Glaube und Frömmigkeit, Geliebte im Herrn, ist Gott sei Dank vielfach wieder unter uns wach geworden. Auch unter euch, ihr Versammelten in Christo Jesu, ist so Mancher, der den Glauben der Väter wieder gewonnen hat: den Glauben der Väter habt ihr wiedergewonnen, aber warum fehlt dennoch die Kraft, die Entschiedenheit, die Frucht dieses Glaubens? Es ist nicht zu zweifeln: ein wesentlicher Grund hiervon liegt darin, daß die Gnadenmittel unsrer Väter uns nicht mehr das sind und das gelten, was sie den Vätern gegolten haben. - Obenan unter diesen Gnadenmitteln stand ihnen das Wort Gottes, darin lebten und webten sie, der Buchstabe der Schrift war in Kopf und Herz übergegangen, die Hausbibel war das Hausbuch, auf ihren ersten Blättern las man die Geschichte der Familie eingeschrieben und jede solche Familiengeschichte als einen Commentar zu dem ewigen Worte Gottes. Alles andere ließen sie bei Religionsdruck und Verfolgung eher sich entreißen, nur ihre Bibel nicht. Und wem sollte „die Schrift von Gott eingegeben“ nicht das köstlichste Gut seyn, der da glaubt, was der Apostel spricht, daß sie „nütze ist zur Lehre, zur Strafe, zur Besserung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit. daß durch sie der Mensch ein Mensch Gottes werden kann, vollkommen zu allem guten Werke geschickt?“
Es war nur der Schatten des Zukünftigen, den die Frommen des alten Bundes an ihrem Worte Gottes hatten, so weit es ihnen geoffenbart war, und dennoch wie hoch haben sie es gehalten! Es war vorzugsweise nur Gottes Gesetz und Forderung, wenngleich auch die Verheißung schon daneben gestanden hat, und dennoch, wie viel hat es ihnen gegolten! Das wollen wir in unserer heutigen Erbauung erkennen, indem wir die Worte des 19. Psalms beherzigen, welcher also lautet:
Psalm 19.
„Die Himmel erzählen die Ehre Gottes, und die Veste verkündiget seiner Hände Werk. Ein Tag sagt es dem andern, und eine Nacht thut es kund der andern, es ist keine Sprache noch Rede, da man nicht ihre Stimme höre. Ihre Schnur gehet aus in alle Lande, und ihre Rede an der Welt Ende; er hat der Sonne eine Hütte in denselbigen gemacht; Und dieselbige gehet heraus, wie ein Bräutigam aus seiner Kammer, und, freuet sich wie ein Held, zu laufen den Weg, Sie gehet auf an einem Ende des Himmels, und läuft um bis wieder an dasselbe Ende; und bleibet nichts vor ihrer Hitze verborgen. Das Gesetz des Herrn ist ohne Wandel, und erquicket die Seele. Das Zeugniß des Herrn ist gewiß, und macht die Albernen weise. Die Befehle des Herrn sind richtig, und erfreuen das Herz, Die Gebote des Herrn sind lauter, und erleuchten die Augen. Die Furcht des Herrn ist rein, und bleibet ewiglich. Die Rechte des Herrn sind wahrhaftig, allesammt gerecht. Sie sind köstlicher, denn Gold und viel feines Gold; sie sind süßer, denn Honig und Honigseim. Auch wird dein Knecht durch sie erinnert; und wer sie hält, der hat großen Lohn. Wer kann merken, wie oft er fehlet? Verzeihe mir die verborgenen Fehler. Bewahre auch deinen Knecht vor den Stolzen (d. i. vor den Sünden des Hochmuths), daß sie nicht über mich herrschen; so werde ich ohne Wandel seyn und unschuldig bleiben großer Missethat. Laß dir Wohlgefallen die Rede meines Mundes, und das Gespräch meines Herzens vor dir, Herr, mein Hort und mein Erlöser.“
Was für einen Schatz an Gottes Wort eine fromme Seele hat, das wollen wir an diesem Gespräche Davids mit Gott erkennen. Erstens: das Wort Gottes verklärt einer frommen Seele die ganze Welt und macht auch die Natur zu einer Predigt Gottes; zweitens: es giebt ein gewisses Zeugniß der Wahrheit und dadurch allen unsicher schwankenden Herzen eine selige Gewißheit; drittens: es giebt das Gefühl eines ewigen Besitzthums und die innerste Herzensbefriedigung; viertens: es führt in die Hölle der Selbsterkenntniß hinein, aber auch aus dieser in den Himmel der Gotteserkenntniß hinauf.
