Thomasius, Gottfried - Am Sonntag Kantate. Die Frage nach unserer Liebe zum Herrn.

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesu Christo! Amen.

Evg. Joh. 21,15 bis 19.
Da sie nun das Mahl gehalten hatten, spricht Jesus zu Simon Petro: Simon Johanna, hast du mich lieber, denn mich diese haben? Er spricht zu ihm: Ja, Herr, Du weißt, dass ich dich lieb habe. Spricht er zu ihm: Weide meine Lämmer. Spricht er zum anderen Mal zu ihm: Simon Johanna, hast du mich lieb? Er spricht zu ihm: Ja, Herr, Du weißt, dass ich dich lieb habe. Spricht er zu ihm: Weide meine Schafe. Spricht er zum dritten Mal zu ihm: Simon Johanna, hast du mich lieb? Petrus ward traurig, dass er zum dritten Mal zu ihm sagte: Hast du mich lieb? und sprach zu ihm: Herr, Du weißt alle Dinge, Du weißt, dass ich dich lieb habe. Spricht Jesus zu ihm: Weide meine Schafe. Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Da du jünger warst, gürtetest du dich selbst, und wandeltest, wo du hin wolltest; wenn du aber alt wirst, wirst du deine Hände ausstrecken, und ein anderer wird dich gürten, und führen, wo du nicht hin willst. Das sagte er aber zu deuten, mit welchem Tode er Gott preisen würde. Da er aber das gesagt, spricht er zu ihm: Folge mir nach.

Unser heutiger Text bildet die Fortsetzung der schönen Geschichte, die wir letzthin mit einander betrachteten. Was dort der Herr durch ein Wunder seiner Macht begonnen, vollendet er hier durch ein Wort seiner Gnade, und zwar in einer so heiligen und zarten Weise, dass wir auch daran wieder die ganze Herrlichkeit der Liebe erblicken, die das zerstoßene Rohr nicht zerbrechen und das glimmende Docht nicht gar auslöschen will. Denn mit der dreimaligen Frage: „Simon, Jonas Sohn, hast du mich lieb?“ erinnert er den tiefgefallenen Jünger nicht nur an seine dreimalige Verleugnung, sondern bringt ihm zugleich die Liebe, die er im Herzen trägt, zum vollen Bewusstsein, und setzt ihn aufs neue in das Hirtenamt ein. Obgleich also jene Frage ihrem nächsten Sinne und Zusammenhange nach nur den Petrus angeht, man fühlt es ihr doch an, dass sie noch weiter reicht, sie reicht herein auch in unser Leben, herein in das Gewissen eines jeden Christen, und will eine entschiedene Antwort. Und so lasst uns denn heute diese Frage:

die Frage nach unserer Liebe zum Herrn näher bedenken, indem wir erwägen:

  1. Wer sie an uns richtet;
  2. was sie von uns fordert;
  3. wohin sie uns weist.

Ich sage, wir wollen erwägen:

