Tholuck, August - Glaubens-, Gewissens- und Gelegenheitspredigten – Mat. 19,16-22

Andächtige in Christo. Ein jüngst verewigter Kirchenfürst, der selige Harms, hat an den Prediger die Anforderung gestellt: die Predigt soll nicht glatt seyn, sondern Nägel haben und Widerhaken. Wohl geredet! Nur ists nicht genug, daß Einer da ist, die Widerhaken auszuwerfen, es gehört auch der heilige Geist dazu, der sie in das empfängliche Herz hineinstößt, daß sie halten. Ein Wort aus meiner letzten Predigt ist haften geblieben in manchem Herzen - nicht ein Gotteswort, sondern ein Wort morgenländischer Weisheit, ich meine das Sprüchwort: das Geheimniß ruht unter dem Splitter, die Kunst ist nur, den Splitter aufzuheben. Ja - habe ich aus einem und noch einem Munde vernommen - wie wahr ist das, ists nicht oft nur ein Splitter, der Einen abhält, und über den Splitter kann man nicht wegkommen! Ist das so wahr, so verdient diese Thatsache wohl, daß wir ihr tiefer nachdenken; denn nur im Vorübergehn haben wir dessen gedacht.

So laßt denn jenen Ausspruch, daß es oft nur ein Splitter ist, der Einen hindert, ein rechter Christ zu werden, uns im Lichte der Schrift betrachten.

Matth. 19, 16-22.

Und siehe, Einer trat zu ihm, und sprach: Guter Meister, was soll ich Gutes thun, daß ich das ewige Leben möge haben? Er aber sprach zu ihm: Was heißest du mich gut? Niemand ist gut, denn der einige Gott. Willst du aber zum Leben eingehen, so halte die Gebote. Da sprach er zu ihm: Welche? Jesus aber sprach: Du sollst nicht tödten. Du sollst nicht ehebrechen. Du sollst nicht stehlen. Du sollst nicht falsches Zeugniß geben. Ehre Vater und Mutter. Und du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst. Da sprach der Jüngling zu ihm: Das habe ich alles gehalten von meiner Jugend auf; was fehlt mir noch? Jesus sprach zu ihm: Willst du vollkommen seyn, so gehe hin, verkaufe was du hast, und gieb es den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben; und komm, und folge mir nach. Da der Jüngling das Wort hörete, ging er betrübt von ihm; denn er hatte viele Güter.

Laßt mich euch zeigen, daß es so ist, daß ein einziger Splitter den Menschen hindern kann, ein wahrer Christ zu werden, warum es so ist, und was daher geschehen muß, wenn es anders werden soll.

