Wolf, Friedrich August - 1. Advent.

Gnade sei mit euch und Friede von Gott unsrem Vater und unsrem Herrn Jesu Christo. Amen.

Unser heutiges Evangelium beginnt mit der Frage, die Johannes durch zween seiner Jünger an Jesum thun ließ: Bist du, der da kommen soll, oder sollen wir eines Andern warten? Bei Annäherung des schönen, herrlichen, die ganze Winternacht erleuchtenden Festes, dem wir mit froher Hoffnung entgegen gehen, kann auch uns keine Frage näher liegen, als diese: Bist du, der da kommen soll? Ihr werdet sagen: „darüber sollten wir billig längst im Klaren sein.“ Allerdings, meine Zuhörer. Aber wie nun, wenn wir's dennoch nicht wären? Oder wenn wir meinten, es zu sein, und wären es doch nicht? Wie wollen wir diesem Irrthum anders auf die Spur kommen? Oder könnte nicht die Klarheit der ersten Erkenntnis Christi wieder getrübt und verdunkelt sein? Könnte nicht der Sturmschritt einer so stark bewegten Zeit, wie die gegenwärtige ist, auch unsre Ueberzeugung erschüttert haben? Hat nicht der redlichste Glaube auch beim ruhigen Fortgange des Lebens seine mannichfaltigen Anfechtungen? Richtet euren Blick auf den ehrwürdigen Mann selbst, der im Evangelio fragend eingeführt wird. Johannes hatte dem Herrn den Weg bereitet und war seinem Amte keinen Dienst schuldig geblieben. Er war bei der Taufe Jesu durch Zeichen und Stimmen von oben in dem Glauben gestärkt worden, mit dem er das Zeugniß ablegte: Siehe, das ist Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt.

Und dieser ehrwürdige Zeuge der Wahrheit selbst will aus Jesu Munde abermal eine bestimmte, wiederholte Erklärung auf die Frage: „Bist du, der da kommen soll, oder sollen wir eines Andern warten?“ Es mag immerhin sein, daß er dabei ganz besonders seine Jünger im Auge hatte, um diese getreuen Anhänger nun von sich auf den rechten Meister und Helfer in Israel hinzuweisen. Aber Johannes war zu geradsinnig, um durch seine Jünger eine Frage an Jesum thun zu lassen, bei der sein eignes Herz nicht mit gefragt hätte; er selbst wollte überzeugende Gewißheit; und Jesus belehrte auch nicht bloß die Jünger Johannis durch eine Hinweisung auf seine Thaten vor den Augen des Volks; sondern er sendete sie zu ihrem Lehrer ins Gefängniß mit dem Bescheid zurück: Gehet hin und saget Johanni wieder, was ihr sehet und höret.

So bedurfte auch dieser Zeuge der Wahrheit nicht weniger, als wir Alle, einer Stärkung seines Glaubens durch das Wort des Herrn, und die Gewißheit kam ihm unter seinen Anfechtungen auf dem sichersten Wege, indem er sich ohne Rückhalt an Jesum selbst wendete. O Johannes war gewiß erhaben über die Zweifel kleiner Seelen, die so leicht ein Mißtrauen gegen die Führungen Gottes fassen, wenn nicht Alles sogleich nach ihrem Plan und Wunsche geschieht; er war frei sowohl von eitler Einbildung, als von allen eigennützigen Hoffnungen. Aber bei seinem feurigen Zorn über die Sünden seines Volks, bei seinem heiligen Glutheifer für Wahrheit und Recht hielt er in seiner Einsamkeit, wenn er der Herrlichkeit des Kommenden gedachte, mehr das Bild eines strengen, strafenden Richters fest, der vor Allem mit der Wurfschaufel in der Hand seine Tenne reinigen und die Spreu verbrennen werde, und konnte sich nicht recht darein schicken und finden, daß die Werke Christi, von welchen er hörte, durchaus nur Wohlthaten und Heilungen sein sollten, lauter Zeichen einer milden, sanften, freundlichen Regierung. Und so war es nicht sowohl Ungeduld über ein zögerndes, als vielmehr Verwunderung über ein viel zu gelindes Verfahren (Verwunderung über eine unerklärliche Langmuth) bei täglich wachsender Verschlimmerung, die Johannes eben so klar und scharf erkannte, als er Gottes Gesetz in seinem Herzen fühlte. Das war es, also der Kampf einer gottesfürchtigen Seele mit ihren eignen Gedanken, was ihn in seinem Gefängniß zu der Frage vermochte: Bist du, der da kommen soll, oder sollen wir eines Andern warten? Aber wie der unsichtbare, verborgne Gott und Vater im Himmel seinen Gang nicht ändert, wenn auch die Bewohner des Staubes seine Wege unbegreiflich finden, eben so das sichtbare Ebenbild Gottes auf Erden, - eben so setzte Jesus Christus mit ruhiger Weisheit seinen Gang fort, unabhängig vom Rathe schwacher Menschenkinder, erhaben über das Urtheil von Freunden und Feinden, bis zur Vollendung seines heilbringenden Werkes. So that er nach dem Willen des Vaters, der ihn gesandt hatte, nicht die Welt zu richten, sondern die Welt selig zu machen. Seine Wunderwerke unter dem Volke waren lauter wohlthätige Hülfen und Heilungen; Schwache und Gebrechliche aller Art, denen kein Mensch mehr helfen konnte, die zum Theil selbst alle Hoffnung aufgegeben hatten, sammelten sich um ihn her, und er legte die Hand auf sie und machte sie gesund, zum Zeichen, daß er ein Helfer gekommen sei mit göttlicher Gewalt und Macht, das Verlorne zu retten, der rechte Arzt, die kranke Natur zu heilen und ihr mit dem ersten frischen Gefühle der Genesung wieder Vertrauen einzuflößen zu einem Gott, der da hilft, und zu einem Herrn, der vom Tode errettet. Die Blinden sehen und die Tauben hören und den Armen wird das Evangelium gepredigt, und selig ist, wer sich nicht an mir ärgert.