Es verklärt das Wort Gottes einer frommen Seele die ganze Welt und macht auch die Natur zu einer Predigt Gottes.
Aus zwei Theilen ist dieses Loblied Davids zusammengesetzt. Der erste preist die Predigt', die herabschallt vom Dome des Himmels, wenn die Sonne aufgeht in ihrer Pracht, die andere rühmt die Predigt im Worte des Gesetzes, in den Rechten des Herrn und in seinen Zeugnissen. Seht wie demnach der Inhalt dieses Psalms uns in einem unsrer Bedenken beschämt, einem Bedenken namentlich jugendlicher Gemüther. Will es einem nämlich nicht manchmal bedünken, als gebe es keine unvereinbareren Gefühle als die, welche hier in den steinernen Domen erwachen bei einem „O Haupt voll Blut und Wunden,“ neben den Altären mit dem schwarzen Kreuze, bei der Predigt von der Selbstverleugnung, Buße und Kreuzesnachfolge, und die, welche in uns erwachen, wenn wir von Wald und Höh' ins tiefe Thal hinabblicken in die lachenden Schmuckkammern der Natur? Geht's nicht namentlich jugendlichen Gemüthern so, daß der Gott der Natur und der der Bibel ihnen ein so ganz verschiedener erscheint, daß sie über der Natur die Kirche des Herrn und über der Kirche des Herrn die Natur aufgeben zu müssen meinen? Dort in der Natur, wie es scheint, die Predigt, daß Natur und Mensch noch herrlich wie am ersten Schöpfungstage, hier in der Kirche die Predigt von einer gefallenen Menschheit, welche die Natur mit in ihren Fall hineingezogen, in den Zustand „der Knechtschaft und der Eitelkeit. von dem Paulus spricht. Dort nur die Offenbarung des Reichthums und der Liebe, hier neben der eines allerdings auch erbarmenden und liebenden, doch auch die eines heiligen Gottes, der „ein verzehrendes Feuer ist seinen Widersachern“. So sehr hat es den Anschein, daß Gottes Wort in der Natur und Gottes Wort in der Bibel wider einander klingen. Für David nicht also, für David hat der Lobgesang Gottes in der Natur am Worte Gottes seine Fortsetzung. Die Ehre Gottes, welche die Himmel erzählen, findet er auch wieder in Gottes Rechten und Geboten. Und in der That, das Wort Gottes in der Schrift es ist auch der zweite Band des Buches seiner Offenbarung, der erst den Schlüssel enthält zu dem ersten Bande, zu dem Buche der Natur. Mit diesem Schlüssel muh an das Buch der Natur herantreten, wer sie ohne Mißverstand verstehen will. Zuerst, daß wenigstens der Mensch eine gefallene Kreatur, legt davon nicht auch die Natur ein Zeugniß ab? Denn jene heilige Wehmuth, die uns überfällt, so oft wir still und gesammelt ihrer Harmonie gegenüberstehen, ist sie nicht das stärkste Zeugniß, daß ihre Harmonie nicht die unsres eignen Herzens ist? Und ferner, wenn ihr euch dagegen sträubt, was die Schrift sagt, daß der Mißton, der durch des Menschen Herz geht, seit er eine gefallene Kreatur ist, auch durch die Natur sich hindurchgezogen habe - sind es denn bloß die Scenen der Harmonie und des Friedens, welche die Natur vor unser Auge stellt oder zeigt nicht auch sie uns einen verborgenen zerreißenden Mißton, wenn sie in Sturm und Ungewitter, in Erdbeben und Feuerspeienden Bergen die zerstörenden Kräfte offenbart, die sie in ihrem Schoße birgt? Wie auf der andern Seite - trotz des unleugbaren Zwiespalts der menschlichen Natur - doch auch diese des Friedensschimmers nicht ganz entbehrt, und wir vor dem tiefen Frieden im Antlitz des schlummernden Säuglings mit Entzücken stehen können. Ihr macht weiter der Schrift zum Vorwurf, daß der Gott, der „ein verzehrendes Feuer“ ist, nur in ihr, nicht in der Natur zu finden sei? ihr denkt abermals nur an die Scenen, wo die Natur in Frieden liegt, aber nicht an die wo sie sich mit den Kräften der Zerstörung wappnet. Gerade umgekehrt, sind nicht die zerstörenden Kräfte der Natur, wenn sie so ohne Wahl und ohne Unterschied von Gerechten und Ungerechten über den Sterblichen hereinbrechen, wenn dort der Blitzstrahl das Haus des Frommen entzündet und das des Verbrechers verschont, wenn hier eine betende Gemeinde vom Erdbeben verschlungen wird und dort ein Missionsschiff von der brandenden Woge - ich sage, sind es nicht vielmehr die zerstörenden Kräfte des Gottes der Natur, durch welche Unzählige an dem im Evangelium geoffenbarten erbarmungsreichen Vater Jesu Christi irre werden? Ein verzehrendes Feuer ist Gott nach der Natur wie nach der Schrift, nur ist diese es, die ihn uns als den heiligen offenbart und damit verkündigt, welche das sind, denen seine Flammen verderblich werden- mag es noch so oft anders scheinen, wie's das Ende zeigen wird, doch nur seinen Widersachern.