I. Wer sie an uns richtet;

denn das ganze Gewicht der Frage beruht auf der Person, die sie tut. Diese Person aber hat ein Recht nach unserer Liebe zu fragen, wie keine andere im Himmel und auf Erden, ein Recht, welches heiliger und stärker ist, als das Recht der Eltern an das Herz ihrer Kinder. Denn es ist die ewige Liebe selbst, die in dieser Person im Fleisch erschienen und, ob sie wohl reich war, doch um unsertwillen arm geworden ist, und hat uns erworben und gewonnen von allen Sünden, vom Tode und von der Gewalt des Teufels, nicht mit Gold oder Silber, sondern mit dem heiligen und teuren Blut, Jesu Christi, als des unschuldigen unbefleckten Lammes Gottes; ja so groß ist diese Liebe des Sohnes, dass der Vater selbst sie der Welt gegenüber preist, und ihr in seinem Wort sagen lässt: Niemand hat größere Liebe, denn dass er das Leben lässt für seine Freunde. Und wenn nun diese menschgewordene Liebe, wenn dieser Jesus, zu unserer Seele hintritt mit der Frage: Hast du mich lieb? soll er kein Recht haben, dich so zu fragen, für den er sein Leben gelassen hat, keinen Anspruch auf die Liebe deiner Seele haben, die er so teuer erkauft hat, die er fortwährend bei seinem Vater vertritt, die er auf seinem Herzen trägt mit unbeweglicher Hirtentreue, mit heiligem, brüderlichem Erbarmen? Hast du denn etwas, das du nicht von ihm empfangen hättest, irgend ein edles, geistiges Gut, das er dir nicht erworben hätte; ein Licht in deinem Geiste, einen Trost in deinem Herzen, eine Lust zum Guten, eine Hoffnung der Zukunft, die du ihm nicht danktest? Und kann es also eine heiligere, ich möchte sagen, eine menschlichere Pflicht geben, als solch eine freie, unverdiente Liebe zu erwidern? Gilt es doch nach dem Urteil aller sittlichen Menschen für eine himmelschreiende Sünde, wenn Kinder das treue Herz ihrer Eltern durch Undank kränken; was wird es erst heißen, dem die Gegenliebe verweigern, dessen Liebe gegen alle irdische Vater- und Mutterliebe wie der helle Glanz der Sonne ist, gegenüber dem bleichen Schimmer des Mondes? Oder meint ihr vielleicht, es habe deshalb keinen rechten Ernst damit, weil er nur danach fragt? Ich sage euch, er hat die Macht und das Recht, sie zu gebieten. Denn derselbe Jesus, der die Liebe ist, ist auch der Herr, Herr über Himmel und Erde, Herr insbesondere über die von ihm erlöste Gemeinde und deshalb auch zum Richter über sie verordnet; denn der Vater richtet Niemand, sondern alles Gericht hat er dem Sohne übergeben, darum dass er des Menschen Sohn ist. Gleichwohl gebietet er sie nicht. Denn er will keine gemachte und abgedrungene, sondern die freie Liebe unserer Herzen, um in ihr über uns zu herrschen; darum gebeut er sie nicht wie ein Gesetz, sondern lässt die Sonne seiner Gnade scheinen über die sündige Welt, und fragt nur nach, wer sich etwa hat durch sie gewinnen lassen. Er wird auch, wenn er wiederkommt in seiner Herrlichkeit, nach unserer Liebe fragen, und wo er sie alsdann nicht findet, wo man sie verschmäht, sein Evangelium verachtet, das Herz seinem Anklopfen verschlossen hat, da wird jenes ernste Wort seine Erfüllung finden, welches im letzten Kapitel des ersten Korintherbriefs geschrieben steht: „So jemand nicht lieb hat den Herrn Jesum, der sei Anathema“ d. i. verflucht. So erkennt ihr denn, meine Freunde, aus der Person dessen, der sie tut, wie wichtig die Frage unseres Textes ist. Sie entscheidet über unser Verhältnis zu ihm, das heißt zu dem, außer welchem kein anderer Name dem Menschen gegeben ist, darin sie könnten selig werden. Ob ein Mensch ihm angehöre oder nicht, ob er Christum zu seinem Erlöser, und in dem Sohne den Vater habe, das hängt ganz von der Antwort ab, die er auf diese Frage zu geben hat, welche der Herr heute an jeden unter uns richtet, auf die Frage: Hast du mich lieb?

II.