Ja selig ist, wer sich nicht an ihm ärgert. Auch das bevorstehende Fest kann uns nur dann wahre Freude bringen, wenn wir seiner gewiß und froh werden. Der Herr verleihe uns Weisheit, Kraft und Stärke, alle Schwierigkeiten zu überwinden, welche diese selige Gewißheit hindern und stören, und setze auch diese Stunde der Betrachtung zum Segen für Geist und Herz.

Text: Ev. Matthäi Cap. 11. V. 2 -10.

Johannes war also nach Jesu eignem Ausspruche mehr, denn alle Propheten; denn diese hatten nur aus der Ferne gesehen und geweissagt, aber er sollte unmittelbar vor dem Herrn hergehen und ihm den Weg bereiten! Dazu war er bestimmt, dazu war er gesendet. Und er hat sein Amt treu und redlich ausgerichtet. Er hat das Volk aus seinem Schlummer geweckt mit einer Stimme, die selbst an Felsenherzen der Verstockung schlug, so daß Pharisäer und Sadducäer kamen, sich von ihm taufen zu lassen. Die Gegend am Jordan, wo er taufte, war ein Sammelplatz aller Bußfertigen im Lande, und jeder Stand empfing aus dem Munde des Predigers in der Wüste eine Lehre zur Besserung, die Kriegsleute, wie die Beamten, und alle sahen den richterlichen Ernst des Gesetzes auf dem Angesichte des feuervollen Mannes strahlen. Er hatte Nichts, seine göttliche Sendung zu beweisen, als die einfache Sprache der Wahrheit, ohne Schmuck und ohne Spitzfindigkeit, ohne Rückhalt und ohne Verschönerung, die einfache Sprache der Wahrheit, mit der er alle Verderbnisse angriff und den König auf dem Throne ebensowenig fürchtete, als die geringsten Stände im Volk; er führte ohne Zeichen und Wunder nur das Schwert des Geistes, - und doch gelangte er zu einem solchen Ansehn, daß man meinte, er wäre Christus selbst, der verheißne Retter; sogar die Vornehmsten und Aeltesten zu Jerusalem sandten an ihn und ließen ihn fragen: „Wer bist du?“ Aber der demüthige Mann lehnte nicht nur jede Huldigung von sich ab, die ihm nicht gebührte; sondern er bekannte auch seine eigne Unwürdigkeit, seinen weiten Abstand von dem, der da kommen sollte, welchem er den Weg zu bereiten gesendet war, und je höher sein Ansehen im Volke stieg, desto lauter und stärker sagte er: „Ich muß abnehmen, er aber muß wachsen. Der von oben her kommt, ist über Alle; wer von der Erden ist, der ist von der Erden und redet von der Erden. Der vom Himmel kommt, der ist über Alle.“ So zeugte Johannes von dem wahrhaftigen Lichte mit eben der Freimüthigkeit, mit der er vorher die Werke der Finsterniß gestraft hatte, indeß die Rachsucht des beleidigten Lasters damit umging, seinem öffentlichen Wirken ein Ende zu machen. Und als er nun im Gefängniß die Werke Christi hörte; so that er Alles, was ihm unter diesen Umständen noch übrig blieb, um mit der Stimme eines alten Volksfreundes seine Landsleute auf ihr wahres Heil hinzuweisen, bis der Blutbefehl des Tyrannen seinen Mund auf immer schloß.