Wohlan denn, so laßt uns das Buch der Natur aus dem Worte Gottes deuten, dann aber auch mit David bekennen, daß es nur ein und dieselbe Predigt der Ehre ist, derselben Heiligkeit und Liebe Gottes, die im Buche der Natur zu tönen anfängt und im Buche der Schrift sich fortsetzt.
Ein reicher Herr ist unser Gott geheißen: seine Mannichfaltigkeit macht seinen Reichthum offenbar. Mannichfaltig ist er in den Zeugnissen, seines Wortes, bald tönt der Donner seines Gesetzes uns entgegen, bald lockt uns die süße Stimme seiner Verheißungen. Jetzt spricht er in Gleichnissen, wie das Volk redet, jetzt in Psalmen und geflügelten Sprüchen, bald durch Könige und Patriarchen, bald durch Zöllner und Fischerleute. Derselbe Reichthum seiner Mannichfaltigkeit in seinen Offenbarungen in der Natur: auf der Erde unendlich bis zu den verborgensten Moosen, am Himmel unendlich bis zu den entferntesten Milchstraßen, majestätisch in der Nacht und majestätisch am Tage. Da schaut David im 8. Psalm seinen Nachthimmel an und steht voll Andacht, wenn er den Mond steht und die Sterne, das Werk, das seine Finger bereitet haben; hier steht er versenkt in die Wunder seines Tageshimmels, des lichten Firmaments, der krystallenen Veste, die auf unsichtbaren Säulen ruht, des Kunstwerkes seiner Finger.
Es ist eine Traditionskette, die gar nicht abreißet; wie Tag und Nacht nicht abreißen, so wird die Kunde seiner Majestät von einem Tage dem andern überliefert, von einer Nacht an die andere. Eine Predigt ist's, die über die ganze Erde schallt, deren Schnur, wie wir in unserm Text lesen, d. i. deren Saitenspiel bis an der Welt Ende geht, denn wo wäre ein Volk, dem nicht beim Anschauen der Lichter, die aus einer fernen verborgenen Welt ihren Glanz auf die Erde herabsenden, eine Ahnung aufgegangen wäre von Gottes unsichtbarem Wesen, seiner ewigen Kraft und Gottheit - nur daß sie an dem, der sie so herrlich angezündet, den Ehrenraub begangen haben, statt seiner des Schöpfers nur das Geschöpf anzubeten. „Keine Sprache und keine Rede ist, da man nicht ihre Stimme höret:- wo irgend menschliche Sprache ist, da vernimmt man auch Zeugnisse dieser Majestät, Gesänge und Loblieder - nur daß sie ach! diesen majestätischen Zeugen von Gottes Allmacht gebracht werden, statt ihm selbst, von dessen unsichtbarem Wesen sie dem Menschen ein Zeugniß geben sollten. So nämlich ist der an dem Sichtbaren allein haftende sinnliche Mensch, daß dieser erste Theil der Offenbarungen Gottes doch vor seinen Augen eine unleserliche Schrift bleibt, so lange nicht der andere Theil der Offenbarungen in seinem Worte hinzu. kommt und eine unmißdeutbare Erklärung hinzuthut. Blickt nur um euch herum: sehet ihr nicht auch unter der Christenheit Tausende, denen bei ihrer überschwänglichen Bewunderung der Natur, so lange sie das Wort Gottes in seiner Offenbarung verschmähen, diese sichtbare Natur Gott mehr verhüllt, als offenbart?