Was aber fordert sie von uns? ich meine, welcher Art die Liebe sein muss, nach der Er uns fragt. Das ersehen wir aus der Antwort, die Petrus gibt. „Hast du mich lieber, denn mich diese haben?“ fragt ihn Jesus zuerst. Und ihr wisst, Andächtige, dass dergleichen Gedanken diesem Jünger vordem nicht so ferne lagen. Als der Herr am Abend vor seinem Tode auf das Ärgernis hinwies, das sie allesamt an ihm nehmen würden, hatte er beteuert: Und wenn sie sich auch Alle an dir ärgern, so will ich doch mich nimmermehr ärgern; und wenn ich mit dir sterben müsste, will ich dich doch nicht verleugnen. Damals traute er also sich mehr zu als den Anderen; er maß, dass ich so sage, seine Liebe an der der Anderen; jetzt finden wir bei ihm keine Spur mehr von einem solchen Nebenblick; die hohen Gedanken sind ihm allesamt vergangen; er erwidert ganz einfach: „ja, Herr, du weißt, dass ich dich liebe.“ Es gibt, Andächtige, eine hochmütige Liebe, eine Liebe zum Herrn, welche rechts und links auf die Brüder sieht, und sich darüber freut, dass sie um so viel reiner und stärker als die ihre ist. Das ist die Liebe, die mit dem Pharisäer betet: „Ich danke dir Gott, dass ich nicht bin wie andere Leute,“ und die ist nichts als Heuchelei. Wer sich an den Sünden Anderer spiegeln, wer ihren Gebrechen gegenüber sich heimlich gefallen kann, der ist ein hochmütiger, selbstgerechter Tor und weiß nichts von der Liebe, die Petrus dem Herrn bekennt. Denn das ist die Gegenliebe zu dem, der den Gefallenen sanft und schonend aufgerichtet und ihm die brennenden Wunden geheilt hat; darum blickt er jetzt nicht auf die größere oder kleinere Treue der Anderen, sondern allein auf den, der ihn so gnädig wieder angenommen hat. Der Grundzug seiner Liebe ist Demut. Aber der Herr fragt ihn zum anderen Male: „Simon Johanna, hast du mich lieb?“ und sieht damit auf das gute Bekenntnis hin, das dieser Jünger vordem getan hat; als wollte er sagen: „Siehe, als ich einst an euch die Frage stellte: Wollet ihr auch hingehen?“ da hast du erwidert: Herr, wo sollen wir hingehen, du hast Worte des ewigen Lebens, und wir haben erkannt und geglaubt, dass du bist Christus, der Sohn Gottes.“ Wie nun? ist jenes Wort eine Wahrheit in deinem Herzen?

