Vinet, Alexandre - Zeit haben fürs Gebet

Das Gebet, das ein Recht auf unser ganzes Leben hat, fordert nichtsdestoweniger einen besonderen Ort und eigens ihm geweihte Stunden. Ein Gebetsakt, auf den man sich nicht konzentrieren will, wird zu einer oberflächlichen Gemütsbewegung und einer weitschweifenden Träumerei. Das ernsthafte Nachdenken, ohne das kein ernsthaftes Handeln sich vollzieht, hat dann keinen Teil mehr am Gebet. So wird das Gebet, das eine Übung und Arbeit der Seele sein sollte, nur mehr noch - Gott verzeihe uns diesen Ausdruck - eine Art von Unterhaltung. Fast immer hat die Verachtung der gewöhnlichen Gnadenmittel eine gefährliche Anmaßung zum Grund; dagegen ist der treue Gebrauch dieser Mittel eine heilsame Einübung in die Unterordnung und die Demut. Die Verachtung der Gnadenmittel grenzt viel näher, als man glaubt, an eine Verachtung der Gnade selbst. Darum muss man die starke Befürchtung hegen, dass der, der es verschmäht, zum Gebet in ein verschlossenes Zimmer zu gehen, schließlich früher als man denkt darauf hinauskommt, überhaupt nicht mehr zu beten. Man verachtet die Mittel; aber das Gebet ist auch ein Mittel; und wenn einem das Beten nicht so viel wert ist, ihm einige Stunden freizuhalten, dann kann man daraus schließen, dass einem das Beten nichts wert ist.