Ganz besonders bleibt aber der Jünger vor dem hehrsten der himmlischen Zeugen stehen, dem Gestirn des Tages - nicht um das Geschöpf zu bewundern, sondern den, der es so wunderbar gemacht hat, der - wie die heilige Schrift sagt: „seine Sonne aufgehen läßt über die Gerechten und Ungerechten“. Ist sie doch ein rechtes Bild von dem, der sie gemacht hat, so allumfassend, so allgegenwärtig mit ihrem Segen, mit Licht und Wärme, gleichwie er „Von einem Ende des Himmels läuft sie bis zu dem andern, und bleibt vor ihrem Licht und ihrer Wärme nichts verborgen“ - was sich ihr nicht von selbst entziehen will. Mögen gleich die Nachtgestirne in ihrer Unendlichkeit das Gemüth mit noch unaussprechlicheren und unermeßlicheren Ahnungen füllen, so ist es doch nur die Unermeßlichkeit unseres Gottes, die sie uns predigen, während das Tagesgestirn mit seinem Lichte und seiner Wärme der Prediger seiner all. umfassenden und segnenden Liebe ist. Ist nicht die Sonne recht eigentlich wie ein Abgesandter und Vertreter des unsichtbaren Gottes an den Himmel gestellt? Und wie dieser unsichtbare Liebesgott mit jedem Tage aufs neue über uns aufgeht, Segen und Gnade unter seinen Fittigen, ohne ärmer zu werden, wie viel er auch seit Jahrtausenden ausgegeben hat, und immer auf neue zu segnen bereit, wie viele ihn auch verschmähen, also geht auch sein Himmelszeuge kraftvoll als ein Bräutigam aus seiner Kammer voll Freude, seinen Weg zu laufen als ein Held: kommt der Abend, so ist ihm eine Hütte bereitet, und bricht der Morgen wieder an, so tritt auch er seinen Weg aufs neue an, Heil und Segen unter seinen Fittigen.
So preist David die Ehre seines Gottes, seine Heiligkeit und Liebe nach dem Buche der Natur, das ganze Gewicht aber seines Lobes fällt auf den zweiten Theil seines Psalms, auf das Lob des geoffenbarten Wortes Gottes, und dies schon darum weil es eben der Schlüssel ist zu dem ersten Bande der Offenbarungen Gottes. An dem Worte Gottes in der Schrift zeigt er nun zuerst, daß es ein gewisses Zeugniß der Wahrheit giebt, und dadurch allen unsichern schwankenden Herzen eine selige Gewißheit. Das Zeugniß des Herrn ist gewiß und macht die Albernen weise, die Gebote des Herrn sind lauter und erleuchten das Auge. „ Wenn nun ein Mensch das am heiligen Worte Gottes preisen soll, daß es ein gewisses Zeugniß giebt über Gottes Willen und Wesen, so setzt das freilich zunächst Menschen voraus, die gern anbeten möchten und - bei allen Offenbarungen der Natur - doch nicht wissen wen, die gerne Opfer bringen möchten und wissen nicht was. O eine größere Schmach dieses Geschlechts kann nicht gedacht werden als dieser Mangel an Sehnsucht nach einem gewissen und festen Gottesworte! Der Heide Porphyrius in seiner Zeit verfaßte eine Sammlung von Orakelsprüchen diesen dunklen und zweideutigen angeblichen Offenbarungen der Gottheit - und schreibt denselben vor: Welchen Werth diese Sammlung habe, werden diejenigen erkennen, die in langer Nacht der Zweifel nach einem gewissen Worte der Gottheit gesucht haben. Solche Sehnsucht nach gewisserem Zeugniß Gottes als Natur und Gewissen geben könne, setzt Moses voraus, wenn er zu seinem Volke spricht: Nun brauchst du nicht mehr zu sprechen: wer soll in den Himmel, wer soll übers Meer fahren - nämlich um mir ein sichres und gewisses Gottes Wort zu bringen. Das Wort ist nahe in deinem Munde und deinem Herzen, daß du darnach thuest. In einem so gebrechlichen Leben, welches einer ewigen Stütze so bedürftig ist, unter den unsichern und sich bekämpfenden menschlichen Meinungen über des Menschen Aufgabe und Ziel und über den Grund seiner Hoffnung: wie ist es möglich so sicher und unbekümmert auch ohne ein festes Wort Gottes dahinzugehen? Euch, denen der Himmel mit seinen Gütern unsicher ist, werden nicht auch die Schritte, die ihr auf Erden thut, damit unsicher - wie geschrieben steht: „Ein Zweifler ist unbeständig in allen seinen Wegen?“ Woher die unwandelbaren Gesetze für Leben und Handeln nehmen, wenn es kein untrügliches Gottes Wort giebt? Das hat David erkannt wenn er preist: „Das Zeugniß des Herrn ist gewiß, es macht die Albernen weise; die Gebote des Herrn sind lauter und erleuchten das Auge“.