Es gibt eine Liebe, die in Worten besteht, die den Namen des Herrn auf den Lippen führt und in dem Ruhme eines guten Bekenntnisses das Merkmal ihrer Echtheit sucht. Ich kenne sie wohl, meine Freunde, denn sie ist mir in meinem Leben oft genug begegnet, weiß auch, wie wohlfeilen Kaufes sie zu erlangen sei. So zu lieben steht Niemand mehr in Gefahr, als wer durch Amt und Beruf verpflichtet ist, von Christo zu zeugen; denn da geschieht es leicht, dass man sich überredet, man habe seine Liebe deshalb schon im Herzen, weil man sie gegen andere mit hohen Reden zu preisen vermag. Überhaupt betrügt sich der Mensch mit nichts leichter, als mit seinen eigenen Worten, und je mehr einer sich bloß hineinredet in die göttliche Liebe, statt sich in sie hineinzuleben, desto weiter kommt er von ihr ab; denn wo die zum Gegenstand des Redens und Rühmens gemacht wird, da entsteht allemal jenes auswendige Christentum, welches gewöhnlich in Selbstbelügung endet, oder doch in selbstgemachten Gedanken und Gefühlen sich verläuft. Gerade das Gegenteil finden wir bei Petro. Er hat ein aufrichtiges Herz, macht jetzt nicht viel Worte, beruft sich auch nicht auf sein voriges Bekenntnis, sondern auf das Zeugnis seines Gewissens, ja vielmehr auf den Herrn, der alle Dinge kennt, vor dem sein Inneres offen daliegt, wie ein aufgeschlagenes Buch. So sagt er einfach: „Ja Herr, du weißt, dass ich dich lieb habe.“ Der Grundzug seiner Liebe ist Wahrheit. Aber Jesus fragt ihn zum dritten Male, und Petrus, so heißt es, war traurig, dass er zum dritten Male zu ihm sagte: „Hast du mich lieb?“ Die dreimalige Frage erinnert ihn an seine dreimalige Verleugnung, und diese Erinnerung weckt in ihm einen tiefen Schmerz; die Tränen, die er damals geweint hat, fließen aufs neue; die Wunden, die ihm dort im Hofe des Kaiphas die Untreue geschlagen hat, brechen wieder auf. Das ist der Schmerz der Buße, die heilsame Traurigkeit über die Schuld und Sünde; und diese ist bei Petrus selbst schon eine Frucht der Liebe; denn es ist der Schmerz darüber, dass er seines Meisters Liebe durch Verleugnung gekränkt und seine Treue so übel vergolten hat. Der Grundzug seiner Liebe ist das Gefühl der Buße.- O meine Freunde, und eine Liebe, die nicht aus derselben Quelle fließt, nicht durch die Traurigkeit über die eigenen Sünden und durch die Erfahrung von der vergebenden Gnade des Erlösers hindurchgeht, ist keine echte, keine tiefe Liebe. Man kann sich da zwar an den Zeugnissen des Evangeliums freuen und an dessen Strahlen gleichsam sonnen, aber ihn selbst, den Heiland, liebt man erst, wofern man einerseits die Tiefe des eigenen Unheils in gründlicher Reue, die Last der eigenen Sünde in aufrichtiger Traurigkeit gefühlt, andrerseits in Christo den barmherzigen Mittler gefunden hat; wofern man sein Wort an sich erfahren hat. Gehe hin mit Frieden, deine Sünden sind dir vergeben. Dass nun solche Liebe endlich auch eine völlige sei, dass man da nicht mehr das Herz zwischen ihm und der Welt teilt, nicht mehr auf beiden Seiten hinkt, sondern nichts weiter will und weiß als Ihn, kein höheres Gut kennt als seine Gnade, kein anderes Teil begehrt als seine Gemeinschaft, das brauche ich nach dem bisherigen kaum noch hinzuzufügen. Und so sagen wir denn, die Liebe, nach welcher der Herr fragt und die ihm allein wohlgefällt, ist die demütige, die wahrhaftige, die bußfertige, die völlige Liebe. Solche Liebe sucht er an uns, sie will er an uns finden, als die Frucht seiner Todesarbeit um unsere Seelen. Ob ihr sie habt? das beantwortet ihm selbst; aber aufrichtig; denn ihn kann Niemand mit leeren Worten oder eitlem Scheine täuschen. Er kennt alle Dinge, auch die verborgensten Tiefen des menschlichen Herzens. Gebe Gott, dass wir, ohne zu lügen, sagen können: „Ja Herr, du weißt, dass ich dich liebe.“ Wer das nicht kann, tue Buße, wer es kann, erwäge weiter

III.

Wohin uns der Herr mit dieser Liebe weist! „Weide meine Schafe,“ ruft er zu dreien Malen dem Simon zu. Er meint die Seelen, die er mit seinem eigenen Blut erlöst, die Menschenkinder, die er sich zum Eigentum erworben hat; die nennt er seine Lämmer, seine Schafe, weil dieses Wort das zarte und innige Verhältnis andeutet, in welchem Er als der rechte Erzhirte zu ihnen steht: die Gesinnung der zartesten Sorgfalt, die liebreichste Treue, die sorgsamste Bewahrung. Sie sind ihm das Liebste und Teuerste, was er hat; und ebendahin verweist er nun den Petrus: „Weide sie,“ spricht er, nämlich mit der Liebe, damit du mich liebst, mit der Hirtentreue, die du an mir selber gesehen und erfahren hast; führe sie auf die rechte Straße, auf den Heilsweg, den ich dir geoffenbart habe, an die grünen Auen, an die ewig frischen Wasser des Lebens; siehe, ich setze dich statt meiner zum Hirten über sie, habe acht, dass du ihrer keines verlierst. „Weide meine Schafe.“ So der Herr zu Petro. Es ist der größte Beweis der Gnade, den er ihm damit gibt; denn er nimmt damit nicht nur das Bekenntnis seiner Liebe wohlgefällig an, sondern zeigt ihm zugleich den Weg, wie er sie betätigen könne und solle. Und so hat es auch Petrus seinerseits angesehen und das Hirtenamt der Gemeinde nicht wie eine schwere Last, sondern wie ein ihm von seinem Meister übertragenes Kleinod geführt, willig, auch unter schweren Kämpfen und Tränen, in dankbarer Freude, dass er gewürdigt werde, ihm an seinen Erlösten zu dienen, ja mit seinem Tode ihn zu preisen, wie er gleich nachher aus dem Munde des Herrn erfährt (1. Petr. 5, 2. 3.)