Daß es so ist. Die scheinbar kleinsten Dinge sind es oft, die es zu den größten Erfolgen nicht kommen lassen. In der schönsten Glocke ein kleiner Sprung und sie klingt nicht mehr, der reichste Geldkasten und ein verlorner Schlüssel, und er hilft nichts. Der Schlachttag ist gekommen, die Truppen sind aufs trefflichste disponirt, die Depeschen des Feldherrn fliegen hin und her, das Roß des Adjutanten strauchelt an einem Stein, nur eine kleine Viertelstunde kommt er zu spät, und - die Schlacht wird verloren. Lachend steht der Erbe am Tage der Testamentseröffnung vor einer reichen Erbschaft und träumt eine glückliche Zukunft. Ein einziges Wort im Testament ist verschrieben und das Testament gilt nicht mehr. So gehts nun auch in geistlichen Dingen. Wohl Mancher ist glücklich über den Rhein gekommen und ist im Bächlein ertrunken. Wohl Mancher, der Schlangen und Scorpionen entlaufen ist und an einem Wespenstich sterben muß. Kein ärgerer Betrug der Sünde, als sich sicher zu wähnen, wenn man nur die sogenannten groben Sünden meidet. Sind denn bloß die großen Hunde des Wildes Tod? wie manchmal hat ein ganz kleines Hündlein ein edles Wild zu Tode hetzen können! Seht das am reichen Jüngling in unserm Evangelium. Alle Gebote, die der Herr ihm vorhält, meint er gehalten zu haben. Kann er nun das meinen, so scheint es der Dünkel der Selbstverblendung zu seyn, den der Herr ihm als das Hinderniß vorhalten will, warum er zum ewigen Leben nicht gelangen könne, und doch ists das nicht, was ihn in des Herrn Augen zu Falle bringt. Zunächst ist es nur ein Splitter, an dem er zu Schanden wird, und dieser Splitter muß in dem gelegen haben, was die Antwort auf die Frage war: was fehlt mir noch? In der That kann es mit dem Jüngling gar so schlimm nicht gestanden haben, als es Viele meinen, und auch das, was der Jüngling von sich rühmt: „ich habe es Alles gehalten von Jugend auf. das kann nicht bloße Einbildung seyn. Wäre es bloß Prahlerei und Einbildung gewesen, der Herr würde anders mit ihm verfahren seyn. Wir lesen aber bei Markus: und der Herr sah ihn an und liebte ihn. Wie es scheint, hat diese Liebe sich auch geäußert - etwa in einem freundlichen Blicke. Es muß also würklich ein edles, strenges Jünglingsgemüth gewesen seyn. Die Frage: was muß ich Gutes thun, daß ich das ewige Leben habe?' muß nicht bloß eine eitele Phrase, muß eine Gewissensfrage bei ihm gewesen seyn. Mit welchem ganz anderen Blicke hätte sonst der Herr ihn angesehen! Ich sage also, hätten wir nur lauter solche Jünglingsgemüther, bei denen die Frage: was soll ich Gutes thun, daß ich selig werde?' mehr als bloße Phrase ist! Mit solchen Jünglingsgemüthern, bei denen die Frage immerdar Ernst ist „was soll ich thun, daß ich selig werde?“ kann man die Welt erobern. Und wenn ihm nun der Herr das: „gehe hin und verkaufe, was du hast!“ zuruft, mußte dies nicht auf der Voraussetzung ruhen, daß er kein gemeiner Geizhals sei? Er wird, dürfen wir annehmen, mit seinem Gute seine Aeltern unterstützt haben, wie er ja auch das vierte Gebot gehalten zu haben versichert, er wird auch seine Almosen gegeben haben wie Einer von uns; viel mehr hat er vielleicht gethan. Es kann kein Balken gewesen seyn, den der Herr ihm vorhielt, es ist in Wahrheit nur ein Splitter gewesen. Er hat ihn ja lieb gewonnen, hat ein so gutes Bauholz fürs Reich Gottes in ihm entdeckt, daß er ihn selbst auf. fordert, ihm nachzufolgen. Zu solcher Nachfolge gehört nun aber ein ungetheiltes Herz für Gott. So zeigt ihm nun auch der Herr bloß, daß sein Herz noch nicht ungetheilt auf Gott gerichtet ist, daß es noch getheilt ist zwischen Gott und den Gütern dieser Welt. Und eben dieser Splitter ists, warum die Thüre zum ewigen Leben, von der er die Klinke schon in der Hand hatte, sich doch nicht auf. thun konnte. Warum dies so, werden wir im Verfolge sehen.

Und das nun ist der Zustand von o wie Vielen! Derer habe ich hier nicht gedacht, welchen diese Frage, die der Jüngling thut: „Was soll ich Gutes thun, daß ich das ewige Leben ererbe“ noch gar nicht eingefallen ist. Ich will und muß es annehmen, daß es bei euch die ihr hier versammelt seid, zu dieser Frage würklich gekommen ist, daß hier lauter Solche sind, welche sich im Geist vor unsern Herrn Jesus hinstellen und in dem Sinne wie der Jüngling fragen: Meister, was muß ich thun, daß ich das ewige Leben ererbe. Es ist bei Vielen nur ein Splitter, der im Wege liegt, der Splitter wird nicht aufgehoben, und das Glaubensleben bleibt euch ein verschlossenes Geheimniß. Frage ich mich nun, was wird bei den Meisten von euch dieser Splitter seyn? so kann ich nur, wie ich es vor euch schon sonst ausgesprochen, wiederholen: meiner Ueberzeugung nach ists bei den Meisten nur die fortwährende Zerstreuung, das Laufen ohne Halt und Stillstand, der Mangel an Stunden der Selbstbesinnung vor Gott. Brüder, es ist eben, wie der Dichter spricht:

Die Sonn' im Sturme spiegelt nicht
Im Meer ihr heilig Angesicht.

