Die Frage, die hier den HErrn vorgelegt wird: „Meinst du, dass wenige selig werden?“ ist so allgemein und natürlich, dass sie uns nicht befremden kann in einer Zeit, wie jene war. Aber auch in unserer Zeit, da die einen sich ganz losmachen von Gott und vom Worte des Lebens, und die anderen sich schier überhaspeln und alles mit Rennen und Laufen erringen wollen, da steigt einem unwillkürlich die Frage auf: „Wer wird denn selig werden?“
Lavater sagte: „Wenn wir einst im Himmel sein werden, so werden wir uns über drei Dinge wundern: 1) dass viele, die wir erwarteten, dort nicht sind; - 2) dass viele, die wir nicht erwarteten, dort sind, und 3) am meisten werden wir uns verwundern, dass wir selbst dort sind.“
Wenn wir den HErrn in Luk. 18, 25 sagen hören: „Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, denn dass ein Reicher (der sein Herz, sein Vertrauen an seinen Reichtum hängt) ins Reich Gottes komme,“ so kanns auch uns bange werden, wie den Jüngern, so dass wir gleich ihnen mit Entsetzen fragen: „Wer kann denn selig werden?“ Als Antwort auf beide Fragen kann jenes Wort des HErrn gelten: „Bei den Menschen ists unmöglich, aber bei Gott sind alle Dinge möglich.“
Betrachten wir nun heute besonders die Frage, - nicht: wer wird selig? sondern: Wie werde ich selig? und welches ist der Grund, warum jemand, du, ich und Hunderte nicht selig werden können?
Während wir gerne an die freie Gnade glauben und an den Liebeswillen Gottes, der auf alle sich erstreckt, gibt es Leute, die darauf bestehen, es gäbe eine Wahl Gottes, nach der die einen zur Seligkeit bestimmt seien, die anderen aber nicht. Die einen dürfen jauchzen über ihre Erwählung und sich der Gewissheit der Seligkeit getrösten: für die anderen heißts: Murren hilft nichts! Gott hat einmal gemacht etliche zu Gefäßen des Zorns, andere zu Gefäßen der Gnade, und wehe dem, der da murrt.
Wie schauerlich, wie grauenhaft ist der Gedanke, nicht selig werden zu können! O nein, unmöglich ist es für Keinen! Es heißt ja: „Gott will nicht, dass jemand verloren gehe,“ und: „Also hat Gott die Welt geliebt, dass Er seinen eingebornen Sohn dahingab, auf dass alle, die an Ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.“ - Es gibt aber ein Nichtkönnen, vor dem unsere Seele Respekt haben muss, denn es heißt: „Viele werden trachten, wie sie hineinkommen, und werden es nicht vermögen.“
Das Reich Gottes ist Gerechtigkeit, Friede und Freude im heiligen Geist, Seligkeit und ewiges Wohlsein. Das ist wahr, dieses alles erlangen viele nicht. Es geschehen viele gute Werke, es ist ein Mühen und Laufen, ja, es trachten viele, wie sie hineinkommen. Die Überzeugung ist bei vielen, dass es anders werden muss mit ihnen, damit sie selig werden. Viele haben ein Verlangen nach der Ewigkeit, im Gegensatz zu denen, die den HErrn gar nicht suchen. Es ist schon eine Seligkeit zu suchen und zu fragen, und denen, die nicht suchen, ist das Urteil schon bereit: „Ihre Ehre wird zu Schande, die irdisch gesinnt sind.“
Zu denen, die trachten, gehören namentlich unsere Kirchen- und Versammlungsleute, die sich fleißig mit dem Wort Gottes beschäftigen und leider so oft doch nicht durchdringen.
Der Befehl heißt: „Ringet danach, dass ihr durch die enge Pforte eingeht; denn viele werden trachten, wie sie hineinkommen und werden es nicht tun können.“ Die zwei Wörtchen dass und wie enthüllen uns das ganze Geheimnis. Das Nichtkönnen hat seinen Grund in der eigenen Wahl und den eigenen Mitteln; man möchte nur so hinein, wie das eigene Herz es für gut findet. Das können hingegen hängt davon ab, dass wir uns um das Wie nicht kümmern, sondern dass uns nur das Dass feststeht. Wie viele habens trotz allem bis heute zu nichts gebracht! Seht die Pharisäer an, wie sie so streng auf dem Halten des Gesetzes hielten! Das waren auch Leute, die trachteten; aber sie trachteten auf ihre eigene Art und kamen nicht hinein. Es heißt von ihnen: „Ihr werdet in euren Sünden sterben.“
Eine andere Art, wie man nicht suchen muss, hineinzukommen, geschieht durch Erfüllung äußerer Pflichten und Darbringung von Gaben. zu solchen spricht der HErr: „Sollte das ein Fasten sein, das ich erwähle, dass ein Mensch seinem Leibe übel tue! Das ist aber ein Fasten, das ich erwählt habe, das sind die Opfer, die mir gefallen: Lass los, welche du mit Unrecht verbunden hast; gib frei, die du unterdrückst und gehorche meiner Stimme; Gehorsam ist besser, denn Opfer. Zerreißt nicht eure Kleider, sondern eure Herzen!“
O, gar viele wollen mit äußerem Tun das innere Bedürfnis stillen; aber das äußere Treiben tuts nicht. Man will Gott etwas geben, aber man bleibt in sich selbst, wie man ist, und dann kann alles das den Eingang dir nicht öffnen. Es sind so viele, sie haben die Schale, aber sie besitzen den Stern nicht. Es gibt so viele menschliche Wie, und das einzig göttliche Wie setzen wir aus den Augen. Wir machen uns in unserer Phantasie den Weg Gottes selbst und meinen zur Ruhe zu kommen; hier aber stehts: „Sie werden es nicht tun können.“ Nicht, weil Gott nicht will, sondern, weil du nicht willst, wie Gott will, darum gehts nicht; denn mit äußeren Werken kannst du die klagende Stimme des Gewissens nicht beschwichtigen. Was Gott will, ist ein Ringen, dass man hineinkommt.
