Wie man alle Geschöpfe verlassen muß, um den Schöpfer zu finden.
1 Herr! ich bedarf wohl noch größerer Gnade, wenn ich dahin gelangen soll, wo mir kein Mensch, noch irgend eine Kreatur mehr hinderlich sein kann.
Denn so lange mich noch etwas zurückhält, kann ich mich nicht frei zu dir empor schwingen. Frei sich aufschwingen können, begehrte jener heilige Sänger, der da rief: „Wer gibt mir Taubenflügel, daß ich auffliege und Ruhe finde?“ (Ps. 54,7.)
Was ist ruhiger, als ein einfältiges Auge, und wer freier, als der, welcher nichts begehrt auf Erden?
Daher muß man über alle Kreatur hinausgehen und sich selbst vollkommen verläugnen und in diesem Aufschwunge des Geistes fest stehen und erkennen, daß dir, dem Schöpfer aller Dinge, nichts unter den Kreaturen gleich ist.
Und wer sich noch nicht von allen Kreaturen losgerissen hat, der kann die Seele nicht frei auf das Göttliche richten.
Denn darum werden so wenig Beschauliche gefunden, weil nur Wenige sich von den vergänglichen Dingen und den Kreaturen völlig loszureißen verstehen.
2. Dazu ist große Gnade erforderlich, welche die Seele erhebt und über sich selbst aufschwingt.
Und wenn der Mensch nicht im Geiste erhoben und von allen Kreaturen losgebunden und mit Gott ganz vereinigt ist: so hat Alles, was er auch weiß und was er besitzt, kein großes Gewicht. – Der wird lange klein sein und im Staub liegen bleiben, der etwas Anderes für groß hält, als das Eine, unermeßliche, ewige Gut. – Denn was nicht Gott ist, das ist nichts und muß für nichts geachtet werden.
Es ist ein großer Unterschied zwischen der Weisheit eines erleuchteten und gottseligen Mannes und der Wissenschaft eines studirten und gelehrten Pfarrers.
Weit edler ist jene Erkenntniß, die von oben herab aus göttlicher Quelle fließt, als die, welcher der Mensch sich mühsam durch eigene Geisteskraft erwirbt.
Es gibt Viele, welche die göttlichen Dinge zu erkennen verlangen, aber das nicht in Anwendung bringen wollen, was dazu erfordert wird.
Auch ist das ein großes Hinderniß, daß man an sichtbaren Zeichen und Dingen hängt und auf vollkommene Selbstverläugnung wenig hält.
Ich weiß nicht, was das ist und was für ein Geist uns treibt, oder was wir eigentlich wollen, die wir Geistliche genannt werden, daß wir so viele Mühe und größere Sorge auf vergängliche und geringfügige Dinge wenden, und über unser Innerste selten und auch nicht mit voller Geistessammlung nachdenken.
3. Kaum haben wir uns ein wenig gesammelt, so wenden wir uns, leider! sogleich wieder nach außen und unterwerfen unsere Werke keiner strengen Prüfung.
Wo unsere Begierden liegen, beachten wir nicht und wie unrein Alles an uns ist, beweinen wir nicht.
So hatte vordem alles Fleisch seinen Weg verderbet und deßhalb erfolget die große Sündfluth.
Da nun unser innerer Trieb sehr verderbt ist, so muß natürlicher Weise das daraus herfließende Handeln den Mangel der innern Verderbtheit an sich tragen und schlecht sein.
Aus einem reinen Herzen geht die Frucht eines guten Lebens hervor.
4. Wie viel Einer gethan habe, fragt man wohl; aber aus welcher Gesinnung er handelt, das wird nicht so sorgfältig erwogen.
Ob einer tapfer, reich, schön, geschickt, oder ein guter Schriftsteller, ein guter Sänger, ein guter Arbeiter sei, darnach forscht man; aber wie arm am Geiste er sei, wie geduldig und sanftmüthig, wie fromm und gottselig, darüber schweigen Viele.
Die Natur sieht nur auf das Aeußere des Menschen, die Gnade aber richtet ihren Blick auf das Innere.
Jene täuscht sich häufig; diese hofft auf Gott, damit sie nicht betrogen werde.