In diesem Gefühl der innern Sicherheit, die Gottes Wort giebt, liegt auch ein Gefühl von seiner Ewigkeit, wie dies David in den folgenden Worten ausspricht:“ die Furcht des Herrn ist rein und bleibet ewiglich, die Rechte des Herrn sind wahrhaftig, allesammt gerecht. Ja das Wort Gottes giebt das Gefühl eines ewigen Besitzthums und der innersten Herzensbefriedigung. Wenn auch nicht allen von euch, etlichen doch wird es verständlich seyn, wenn ich sage: es giebt Worte, denen man es abfühlt, daß es solche sind, die über allen Wechsel erhaben und für alle Zeit und Ewigkeit gelten. Ein solches Gefühl bekommt man bei Gottes Wort, und das ist sein unterscheidender Charakter von allem Menschenwort. Wenn Petrus dort zum Heiland spricht: „du hast Worte des ewigen Lebens“ so will er allerdings sagen: „die das ewige Leben verschaffen“ aber darum eben glaubt er dies, weil er das ewige Leben schon darin geschmeckt hat. Was David von dem Worte des Herrn gesprochen, dasselbe sagt er auch von der Frucht des Wortes Gottes aus, er spricht: „die Furcht des Herrn ist rein“. Es ist ja nämlich eben der Geschmack des Wortes Gottes, es ist das Leben, das es in der Seele erweckt, woraus das Zeugniß der gläubigen Seele beruht, daß es in sich selbst ewig und über allen Wechsel erhaben seyn müsse. Wer es inne geworden, daß durch dieses Wort ein ewiges Leben in seine Seele hineingeboren worden, dem ist auch die Ewigkeit dieses Wortes selbst gewiß, wie Petrus spricht: „als die da wiederum geboren sind nicht aus vergänglichem sondern aus unvergänglichem Samen, nämlich aus dem lebendigen Worte Gottes, das da ewiglich bleibet“.
Wer nun gewiß geworden, in diesem Worte ein ewiges Besitzt h um erlangt zu haben, wie sollte der nicht die innerste Herzensbefriedigung darin finden? Sie sind köstlicher, ruft daher der Psalmist, denn Gold und viel feines Gold, süßer denn Honig und Honigseim. Dem Golde vergleicht der Psalmist jene Wahrheiten zuerst, weil er sie so köstlich, so erhaben und so inhaltsreich findet. Hätte er nichts Anderes daran zu rühmen, so wäre dies indeß lange noch nicht genug. O es giebt eine intellektuelle Bewunderung der Bibel und ihrer Wahrheiten, an der manche sich schon genügen lassen und diese Bewunderung als das Zeugniß ihrer Jüngerschaft ansehen; wie leicht kann dies namentlich dem in seinem Herzen von der Religion nur oberflächlich berührten, aber tiefsinnigeren Jünglingsgeiste widerfahren, wenn ihm in dem einst von ihm verachteten Bibelworte ungeahnete Tiefen des Gedankens sich aufgeschlossen haben. Ihr Theologen, euch ist wohl aber nicht unbekannt, was Augustin von der Zeit schreibt, wo ihn die platonischen Ideale entzückten, während sein Leben sich noch im Kothe der Sünde wälzte – „ich war“, schreibt er, „wie einer, der entzückt aus der Tiefe zu herrlichen grünen Anhöhen hinaufblickt und sich daran ergötzt, während der Fuß zu träg ist, um die Berge hinan zu klimmen“. Nicht bloß die Köstlichkeit und Erhabenheit der göttlichen Wahrheit müßt ihr bewundern, den süßen Geschmack derselben müßt ihr aus Erfahrung zu rühmen im Stande seyn. Der rechte Theologe und der rechte Christ, das ist derjenige, der mit dem Psalmisten vom Worte Gottes rühmen kann: „Ein Herzenslabsal ist es, süßer denn Honig und Honigseim.