Fürwahr Johannes hat an seinen Zeitgenossen Alles gethan, was er thun konnte, er hat sein Amt treu und redlich ausgerichtet. Aber wer vollbringt sein Amt an uns? Wer ist unser Johannes? Wer bereitet uns den Weg zum Herrn? Eigentlich jeder Freund der Wahrheit, der unser Gewissen mit der Stimme des Gesetzes rührt, der uns mit aufrichtiger Wahrheitsliebe sagt: Du mußt anders werden, sonst kannst du keinen Theil haben am Reiche Gottes. Bemerket hier wohl einen wichtigen Unterschied, meine Zuhörer, und haltet ihn fest. Kein Mensch kann des Andren Christus werden, aber des Johannes Stelle können wir wechselseitig an einander vertreten. Kein Mensch kann des Andren Christus werden, d. h. kein Mensch kann an der Seele seines Bruders das thun, was Christus thut, unser Mittler und Versöhner. Wir können keinen Menschen vom zeitlichen Tode erlösen, wie viel weniger vom geistlichen und ewigen Tode. Wir sind Alle viel zu schwach, die Todten lebendig zu machen und ein neues Leben des Geistes voll Friede und Freude in verschlossenen oder erstorbnen Seelen zu erwecken. Kein Mensch kann des Andren Christus werden. Aber Johannis Stelle können wir Alle an einander vertreten und uns wechselseitig auf Christum hinweisen. Und diese Hinweisungen sind nicht alle vergeblich, aber der Erfolg ist schwierig. So wie der erste Weg der Johannisjünger zu Christo seine Schwierigkeiten hatte, so ist dieser Weg auch heutzutage nicht so leicht, als Viele sich einbilden. Laßt uns also diese Hindernisse ja nicht übersehen, nicht verkennen, nicht verhehlen, sondern offen eingestehen und jetzt ohne weiter'n Aufenthalt eine Betrachtung anstellen: über die Schwierigkeiten auf dem Wege von Johannes zu Christus.

Johannes oder wer das Amt desselben an uns verwaltet, sei es Freund oder Feind, wobei auch Ereignisse, Trübsale, Hauskreuz, Landplagen mitwirken können, dringt auf die Nothwendigkeit einer durchgreifenden Sinnesänderung, auf eine Heilighaltung der göttlichen Gebote in allen Lebensverhältnissen, wie sie seither vielleicht nur in wenigen stattfand, auf einen steten Wandel in der Furcht des Herrn, und die Furcht des Herrn ist aller Weisheit Anfang. Also des rechten Anfangs werden wir wohl gewiß, aber indem wir nun von dieser Lehre und Predigt des Johannes zu einer wahrhaft christlichen Erkenntniß, Ueberzeugung und Gesinnung, und zur Gemeinschaft mit Jesu selbst gelangen wollen; so zeigen sich bei diesem Uebergange zum wahren Christenthum bedeutende Schwierigkeiten und das Erste unserer heutigen Betrachtung ist nun, daß wir sie genauer kennen lernen. Diese Schwierigkeiten liegen nämlich theils in der zurückziehenden Kraft dessen, was früher unserm Herzen genug war, theils in der abstoßenden Gewalt dessen, was uns an Christo ärgert.

Also theils in der zurückziehenden Gewalt einer Weisheit, die uns vorher genügte, in der zurückziehenden Gewalt früherer Verhältnisse und Verbindungen, die unser ganzes Herz einnahmen und seine Sehnsucht stillten; theils in einer Menge von Fragen und Zweifeln, die uns das Heil in Christo ungewiß machen und die Versuchung mit sich führen, an der Person des Erlösers selbst irre zu werden. Daher auch Christus mit so bedeutendem Nachdruck in unserm Evangelio spricht: Selig ist, wer sich nicht an mir ärgert.-