Auch wenn ihr betet, auch wenn ihr in der Kirche seid, fallen die Strahlen der Geistersonne nicht auf euch, weil euer Herz viel zu unruhig und unstät ist. Ausgebreitet muß euer Herz vor Gott liegen wie der klare Wasserspiegel, sonst winkt die Geistersonne nicht auf euch. Wir sind gewohnt, dergleichen Zerstreuungen für gar unschuldig anzusehn; der Heiland sieht sie ernster an. Eure Zerstreuungen, das sind die Vöglein, von welchen die Schrift im Gleichniß vom Säemann sagt, daß sie den Samen des Wortes Gottes wegholen, der an den Weg gefallen ist. Ein leichtes und harmloses Gemüth scheint es, das sich so flüchtig und fröhlich unter dem Himmel herumtummelt, und doch - was urtheilt der Heiland in seiner Deutung des Gleichnisses? daß es der Satan, der Seelenfeind, ist, der sie hat fliegen lassen.

Zwar harmlos sehn sie aus, wenn si ohn' Sorg' und Härmen
Am weiten Himmelszelt voll Lebenslust hinschwärmen.
Doch rauben sie das Wort; drum laß dich nicht betrügen,
Merk, was dein Heiland spricht: es ließ sie Satan fliegen.

Doch rauben sie das Wort - es sind vielleicht einige von euch, denen in unsrem letzten Gottesdienste das Wort des Propheten: Haltet ein, schaut euch um! an die Oberfläche des Herzens gekommen ist, aber schon während der zwei Wochen haben unter den Zerstreuungen und den Arbeiten des Tages die Vögel auch dieses Samenkorn wieder weggeholt.

Doch zu einem anderen Theile von euch wende ich mich. Ich will zu denjenigen mich wenden, die über diesen Splitter hinweggekommen sind, zu denjenigen, die im Glauben stehen. An euch will ich mich wenden, die da glauben und doch in diesem Glauben den Frieden nicht finden, an euch, die die Erde ausgestoßen hat und die der Himmel nicht aufnehmen will. Ich spreche nicht von Allen unter euch, aber von Vielen weiß ich's, daß für sie das Geheimniß wieder nur unter einem Splitter ruht. Ihr denkt nur daran, was ihr zu thun habt und vergeßt, was Gott der Herr für euch gethan hat. Ihr seid nicht träge und nicht zerstreut; die Eine Frage: was muß ich thun, daß ich das ewige Leben ererbe, brennt unablässig auf euer Herz; ihr habt die Klinke in der Hand, ihr rüttelt und schüttelt an der Hausthür, aber - ein Splitter, den ihr nicht seht, liegt dazwischen, und die Thüre klemmt sich und will sich auch nicht öffnen. Das macht, daß ihr es immer wieder vergesset, daß die Kindschaft Gottes euch bereits erworben ist, daß eure Namen im Buche Gottes schon eingeschrieben sind. So ängstigt ihr euch immer wieder, als ob ihr von vorne anzufangen hättet, arbeitet als Knechte, wo ihr als Kinder euch könntet vom Geist treiben lassen. Es ist nichts, was Einem deutlicher machen kann, daß das Evangelium von einer aus Gnaden geschenkten Kindschaft nicht aus eigner Vernunft und Kraft kommt, als die Schwierigkeit mit der der sündige Mensch sie sich aneignen kann. Ordentlich wie Einem, der aus einem schweren Traume erwacht, kann es der geängstigten Christenseele zu Muthe seyn, wenn sie sich den Schlaf aus den Augen wischt und sich besinnt: o Gott sei Lob und Dank, ich bin ja ein Kind Gottes, angenommen aus Gnaden, ich habe ja die Verheißung! „Die Meinen wird Niemand aus meiner Hand reißen. spricht der Herr, so wird der, der das gute Werk in mir angefangen hat, es auch vollenden.