Das aber, Andächtige, gilt uns Allen. Es ist ein jeder Christ mit seiner Liebe zum Herrn an die Brüder gewiesen; denn ihm, dem Seligen und Verherrlichten, können wir's unmittelbar nicht vergelten, was er an uns getan; er bedarf weder unserer Arbeit, noch unserer Dienste, begehrt auch nur unser Herz; aber in seinen Erlösten sollen wir ihn lieben, an seinen Lämmern und Schafen sollen wir ihm dienen, und auf diese Weise nicht sowohl unseren Dank an ihn bezahlen, als vielmehr dem Bedürfnisse genügen, welches die dankbare Gegenliebe in sich trägt. Das ist die einzige rechte Art ihm zu dienen, und wo diese fehlt, wo man selbstsüchtig das Eigene sucht und den Nächsten nur darauf hin ansieht, wie viel man von ihm Nutzen ziehen könne, da ist sicherlich kein Funken der Liebe Christi im Herzen. Ach, wie viel gibt es in dieser Hinsicht unter uns zu beklagen; wie viel schreiende Sünden der Ungerechtigkeit und Hartherzigkeit in unserer Mitte, wie viel Geiz und Habsucht in diesen bösen Zeiten, wie viel Arme, die wir nach Brot, wie viel Elend, das wir umsonst nach Hilfe rufen lassen, wie viel den Arbeitern abgebrochener oder verkürzter Lohn, wie viel Not und ungestillter Jammer unter unsern Nächsten! Gewiss, auch dahinein reicht der Ruf des Herrn: „Weide meine Schafe,“ die Bitte seiner Liebe: „Brich dem Hungrigen dein Brot und die so im Elend sind führe ins Haus, so du einen Nackenden siehst so kleide ihn und entzeuch dich nicht von deinem Fleisch.“ Aber freilich, das fühlt man leicht jenem Worte ab, dass es hiermit nicht bloß aufs Geben abgesehen ist. Wer damit meinte, die Pflicht der Liebe abkaufen zu können, dass er aus seinem Überfluss mitteilt und zu den mannigfachen wohltätigen Vereinen für Bedürftige seine Beiträge gibt, der hat von dem Sinne des Herrn noch nichts verstanden. Es handelt sich ja hier nicht sowohl um die äußere Gabe und Hilfe, als um das brüderlich gesinnte Herz, welches die Gabe darreicht, und nicht nur um die irdische, sondern um die geistige Pflege des Nächsten, um die Rettung, die Bewahrung seiner erlösten Seele zum ewigen Leben. In diesem Sinne spricht er: Hast du mich lieb, so weide meine Schafe.“ So sagt er zu euch, ihr Eltern und Hausherren, denen er einen größeren oder kleineren Kreis von Kindern und Hausgenossen übergeben hat; das sind die Lämmer seiner Herde, die Schwachen und Unmündigen, auf die er sein besonderes Augenmerk gerichtet hat, seine Kindlein, die er eurer treusten Pflege befohlen wissen will. Erinnert euch, was ich erst am Konfirmationstage euch ans Herz gelegt habe; führt Ihm die Eurigen zu, damit er segnend die Hände auf sie lege und sie durch euren Dienst zu Kindern seines Reiches mache. Weidet meine Schafe, das sagt er euch, die ihr zu Beratern des öffentlichen Gemeinwesens, zu Wächtern und Amtleuten des Volks gesetzt seid; lasst diejenigen, die eurer Obhut befohlen sind, inne werden, dass ihr das Amt nicht des Gewinnes und der Ehre wegen führt, sondern dass euch die Sorge für ihre wahre Wohlfahrt und die Treue treibt, die aus der ewigen Quelle, aus Christo quillt. Weide meine Schafe, das sagt er euch, ihr Theologen, die ihr zum Dienst an seiner Gemeinde euch vorbereitet; in wenig Jahren, am Tage eurer Ordination, wird er dies Wort aufs neue mit feierlichem Ernst euch zurufen; o seht zu, dass ihr dann die Liebe zu ihm schon mitbringt, in welcher allein das Amt des Neuen Testamentes mit Segen geführt werden kann; jene Liebe, da man in den Erlösten den Erlöser liebt, und alle Mittel der Wissenschaft eben darum sich aneignet und hochhält, weil man mit ihnen ihm an seinem Reiche dienen. kann. Möge sie in euer Aller Herzen brennen und unter Gebet und Studium zur hellen Flamme in euch werden. Wo aber sie lebendig ist, da beschränkt man sich auf die nächste Nähe nicht; denn die Liebe macht die Herzen weich und weit.