Die Hindernisse aus dem bezeichneten Wege liegen in der zurückziehenden Gewalt früherer Verhältnisse. Versetzet euch nur in die Lage der ersten Johannisjünger, die doch gewiß in der besten Vorschule des Christenthums gewesen waren, als unter der Leitung desjenigen Mannes, der von Gott selbst gesendet war, dem Herrn den Weg zu bereiten, und der seines Theils in dieser Sache nichts verdorben, noch versehen hatte: Und doch, wie schwer war ihr Stand! Wie schwer der erste Weg zu Christo! Von einem geliebten Lehrer sollten sie scheiden, in welchem sie mit Recht das ehrwürdige Muster seltner Tugenden verehrt hatten. Das Schwert des Herodes zerschnitt zwar bald gewaltsam diese Bande, und nöthigte sie, seinen Leichnam zu begraben; aber mit dieser Wehmuth stieg auch ihre Ehrerbietung, und fester nur hing ihr Herz an dem Manne, der sein Blut im Dienste der Wahrheit vergossen hatte. Sein Märtyrerthum erhöhte seine Größe. Und dennoch sollten sie einsehen lernen, daß dieser mit Recht von ihnen so hochverehrte Mann immer nur der Vorgänger, der Wegweiser zu dem wahrhaftigen Retter ihrer Seele gewesen sei, und daß die treueste Anhänglichkeit an ihn noch kein Bürgerrecht im Himmelreiche gebe. Christus selbst sagte öffentlich vor dem Volke: „Unter Allen, die vom Weibe geboren sind, ist Keiner aufgekommen, der größer sei, denn Johannes der Täufer; der aber der Kleinste ist im Himmelreiche, ist größer, denn er.“

Wie schwer mußte ihnen anfangs das Verständniß dieser Rede fallen! Wie noch weit schwerer die Folgerung, die sich für ihr eignes Verhalten daraus ergab! Es konnte ihnen sogar als Ungerechtigkeit, als Undankbarkeit gegen ihren unvergeßlichen Lehrer erscheinen, wenn sie aufhörten, sich als seine Jünger zu bekennen und dagegen die Gemeinschaft mit den Jüngern Jesu suchten, um hinfort Christo nachzufolgen und auf Christum allein ihre ganze Hoffnung zu setzen. Das war die Lage der ersten Johannisjünger in jener Zeit, als Christus auf Erden wandelte und die Herrlichkeit des eingebornen Sohnes vom Vater voll Gnade und Wahrheit offenbarte.

Machet nun die Anwendung auf unsre Lage, und bemerket die Schwierigkeiten, die sich vorfinden, wenn wir uns von irgend einem menschlichen Lehrer der Wahrheit zum Herrn selbst wenden wollen, zumal da nicht Alle, die mit Johannis Eifer auf strenge Grundsätze dringen, mit ebenso entschiedenem Eifer, wie er, auf Christum weisen und das Heil in Christo suchen lehren. So oft in einer Stadt das Evangelium vom Heile der Welt und von dem Heiland aller Seelen mit neuer Kraft verkündigt wird, besonders an solchen Orten, wo vorher ein langes Stillschweigen darüber herrschte; so wird es auch niemals an einigen aufmerksamen Zuhörern fehlen, die bei sich selbst den Schluß machen: „Wenn diese Predigt wahr ist; so sind wir noch keine rechten Christen, so fehlet uns das eigenthümlich christliche Leben, so fehlet uns der Geist, der da lebendig macht, so sind wir im Grunde nur Johannisjünger, ununtersucht bis zu welchem Grade der Aechtheit.“ Dieser Schluß ergibt sich sehr leicht aus der Vergleichung der alten und neuen Lehre. Aber nun die Anwendung! meine Zuhörer, die Ausführung, der wirkliche Uebergang zum wahren Christenthum, wie sehr wird er Vielen erschwert durch eine in ihrer Art achtungswerthe Anhänglichkeit an theure Lehrer und Vorgänger. Nun zeigt sich erst recht die zurückziehende Gewalt einer Weisheit, die uns vorher völlig genug war. Nun zeigt sich erst recht die zurückziehende Gewalt früherer Verhältnisse und Verbindungen mit Personen, denen wir für unsre Bildung und Wohlfahrt so viel zu danken haben.