Bei einem großen Theil ist es aber auch in der That nicht dies, weshalb sie trotz ihres Glaubens doch zum Frieden nicht gelangen können. Bei einem großen Theile ists wie beim reichen Jüngling eine erkannte oder eine unerkannte Schooßsünde. Sie fühlen: es ist hier etwas nicht richtig, sie tasten rechts und tasten links, aber die Eiterbeule können sie nicht finden, von der aus das Gift in ihr innerstes Lebensmark dringt. So lange aber eine erkannte oder eine unerkannte Schooßsünde in dir bleibt, die du ruhig wuchern läßt - sei es mit bösem Gewissen, sei es auch aus Unwissenheit, so lange rüttelst und schüttelst du an der Lebensthür, und sie wird nicht aufgehen.

Und das führt mich zu der andern Frage: warum es so ist, daß ein einziger Splitter das Hinderniß seyn kann, warum einem Menschen die Lebensthür sich nicht öffnet. Ich antworte: weil, wenn es unbewußte Sünde ist, die Buße fehlt wie bei dem Jüngling, und wenn es eine bewußte ist, die Zuversicht des Glaubens. Buße aber und Zuversicht des Glaubens, das sind die zwei Stücke der Bekehrung, ohne welche Keiner ins Himmelreich! kommt. Wie schwer aber muß für jenen Jüngling das Bußethun geworden seyn, wenn er so war, wie wir ihn geschildert haben, wenn er die Frage mit innerer Wahrheit gethan: „Meister, was muß ich thun, daß ich das ewige Leben ererbe. und wenn er, so weit Menschenaugen reichen, die Gebote gehalten hat? Wir sagen wohl manchmal: der ist eigentlich zu gut, der kann sich nicht recht zu Christo bekehren. Und fürwahr, muß Einen nicht manchmal so bedünken? Begegnet man nicht hie und da solchen Tugendmustern, bei denen man keine vorherrschende Leidenschaft wahrnimmt, keine Aufwallung, keine Unregelmäßigkeit, keinen Fehltritt? O ihr regulären Tugendhelden, wie schwer muß es euch werden, durch das arme Sünderpförtlein einzugehen, durch das der Schächer am Kreuz, Zachäus und Magdalene gegangen sind! O wie mancher Petrus, der mit starken Fehlern, aber auch mit starken Tugenden und mit tiefer Buße köstlicher wird vor Gott erfunden werden als ihr! An den Balken hat nun aber der Herr den Jüngling nicht zum armen Sünder machen können, die waren nicht da. Er hat ihm einen Splitter vorgehalten, um ihn zum armen Sünder zu machen. Er zeigt ihm, daß er fürs ewige Leben doch noch nicht Alles einzusetzen im Stande ist, Und o wie ich den Jüngling bewundere, wie ich ihn liebe, der daran sich zum armen Sünder machen läßt! Denn wenn einem von euch der Heiland eine solche Zumuthung machen wollte, wie sie hier der Herr dem Jünglinge macht - wie Mancher, der, statt sich dadurch beschämen zu lassen, ihm vielmehr ins Angesicht lachen würde! Von dem Jünglinge aber heißt es: und er wurde betrübt. Es war nur ein Splitter, den der Herr ihm gewiesen, aber bei solch einem Gemüthe bedurfte es auch nicht mehr. An dem einen faulen Fleck erkannte er, wie es mit seinem Herzen überhaupt stand. Und zwar war dieser faule Fleck kein Balken, sondern nur ein Splitter. Denn wo ein Mensch nur angefangen hat, an Einem Flecke gründlich vor Gott zum Sünder zu werden, wie wird der schwarze Faden ihm offenbar, der sich durch alles Andere zieht!