Wie kann ich denn nun hineinkommen? fragst du. Welches ist der Weg? Jesus sagt dirs: „So jemand ins Reich kommen will, der verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach.“ Es sind also zwei Dinge, die der HErr uns als den Weg bezeichnet: 1) sich verleugnen, und 2) sein Kreuz auf sich nehmen und Ihm nachfolgen.
Was will das heißen: sich verleugnen? Antwort: Wie tat Petrus, als er den HErrn verleugnete? Er tat, als ob er Ihn nicht kenne, als ob Er ihn nichts anginge. So müssen wir unseren alten Menschen behandeln, wir müssen das alte Wesen verleugnen und zeigen, dass wir damit nichts mehr zu tun haben wollen; wir müssen es preisgeben und fahren lassen. O wie viele bleiben an diesem Punkt stehen! wie viele leiden da Schiffbruch! Der HErr verlangt dein offenes Bekenntnis, eine Demütigung, ein Bleiben in seiner Schule, ein Aushalten im Kreuz. Tun wirs? O, was für eine schauerliche Überwindung kostet viele z. B. nur das, vor einem einzigen Menschenauge offenbar zu werden! Es gehört eben dazu Verleugnung, ein völliges Losmachen von sich selbst, der Sieg des Geistes über das alte Wesen. Wenige sind darin treu, und doch lautet der Wehruf Gottes: „Wehe denen, die verborgen sein wollen!“ An diesem einen Punkt, diesem gründlichen Offenbaren vor den Augen Gottes und vor dem Blick eines Menschen, bleibt mancher stehen. Und doch heißt es: „Wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Gottes.“ Der Wille Gottes ist, dass wir uns hier schon offenbaren, das heißt, dass wir nicht anders und nicht besser scheinen wollen, als wirs im Herzensgrund und vor Gott sind. Hunderte geben sich nie, wie sie sind. Wie viele Überzieher hat man um seine Schäden zu verbergen! Und doch ist der erste Schritt auf dem Wege zur Seligkeit das Erkennen und gründliche Offenbaren des innersten Wesens. Wers nicht tut, widerstrebt Gott und wird nicht Ruhe haben. Ach, das Verstecken hing von Anfang an innig mit der Sünde zusammen; denn kaum hatte Adam gesündigt, so versteckte er sich. Ging aber Gott darüber weg? Nein, Er rief: „ Adam, wo bist du?“ So zieht Gott jeden aus der Verborgenheit hervor, und wer sich auch hier noch vor den Augen der Menschen verstecken kann, der muss doch einst offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi.
Der zweite Wille Gottes an alle, die hinein kommen wollen, ist das Tragen des täglichen Kreuzes, das geduldige Ertragen aller Beschwerden, aller Widerwärtigkeiten. O, wie viele widerstreben der Kreuzesschule! Ein Jonas mag nicht daran, er weicht aus; da kommt ein Sturm, der nicht stille wird, bis er im Wasser liegt. Gott will, dass wir das tägliche Kreuz tragen, damit wir durch dasselbe dem Ertöten und Absterben des alten Wesens nicht entgehen. Es gibt kein Seligwerden ohne ein Sterben des alten Wesens. Wie heißts in der Offenbarung Kap. 7,14? „Sie kommen alle aus großer Trübsal, und haben ihre Kleider helle gemacht im Blut des Lammes.“ Es sind also lauter solche, die ein Kreuz getragen haben, welches ihren eigenen Willen hat zernichten müssen. Auf diese Art allein geht es in die Nachfolge Christi und mit Ihm in das Reich Gottes. Wie wenige sind darin treu! Wir dürfen den Weg nicht selber wählen; dürfen uns aber auch nicht scheuen, so hinein zu wollen, wie Gott will, der uns ja so freundlich lockend zuruft: „Gib mir, mein Sohn, dein Herz, und lass dir meine Wege wohl. gefallen.“ Wenn es auch auf der einen Seite wahr ist, dass es bei jedem eines Ringens und Kämpfens bedarf, um hinein zu kommen, ists denn doch nicht allzuschwer. Es bedarf nur eines willigen Sich-Hingebens in die Führungen unsers Gottes, dann wird man auch bald ausrufen können:
Wie selig ist ein wahrer Christ,
So reich und sorgenleer!
Und wenn man so nicht selig ist,
So wird mans nimmermehr.
Ja, der wahre Christ hat es leicht. überlassen wirs nur freudig unserem Heiland, Mittel und Wege für uns auszuwählen, denn Er verstehts am besten. Es gebührt uns nicht, zum Voraus zu wissen die Art und Weise und die Zeit und Stunde, welche der HErr seiner Macht vorbehalten hat. Nur eines gebührt uns, dass wir immer im Gehorsam bleiben. Lasst uns alle Tage nur um das eine uns kümmern, dass Gottes Wille geschehe an, mit und durch uns. Wer dem Willen Gottes gehorchen will, den lässt der HErr gewiss in keiner Lage zu Schanden werden. Er gibt ihm die nötige Kraft zum Dulden und Tragen, zum Ringen und Kämpfen.
Ja, der Herr Jesus, den der Vater uns zur Heiligung übergeben hat, schenke uns allen immer mehr Gehorsam und Treue in seiner Nachfolge, Stille, Wahrheit, Lauterkeit und Demut, damit Er sein Werk in uns vollenden und uns alle zur ewigen Seligkeit einführen kann!