So war es zur Zeit der Reformation, als das Wort von Christo mit neuen Jungen gepredigt wurde. Die alte Kirche hielt Viele zurück mit Banden der Ehrfurcht und Dankbarkeit; also nicht bloß durch das Gepränge des Meßopfers und durch den Reiz der Gnadenbilder an tausend Orten der Wallfahrt; sondern auch durch das Gedächtniß der Väter, die in Frieden entschlafen waren, nachdem sie die letzte Salbung mit dem heiligen Oele empfangen hatten, und durch den Einfluß redender Beispiele, die es bezeugten, daß in der Ueberlieferung noch genug Same des Guten für alle Zweige des Lebens liege. So war es zur Zeit der Reformation nach der Herrschaft des Aberglaubens. Und so ist es jetzt zur Zeit der Offenbarung Jesu Christi nach der Verdunklung seiner Herrlichkeit durch eine Weisheit der Menschen, die sich selbst genügte. Wenn die Anhänger und Bekenner dieser Weisheit nur der Trägheit, der Sinnlichkeit, dem Eigennutze fröhnten; so würden sie uns nicht mit dem Gefühle der Achtung zurückhalten. Aber sie dringen zum Theil auf dieselben Grundsätze, auf welche Johannes drang, sie halten allen Ständen ihre Pflichten vor, sie lehren mit Nachdruck, daß uns keine bessre Verfassung helfen könne, wenn wir nicht selbst Hand an das Werk der eignen Besserung legen, und sie zeigen es auch wohl durch einen nachahmungswerthen Vorgang. „Also was, rufen wir mit Verwahrung gegen alle weitere Forderungen des Christenthums aus, was wollen wir mehr? Und was wollet ihr mehr von uns, ihr Prediger des Glaubens? Unter Allen, die vom Weibe geboren sind, ist Keiner aufgekommen, der größer sei, denn Johannes der Täufer.“ Die Johannisjünger waren in Versuchung bei diesem Vordersatze stehen zu bleiben, ohne darauf zu achten, was der Herr als Nachsatz hinzufügte. In gleicher Versuchung stehen auch wir, meine Freunde, wenn wir von der Lehre des Johannes zum Evangelio Jesu übergehen sollen.

Setzet hinzu die Gefahr, uns an Christo zu ärgern bei der Frage: ob er auch wirklich der Erlöser der Welt sei in dem Sinne, in welchem kein Mensch den Andern und noch weniger ein Einzelner das Ganze der Menschheit erlösen kann. Was gibt die Weltgeschichte für Beweise vom siegreichen Erfolge dieser Erlösung? Was für Beweise der Gang der Zeitbegebenheiten? Auf die Frage Johannis: Bist du, der kommen soll, oder sollen wir eines Andern warten? gab Jesus den Johannisjüngern zur Antwort: „Gehet hin, und saget Johanni wieder, was ihr sehet und höret. Und selig ist, wer sich nicht an mir ärgert.“ Worin lag nun damals der Grund dieses Aergernisses? Der eine Theil des Volks erwartete einen irdischen König, der andre wenigstens eine plötzliche Umgestaltung der Dinge. Niemand durchsah die Weisheit, mit der der göttliche Menschenfreund seine Retterhand zuerst nach den Aermsten und Geringsten im Volke ausstreckte und sich der Verlassenen annahm. Heutzutage wird sich nun wohl Niemand daran stoßen, daß Christus kein irdisches Königreich aufgerichtet hat; denn es wäre längst wieder untergegangen, wie alle irdische Herrlichkeit. Also deßwegen wird sich Niemand an Jesu ärgern, wiewohl ihn Viele mit Freuden aufnehmen würden, wenn er ihnen die Fülle irdischen Glücks und Segens brächte, und dem sinkenden Wohlstande wieder aufzuhelfen verspräche. Aber die wichtigste Frage des Anstoßes bleibt, ganz abgesehen vom irdischen Königreiche, diese: ob Er, der sich selbst vor Pilatus für einen König erklärte, wirklich ein Reich habe, zwar nicht von dieser Welt, aber doch ein wirkliches Reich, nicht bloß den Namen: ein König der Wahrheit, wie auch Johannes der Täufer, des Königs Herodes gekröntem Haupte gegenüber, mit Fug und Recht genannt werden könnte; sondern der That und Wahrheit nach, ob ihm die Macht gegeben sei, seine Kirche zu schützen und durch die Kirche die Welt zu regieren und die Menschheit zum Ziele der Vollkommenheit zu leiten. Das lärmende Geräusch der Weltbegebenheiten übertäubt noch heutzutage den stillen Gang seiner Regierung, und das Schicksal seiner Gemeine auf Erden knüpft sich an den Spruch: Den Armen, die am wenigsten in der Welt zu sagen haben, wird das Evangelium geprediget. Zwar fehlt es auch in den höher'n Ständen, es fehlt auch in der Könige Häusern nicht an warmen Freunden des Christenthums, so wenig es heutzutage an sehr scharfsinnigen und geistreichen Vertheidigern desselben fehlt. Aber wollen wir die Wahrheit gestehen, so hat sich der Ursprung des Christenthums auch in der Art seiner Fortleitung nicht verleugnet. Christus in der Weltgeschichte entweder ein schwaches Kind in der Krippe oder ein sterbender Mensch am Kreuze: das ist das Bild seiner Gemeine auf Erden im Stande der Erniedrigung; darum spricht er ja selbst: Wer mir nachfolgen will, der nehme sein Kreuz auf sich; und wenn es einmal den Anschein zu einer plötzlichen Erhöhung gewinnt, so ist diese Erhöhung nur gleich zu achten dem feierlichen Einzuge des Herrn zu Jerusalem, da man seinen Weg mit Palmenzweigen bestreute und mit Kleidern bedeckte und Hosianna rief. Wir wissen Alle, wie bald dieses Rufen verklang, und welche Stimmen darauf erfolgten.

