön beschrieben das eigene Laufen einer Seele und ihr Suchen nach dem HErrn, da, wo er nicht zu finden ist sie hängt sich an Menschen. Es heißt im vierten Vers bedeutsam: „Da ich ein wenig an ihnen vorüberkam, da fand ich, den meine Seele liebt.“ Es halten sich viele Seelen zu viel bei Menschen auf, bei den Wächtern und Hütern ist Er nicht. Wir wollen denen ihr Recht angedeihen lassen, die uns das Wort versündigen, die Seelen dem Hirten zuführen, sie auf betendem Herzen tragen, das bringt viel Mühe und Arbeit, ist aber doch ein köstlich Ding; wir müssen aber doch an ihrer Person vorüber zu Ihm selbst, den sie uns in ihrem Amte bringen. Sulamith fand ihn erst, als sie ein wenig vorüberkam. Die suchende Seele findet den HErrn in der Stille. Es gibt aber so viele fiebrige Seelen, die da und dort auf den Gassen hängen bleiben. Da begegnet ihnen oft, was Sulamith begegnet ist, die Kap. 5,7 klagt: „Es fanden mich die Hüter, die in der Stadt umhergehen, die schlugen mich wund.“ So geht's denen, die so an den Menschen und Kreaturen hängen bleiben und Abgötterei mit ihnen treiben; solche Seelen tragen von ihrem Hin- und Herlaufen auf den Gassen oft schwere Wunden davon. Doch geschieht auch, dass redliche Seelen von Wächtern und Hütern, welche ihren Seelenzustand nicht verstehen, wund geschlagen werden. Sie sagen zu meiner Seele, die Frieden in Jesu sucht, wohl gar: Du bist zu exaltiert, du verlangst zu viel rc. Das sind furchtbar kalte Bäder für heißliebende Seelen, ja, das sind Schläge von den Hütern, wenn man in seinem Sehnen nach Jesu so falsch verstanden wird. Vorüber an den Menschen, wenn du Jesum finden willst! Ich sagte aber vorhin: Jesum lieben und ihn haben ist zweierlei. Viele spüren einen Liebeszug zum HErrn, haben ihn aber noch nicht. Ihn lieben ist schön, aber Ihn haben ist noch schöner.
Es war ein Mann, der liebte seine Braut, die hielt ihn aber immer hin, und als sie keine Miene machte, ihn zu heiraten, da wollte er ihr aufsagen. So ist umgekehrt die liebende Braut nicht zufrieden, dass der Bräutigam sie nur liebt, sie will auch ganz mit ihm verbunden sein, ihn bei sich haben. So ist es auch mit der Seele, die Jesum liebt; so muss es sein. Das rechte Christentum ist ein wesenhafter Besitzen Jesu in seiner Liebe und in seiner Kraft, und in diesen Besitz kommt, wer Ihn liebend sucht. Trachtet danach, betet, dass diese suchende Liebe oder dieses liebende Suchen in eurem Herzen entstehe, und dann in seinen völligen Besitz zu gelangen! Manchen Christen ist es schon genug, wenn der HErr sie nur erhört, ihnen hilft; aber es kommt nicht zu einer gegenseitigen Liebe zwischen dem HErrn und ihnen. Die Seele, die Ihn liebt, will ihn aber auch zu eigen haben, besitzen, und das ist erst das wahre Christentum, Geben, Sieg, Seligkeit. Was habe ich von dem Jesus, der im Himmel ist? Jetzt, hier will ich ihn haben. Was ist Er mir, wenn ich öde, einsam und kalt auf der Welt herumgehen soll? Ich muss Ihn haben, in meinem Dunkel, der meine Finsternis erleuchtet, der alles überwinden hilft. Hängt euch nicht an die Kreatur, nicht an Menschen; hängt euch an Ihn selber, wie sich Jakob an Ihn hing und sprach: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.“ Vorüber an dem Sichtbaren in die Stille! Der HErr wecke in euch allen das Verlangen nicht nur nach seinen Gaben, sondern nach Ihm, dem Geber selbst! Wir müssen nach seiner Person dürsten, wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser, und dieser Durst wird nur gestillt durch ein persönliches Liebesverhältnis zu Jesu.
V. 16. „Stehe auf Nordwind, und komm', Südwind, und wehe durch meinen Garten, dass seine Würze triefen,“ spricht Sulamith, und lädt dann den Freund ein, in ihren Garten, in ihr Herz zu kommen. Diese zwei besonderen Winde müssen durch den Garten wehen: Der reinigende Nordwind und der erwärmende Südwind, dann gibt es Frucht. Schaut in euer Herz der kalte Nord hat es schon durchfahren, und es müssen auch kalte Zeiten kommen; es ist Gottes Wille. Die Herzen gedeihen nicht, wenn sie immer von warmen Lüften durchzogen werden; aber dann kommen auch wieder die Liebeszüge des HErrn. Die entgegengesetztesten Führungen bringen das meiste Gedeihen. Wir werden es erkennen, wie gut es ist, wenn uns der HErr in kalte Regionen führt; wie nötig es ist, damit uns das Verderben unseres Herzens recht aufgedeckt wird. Dann muss freilich der Südwind wiederkommen; der HErr muss mit seiner Liebe wieder das Herz wärmen. Damit sind die kalten und dürren Zeiten Segenszeiten. Aber ich mag nicht viel vom Nordwind reden, er kommt nur zu geschwind. Wenn nun nach den kalten Zeiten die Liebe und Erbarmung des HErrn besonders wohl tut, so bedenkt: Der HErr tut also mit uns, damit wir etwas werden zu Lob und Preis seiner Herrlichkeit, damit der Garten unseres Herzens seine Würze triefen lasse. O, es ist etwas um den Freund, den die Seele liebt: Er ist's wert, dass man Ihn sucht und besitzt. Dass ihn doch recht viele Seelen liebend suchen und suchend lieben lernen möchten! Sie werden Ihn finden, wenn sie Ihn so suchen, dass sie an allem vorübergehen, auch an den Menschen. Denn: „So ihr mich von ganzem Herzen sucht, so werdet ihr mich finden.“