Der unerkannte Splitter läßt's zur Buße nicht kommen, der erkannte und doch gehegte Splitter läßt's zur Zuversicht des Glaubens nicht kommen. In der That, ein Splitter kanns seyn, eine von den sogenannten ganz kleinen Sünden - etlichemal ein fröhlicher Rausch, ein lüsternes Phantasiespiel, ein frivoler Scherz, ein unzüchtiges Wort, ein unterlassenes Morgen- und Abendgebet; aber das Gewissen hat sie zur Sünde gemacht und das göttliche: Laß ab, laß ab, betrübe nicht den heiligen Geist! dir zugerufen, und du läßt nicht ab: was für ein Feuerbrand im Gewissen, o was für eine Scheidewand zwischen dir und Gott! Sogleich ist die Zuversicht zu Gott hinweg, du fängst aufs unbefangenste zu beten an - Heuchler! ruft es dazwischen, und dem Gebet ist der Nerv abgeschnitten. Der Kindschaft Gottes willst du dich getrösten - „draußen sind die Heuchler und die Hunde und die Ehebrecher- tönt es in deine Ohren. Das nämlich ist die große Bedeutung des Wortes: Niemand kann zween Herren dienen; er wird dem einen anhangen und den andern verachten. Gott will nicht seine Herrschaft mit einem Andern theilen. Wo er's uns klar gemacht hat im Gewissen, daß etwas gelassen werden muß, da muß es auch gelassen werden, und wird es nicht gelassen, so reicht ein Splitter hin, um dem Glauben die Zuversicht zu rauben. O wie Viele unter den Gläubigen selbst, die nur ein stechendes geistliches Leben führen, ohne Frische und ohne Freudigkeit - warum? weil sie die Kindeszuversicht zu Gott im Gebete verloren haben, und warum das? weil sie von ihrer Schooßsünde nicht lassen wollen, welche der heilige Geist im Gewissen ihnen aufgedeckt hat. Ich habe hier ausdrücklich nur von den Splittern gesprochen; denn wo diese erkannten und doch nicht gelassenen Sünden Balken sind, da ist ja dieser Gewissensbann noch viel verhängnißvoller!