Zwar hat sich der Herr mitten im Sturme aller Jahrhunderte ein Gedächtniß seiner Wunder gestiftet in der Erhaltung seiner Kirche; er hat ihr den verborgnen Schatz der Gerechtigkeit, die aus dem Glauben kommt, bei allen Nachstellungen bewahrt und gesichtet. Aber diese Wunder der Erhaltung und Ausbreitung wird Niemand eher verstehen, als bis er selbst zum Besitze dieses verborgnen Schatzes des neuen Bundes gelangt, und als ein lebendiges Glied der wahren Gemeine des Herrn einverleibt ist. Also beim ersten Eintritt bleibt uns immer die Gefahr, uns an Christo zu ärgern, und entweder mit den Pharisäern Anstoß zu nehmen, daß er sich zu Zöllnern und Sündern herabläßt, oder unter dem störenden Geräusch der Weltbegebenheiten mit den Juden zu fragen: Was thust du für ein Zeichen, daß wir sehen und glauben dir? Was wirkest du?

Doch diese Schwierigkeiten sollen uns weder niederschlagen, noch zum Vorwande dienen, wenn wir zurückbleiben und uns entfernt von Christo halten; sondern desto nöthiger, desto beherzigenswerther wird die Frage, wie diese Schwierigkeiten zu überwinden sind? Und hier ist kein andrer Rath, als: ein überwiegendes Gefühl unsrer eignen Schwachheit und Hülfsbedürftigkeit und das ernste Vertrauen zu dem Worte, das unsre Seele gleich anfangs getroffen hat.

Zuerst stärker als Alles das Gefühl unsres eignen hülfsbedürftigen Zustandes! Also nicht die Hülfsbedürftigkeit selbst, die längst vorhanden war, nicht die größte Noth überwindet diese Schwierigkeiten, sondern das überwiegende Gefühl derselben, wenn es weder durch die Zerstreuungen der Welt geschwächt, noch durch Einbildungen unterdrückt ist; mag es sich nun in einen kürzeren Zeitraum zusammendrängen, oder als Unruhe und Bekümmerniß über eine lange Periode des Lebens ausdehnen und ihren Ausgang zum Anfang eines neuen Lebens machen. Der selige Gellert hebt ein Lied an: Ich komme, Herr, und suche dich, mühselig und beladen. Ohne dieses Gefühl wird schwerlich Jemand den Herrn suchen. Es heißt in einem Weihnachtsliede: Jeder, der sich fühlt verloren, freue sich inniglich! Christus ist geboren. Ohne dieses Gefühl wird sich schwerlich Jemand innig über die Geburt Jesu Christi freuen. Paul Gerhard sang: Ich lag in tiefster Todesnacht, du wurdest meine Sonne. Ohne diese Finsterniß in seinem eignen Wesen inne zu werden, wird schwerlich Jemand den Aufgang des wahrhaftigen Lichts in seiner Seele erleben, sondern sich mit dem Scheine der Aufklärung begnügen.