Und so lenke ich denn heute euren Blick hinaus in die Ferne, wo so viele Tausende noch der Segnungen des Christentums entbehren, hinaus auf die Scharen unserer Glaubensbrüder in Nordamerika, die dort wie eine zerstreute Herde weithin in den Ländern der Fremde wohnen, zum großen Teile ohne Hirten, ohne Gotteswort für ihre Seelen, ohne Taufe für ihre Kinder, ohne Nachtmahl für ihren Hunger, ohne Gottesdienst, ohne Predigt, ohne Seelsorge; alle Tage wird ihr Ruf um Hilfe dringender, die Gefahr ihres Verlorengehens größer, und ihr habt Alles, was ihnen fehlt. O dass doch einen und den anderen die Liebe Christi dränge, einem oder dem anderen der Ruf des Herrn zu Herzen ginge: „Gehe hin und weide meine Schafe.“ - „Und ich habe,“ so spricht derselbe, indem er den Blick seiner Erbarmung auf die Menge der Heiden richtet, „ich habe noch andere Schafe, die sind nicht aus diesem Stalle, und dieselbigen muss ich herführen und sie werden meine Stimme hören und wird Ein Hirte und Eine Herde werden.“ Nun hat freilich nicht Jedermann den Beruf, der Mission unmittelbar zu dienen, aber die Pflicht legt doch einem jeden die Liebe auf, zu beten, dass der Herr Arbeiter in seine Ernte sende, mitzuhelfen, dass die Zahl der Boten des Friedens sich mehre, von welchen geschrieben steht: „Wie lieblich sind auf den Bergen die Füße der Boten, die da Gutes predigen, Heil verkündigen, die zu Zion sagen, dein Gott ist König“ (Jes. 52,7.); mitzubeten und mitzuwirken, dass aus der Nacht des Heidentums ein Volk des Eigentums ihm gewonnen, eine Herde ihm gesammelt werde aus den Schafen, die er mit demselben Blut der Versöhnung erkauft hat, in welchem wir Trost und Leben haben. Gewiss, Andächtige, wer von dieser seiner großen Liebe etwas an sich erfuhr, den brauche ich auch nicht erst darum zu bitten und zu ermahnen; er trägt das heilige Missionswerk auf seinem Herzen, er kann nicht anders, er muss etwas tun zur Erfüllung des Wortes, das der Herr seiner ganzen Kirche geboten hat: „Weide meine Schafe.“

O du treuer Erzhirte, so fülle du selbst unsere leeren Seelen mit deinem Geiste, schenke uns Liebe im Glauben an deinen Namen, Liebe zu dir, gereift unter den Schmerzen der Buße, Liebe zu den Brüdern in der Nähe und Ferne, nicht in Worten und auf der Zunge, sondern tätige, dienende, selbstverleugnende Liebe, damit, wenn du einst in deiner Herrlichkeit wiederkommen und die Frage an uns richten wirst: „Hast du mich lieb?“ - alsdann wir mit gutem Gewissen die Antwort wagen dürfen: „Ja Herr, du weißt alle Dinge, du weißt auch, dass ich dich liebe.“ Amen.