Was aber muß geschehen, damit es anders werde? Zu allererst: daran nicht zweifeln, daß, wenn dem Beten und Glauben die Thür sich doch nicht öffnen will, der Grund an der Thüre nicht liegen kann, über der die Ueberschrift steht: Kommt her zu mir, ihr Mühseligen und Beladenen!“ An einem Splitter muß es liegen, der sich dazwischen geschoben und der uns nicht hineinkommen läßt. Und das führt dann weiter auf die Frage: was dieser Splitter sei. Ihr, die ihr den Frieden aus Gott nicht zu haben erkennt und doch ihn begehrt, und die ihr doch so hinlaufen könnet ohne Stillstehn und Umsehn, euch kann's mit eurer Begierde nicht Ernst seyn; denn wäre es euch Ernst, so müßtet ihr fragen, wo liegt der Splitter, daß ich zur Thüre nicht hineinkomme? Und wo die Antwort holen? Bei dem, der dem Jüngling die Antwort gegeben hat und der noch fort und fort zu den Seelen redet in seinem Wort. Wohl ist das Wort für die Jahrhunderte und für die Völker der Erde gegeben und doch ist das sein wunderbarer Charakter, daß es Antworten enthält auch für jedes einzelne betende Menschenherz. O, es ist nicht zu sagen, wie individuelle Antworten auf die speciellsten Bedürfnisse und Fragen eines suchenden Menschenherzens die Schrift geben kann. Allerdings ist das Wort Gottes aber auch nicht bloß verschlossen innerhalb der zwei schwarzen Deckel dieses Bibelbuches, es wird eingepflanzt und wächst hinein in jede gläubige Seele und so müßt ihr die Antwort auf eure Frage auch suchen bei allen denen, in denen das Licht und die Kraft des Wortes Gottes lebendig geworden ist. Was für blinde Richter wir in eigner Sache sind, das wißt ihr ja alle; wäre es nun, wie es seyn soll: gar nichts Erfreulicheres müßte es ja für ein so blindes Menschenkind geben, als wenn ihm Gott ein Herz geschenkt hat, bei dem es fragen kann: ach, sage mir, was ist denn mein Splitter? Wie manche Eheleute mag es aber hier geben, wie manche Freundespaare, die eine solche Frage sich bis jetzt noch niemals gethan. Ja, Manche wollen es gar nicht einmal hören, wo ihr Splitter liegt. Das aber sage ich: diejenigen von euch, denen nicht das Liebste, was ihnen von einem Freunde werden kann, dies ist, daß er ihnen ihren Splitter zeige, die betrügen Gott und sich selbst, wenn sie nur ein Wort davon sprechen, daß es ihnen um Frieden mit Gott zu thun sei. - Doch ist nach seinen Splittern fragen noch das Geringste - wie Mancher fragt, erfährt's und geht doch seinen Weg! Hier fällt darum centnerschwer das Wort des Heilandes ein: „wenn dich aber dein rechtes Auge ärgert, so reiße es aus. Das versteht ihr, daß des Menschen rechtes Auge, seine rechte Hand nichts andres sagen will, als sein liebstes Gut und was ist in den meisten Fällen dem Menschen sein liebstes Gut? Seine Schooßsünde, die ihn am süßesten kitzelt - den Einen seine Fleischeslust, den Andern seine Hoffahrt, den Dritten sein Eigenwille. Während wir nun, auch nachdem wir diese Schooßsünde erkannt, sie hätscheln, sie schonen und entschuldigen, da fällt das centnerschwere Wort des Herrn ein: ausreißen, abhauen, wenn nicht der ganze Mensch ins höllische Feuer geworfen werden soll. Merkt noch auf den bedeutungsvollen Zusatz: „wenn nicht der ganze Mensch ins Feuer geworfen werden soll. Von einem einzigen solchen Punkte einer erkannten und doch gehegten Schooßsünde geht nämlich der geistige Knochenfraß aus, der den ganzen Menschen anfrißt. Ihr werdet sagen, eine solche Schooßsünde, die den ganzen Menschen anzufressen im Stande ist, das ist dann aber auch kein Splitter mehr - in Gottes Auge allerdings nicht, aber in deinen Augen leider, sonst würdest du sie ja nicht so schonen. Noch mehr sagt uns aber jenes Herrenwort. Er spricht von Auge und Hand, das sind ja nicht böse Dinge, das sind nicht bloß theure, das sind auch nützliche und heilsame Glieder und doch sollen sie geopfert werden, sobald sie uns zum Aergerniß d. h. zur Versuchung werden. Noch weiter geht also des Herrn Forderung. Nicht bloß die Schooßsünden - auch die erlaubten, auch die an sich ehrlichen und löblichen Lebensgüter, sobald man merkt, daß sie einem zur Versuchung werden - ausreißen, abhauen! - besser, als daß der ganze Mensch ins höllische Feuer geworfen werde. Auch eine an sich ganz unanstößige Geselligkeit und Behaglichkeit des Lebens, ein an sich preiswürdiges Studium und ein an sich edler Kunstgenuß - so wie du merkst, daß sie dir zum Argen werden - abhauen! Splitter sind's nur, kleine Splitter vielleicht, aber das Geheimniß der Gottseligkeit verdecken sie dir und den Seelenfrieden kannst du nicht finden, so lange du zween Herren dienst. Und meine Keiner, daß das vom Herrn Christus eben nur so geredet sei. Seht nur, wie der Herr das, was er in jenem strengen Worte spricht, ebenso streng bei dem reichen Jüngling anwendet. Obwohl er ihn so lieb gewonnen hat, obwohl es nur ein kleiner Splitter ist, über den er nicht wegkann - abhauen, abhauen! „verkaufe Alles, was du hast!“ Und er läßt den ihm theuer gewordenen Jüngling gehen und wir erfahren nicht, daß er wieder gekommen ist. So ernstlich ists also bei dem Herrn mit dem Abhauen gemeint.

Ach, daß ich die rechte Sorge um eure Seligkeit unter euch erwecken könnte! Ach, daß ihr zu fragen ansinget so ernst wie der Jüngling fragte! Habt ihr aber vom Herrn erfahren, wo der Splitter liegt, daß ihr zu Thür nicht hineinkommt, ach daß dann auch in eurer Seele der Zuruf des Herrn einen Widerhall fände: abhauen, ausreißen!“

Geist des Herrn, der du die Menschen strafst um ihrer Sünde willen, straf auch uns, und wenn's auch nur ein Splitter wäre, der uns vom Herrn abhält, mach' ihn in unsern Augen zum Balken!

Zerbrich, verbrenne und zermalme,
Was Dir nicht völlig wohlgefällt,
Ob mich die Welt an Einem Halme,
Ob sie mich an der Kette hält:
Ist Alles gleich in deinen Augen,
Da nur ein ganz befreiter Geist
Und ungetheilte Liebe taugen.
Amen.