Die evangelische Geschichte gibt uns die ersten Fingerzeige für unser Verhalten in Darstellung der Personen, die leibliche Hülfe von der Macht des Herrn begehrten. Wir müssen uns eben so deutlich unsrer geistigen Bedürfnisse und unsrer eignen Hülflosigkeit bewußt werden, wie Jene. Als Christus zum letzten Male gen Jerusalem hinaufzog, saß ein Blinder am Wege und rief: Jesu, du Sohn David, erbarme dich meiner! Und Jesus stand stille und hieß ihn zu sich führen, und fragte ihn und sprach: Was willst du, daß ich dir thun soll? Er sprach: Herr, daß ich sehen möge! Und Jesus sprach zu ihm: Sei sehend! dein Glaube hat dir geholfen; und alsbald ward er sehend und folgte ihm nach und preisete Gott. Was liegt für uns in dieser Erzählung? Genug, wenn wir wissen wollen, wie wir geistig sehend werden mögen, durch welche Macht das Auge unsres Geistes für das reine Himmelslicht der Wahrheit geöffnet werden müsse? Und was liegt darin, wenn Jesus dem Johannes sagen läßt: Die Blinden sehen und die Tauben hören und die Lahmen gehen. Wollte er etwa damit den eigentlichen Zweck seiner Sendung bezeichnen? So wäre er nur als ein Arzt gekommen für die Kranken seiner Zeit, nur als ein Arzt in Palästinas engen Grenzen, Er, von dem die uralte Weissagung lautet, daß in ihm alle Geschlechter der Erde gesegnet werden sollen. Erkennet vielmehr in den Heilungen seiner Wunderhand ein sprechendes Vorbild seiner höheren Wirksamkeit in der Seelenwelt, einer Wirksamkeit, die ihrem Grunde und Wesen nach rettend und heilend ist, wie alle Stimmen der Propheten, alle Reden und Thaten Jesu und alle Schriften der Apostel beweisen. Vergesset aber nicht, daß der Herr selbst mit eben der Bestimmtheit sagte: Die Gesunden bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken. Ich bin gekommen, zu rufen die Sünder zur Buße, und nicht die Gerechten. Des Menschen Sohn ist kommen, zu retten, was verloren war. Seid überzeugt, daß wir alle Schwierigkeiten auf dem Wege zu Christo weder durch scharfsinnige Forschungen, noch durch künstliche Auslegungen, noch durch fremden Einfluß überwinden, sondern durch das genaue Wissen, wie es um unser eignes Herz steht, das bald trotzig, bald verzagt, bald voll Lust, bald voll Reue, bald kalt und träge, bald hitzig und ungestüm, bald hart und bald voll weichlicher Zärtlichkeit, zu keiner wahren Ruhe kommt. Die erleuchtete Erkenntniß unsers Zustandes nach jeder Prüfung am Abend eines mit guten Vorsätzen angefangnen Tages, das einfache Gefühl der Wahrheit in demüthigen Seelen durchbricht alle Schranken und bahnt sich den Weg zu Jesu.

Freilich in der Schwachheit allein liegt kein Keim der Kraft und aus dem Gefühle der Schwachheit allein kommt keine Stärke; ein Samenkorn muß aufgenommen und bewahrt werden, das erste Vertrauen zu einem Worte des Herrn, das unsre Seele gleich anfangs getroffen hat, muß unsrer Schwachheit zu Hülfe kommen. Wohl sagt man mit Recht von so Manchem, der mitten in der Christenheit lebt, daß er gar Nichts habe, woran er sich halten kann, und einen Solchen bringt das endlich eintretende Gefühl seiner gänzlichen Hülflosigkeit entweder zur Erstarrung oder zur Verzweiflung. Johannes wies seine Jünger zu Jesu, daß sie ein Wort aus seinem eignen Munde vernehmen und sich daran halten sollten, und Christus schloß seine Rede mit dem Ausspruche: Selig ist, wer sich nicht an mir ärgert, zum starken Nachklang in allen nachdenkenden Zuhörern. Selig ist, wer sich nicht an ihm ärgert. Es gibt viele Hauptsprüche der heiligen Schrift, die ihren wesentlichen Inhalt kurz zusammenfassen oder den Weg in den Mittelpunkt der Wahrheit zeigen. Die ganze Schrift kann nicht auf einmal unsre Lehrerin und Führerin zum Heile werden. Aber das erste Wort des Herrn, das wir als uns gesagt aufnehmen und nur mit einigem Vertrauen uns zueignen, wird der Schlüssel ;um Ganzen, das uns vorher nur ein verschlossenes, versiegeltes Buch war; das erste Wort, das, als vom Herrn gesagt, unsre Seele trifft, wird Wegweiser in jenes heilige Land, wo alle Zeichen und Wunder auch zu unserm Heile geschehen sind, wird Grund und Träger unsers Glaubens an die Wahrhaftigkeit des Ganzen, wird Halt- und Stützpunkt unsers Muthes auf dem Wege zu Christo. Das erste Wort vom Herrn, das Feuer und Leben in unsrer Seele wird, bringt uns, wie jene Jünger, in denen das Herz anfing zu brennen, als er ihnen die Schrift öffnete, nachdem sie alle Hoffnung der Erlösung über seinem Kreuzestod aufgegeben hatten, zu der Ueberzeugung, daß Christus auch für uns lebe, daß Christus auch für uns geboren, für uns gestorben, für uns auferstanden sei von dem Tode, und daß auch wir durch den, der da lebt immerdar, zu Gott kommen sollen.

Mehr als Ein Johannes sagt uns mit lauter Stimme, was wir thun sollen; aber die Schwierigkeiten auf dem Wege zu Christo sind groß. Sie liegen theils in der zurückziehenden Gewalt dessen, was unserm Herzen früher genug war, theils in der Gefahr, uns an Christo zu ärgern. Sie können und sollen überwunden werden durch das überwiegende Gefühl unsrer eignen Schwachheit und Hülfsbedürftigkeit und durch das erste wurzelschlagende Vertrauen auf ein Wort des Herrn, das gleich anfangs unsre Seele getroffen hat.

Was folgt nun aus der Betrachtung dieser Schwierigkeiten und der Art, wie sie überwunden werden? Es folgt, daß uns nichts dringender obliege, als: Mäßigung im Urtheile über Alle, die noch von Christo entfernt sind, Geduld mit den schwachen Fortschritten der Anfänger, scharfe Prüfung unsers eignen Christenthums und Dank gegen die Hülfe Gottes auf dem ersten Glaubenswege. - Das, lieben Freunde, das folgt aus dieser Lehre.

Mäßigung im Urtheile über Alle, die noch von Christo entfernt sind. Denn wenn schon diejenigen, die, wie die Jünger Johannis, eine gesetzliche Richtung und gute Vorbildung haben, große Hindernisse des Glaubens finden, was sollen wir erst von denen erwarten, in deren früheren Lebensgange es an allen Vorbereitungen dieser Art gefehlt hat, und wie sollten wir ein hartes Urtheil über jene fällen, die von Kindheit an auf Grund und Boden des Weltlebens aufgewachsen, nur aufs Irdische, Zeitliche und Vergängliche hingewiesen worden sind und in der Mitte der Weltkinder kaum einmal im Jahre auf einen höheren Gedanken gerichtet werden? Also fern sei es von uns, diese Menschen zu richten, die noch gar nicht auf den Weg zu Christo geleitet worden sind.

Dagegen Geduld mit den ersten Fortschritten der Anfänger! Denn wir wissen genug von den allgemeinen Schwierigkeiten, mit welchen sie auf dem Wege zu Christo zu kämpfen haben, aber viel zu wenig von ihrer besondern Lage und Verfassung, durch welche jene allgemeinen Schwierigkeiten, um welche wir wissen, nun noch bedeutend vermehrt und vergrößert werden. Werdet also nicht ungeduldig, wenn ihr noch viel Dunkles und Schwankendes in den Aeußerungen derer bemerket, von welchen ihr meinet, sie müßten nun schon längst zur Klarheit und Gewißheit gelangt sein. Nehmet euch vielmehr der Schwachen an und helfet ihnen auf mit sanftmüthigem Geiste.

Aber desto nöthiger wird nun eine strenge, scharfe Prüfung unsers eignen Christenthums nach Maßgabe der Hindernisse, die nothwendig zu besiegen sind. Denn wenn wir uns keines Kampfs bewußt worden sind; so haben wir alle Ursache gegen die Art, wie wir des Glaubens mächtig geworden sind, mißtrauisch zu werden. Kennen wir auch aus eigner Erfahrung das Evangelium als eine Kraft Gottes, selig zu machen? Sind wir auch lebendige Glieder der Gemeine des Herrn? Es gehört bei so großen Schwierigkeiten dieser Gemeinschaft viel Wachen, Ringen, Beten in der stillen Kammer dazu, es gehört eine wechselseitige Anregung und Vereinigung mit frommen Seelen dazu, ehe man ein Christ wird. Hüte sich Jedermann vor dem Wahne, als ob die heilsame Wahrheit wie die Luft, die wir athmen, in unser Wesen von selbst einströme, oder mit dem Klange der Worte, der unser Ohr erfüllt, in unsre Seele dringe. Selig sind, die Gottes Wort hören und bewahren in einem feinen und guten Herzen und Frucht bringen in Geduld, daß Alles Leben, Kraft, That und Wahrheit werde.

Doch wie weit es uns auch bisher gelungen ist, die Hindernisse der heilsamen Erkenntniß zu überwinden, Dank dem himmlischen Vater für seine Hülfe auf dem ersten Glaubenswege; Dank ihm, der das gute Werk in uns angefangen hat! Wir wandelten noch in dichter Finsterniß, wenn uns sein Licht nicht erschienen wäre, wir gingen in der Irre, wenn seine Stimme uns nicht gerufen, wenn seine Hand uns nicht geführt und gehoben und getragen hätte mit göttlicher Erbarmung. Wie viel hat er an uns gethan, ehe uns das Wort von Christo Licht, Kraft und Trost wurde; mit welcher Langmuth hat er uns stufenweise zur heilsamen Erkenntniß geleitet! Nicht uns, sondern seinem Namen gebührt die Ehre! Die sein Heil lieben, müssen allewege sagen: Der Herr sey hochgelobet! Unserm Gott sei Preis und Ehre, hier bis zum letzten Athemzug, bis zur Grabesnacht, und dort vor seinem Throne in jenem höhern, seligen Leben! Dem Gotte der Barmherzigkeit sei Preis und Ehre! Amen.