“ Wie jener Christenjüngling, den man einst fragte, woran er es erkennte, daß er wiedergeboren sei und der zur Antwort gab: daran, daß dieses Buch der Bibel, das mir einst das unschmackhafteste deuchte, mir schmackhafter als alle Bücher der Welt geworden, daran, daß als ich mich noch nicht selbst erkannte, ich die Bibel verachtete und je mehr ich die Bibel erkannte, desto mehr mich selbst verachten mußte. - Was uns nun aber Wunder nehmen kann - wenn ein David welcher, wie die Worte zu lauten scheinen, doch nur die Gebote und ewigen Rechte Gottes hat, die Offenbarungen des fordernden Willens Gottes, nicht aber des schenkenden und gewährenden, welcher den Vater noch nicht hat, der seinen eingebornen Sohn für uns dahingegeben - wie dieser Mann Gottes auf der Stufe seiner Erkenntniß die Süßigkeit seiner ewigen Rechte rühmen und preisen kann. Nun, meine Freunde, wer mit rechtem wahrhaftigem Herzen eindringt in die göttlichen Gebote, für den giebt's ja einen Wohlgeschmack derselben, selbst wenn er sich gestehen muß, sie vielfach zu übertreten und darum dem Fluche verfallen zu seyn, welcher auf der Uebertretung steht. Man fühlt darin etwas in sich selbst so Großes, so Ewiges, so Unwiderlegliches, daß man einen Geschmack daran nicht verläugnen kann, selbst wenn man sich dadurch gerichtet' und verdammet fühlt. Indeß stand ja auch schon im alten Bunde neben dem Gesetze die Verheißung. Als der Herr vor dem Angesichte Mosis vorübergeht und seinen Namen vor ihm predigt, wie lautet derselbe? Herr Gott barmherzig und gnädig, geduldig und von großer Güte und Treue. - Auch solche Zeugnisse des Herrn haben wir daher mit einzubegreifen, wenn unser Text rühmt: „das Zeugniß des Herrn ist gewiß und macht die Albernen weise.“
Kann unser Auge so viel Herrlichkeit im Worte Gottes nicht erkennen, sieht es darin noch so viel dunkle Stellen, so machts nur weil noch so viele dunkle Stellen in unsern eignen Herzen sind, weil wir nach einer Offenbarung Gottes noch nicht genug Verlangen tragen. So muß also das erste Geschäft des Wortes Gottes seyn uns das Auge über uns selber aufzuthun, und der Anfang, woran ein Gott suchender Mensch inne wird, daß hier Gottes- und nicht Menschenwort zu ihm spreche, das ist gerade das Licht, welches die Schrift auf die dunklen Stellen unsres eignen Herzens wirft. Dabei nun bleibt auch David am Schlusse seines Psalms verweilend stehen. Es führt das Wort Gottes in die Hölle der Selbsterkenntniß hinunter, damit aber auch in den Himmel der Gotteserkenntniß hinauf. Auch wird dem Knecht durch dieselben erinnert. spricht er. Q woran wird der Mensch nicht Alles erinnert, wenn er mit einem vom heiligen Geist aufgeschlossenen Herzen auf Gottes Wort merkt! Nur von einer Erinnerung spricht unser Text an schon bekannte Wahrheiten. Vieles was, wenn ich zum Worte Gottes hinzutrat, mir darin aufgeschlossen wurde über mich selbst, war mir allerdings durchaus neu, vieles aber auch in der That nur eine tiefgreifende Erinnerung, denn- die vorbereitende Gnade hatte schon treulich au meinem Herzen gearbeitet, noch ehe ich ernstlich auf das Wort Gottes merkte. Wenn es mir nun von meiner Tugend sprach als von einem befleckten Kleide, von meinem Herzen als einem trotzigen und verzagten Dinge, wenn es mich erinnerte, daß der Gott, den meine Lippen bekannten, wir doch eigentlich nur ein fremder und unbekannter Gott sei - fremd war mir das eigentlich alles nicht, aber ich hatte es mir nicht zu Herzen gehen lassen. Seitdem aber Gottes Wort mir diese Wahrheiten vorhielt, wie singen diese Wahrheiten seitdem in göttlichem Feuer zu brennen an, wie traten alle in den Wind geschlagenen Warnungen und Mahnungen von Eltern, Lehrern, Freunden und von dem eignen Gewissen, alle wissentlichen und unwissentlichen Verleugnungen meines Gottes, mit Klarheit vor mein Auge! Erschrocken wurde ich dabei inne, wie viel mir auch jetzt noch von mir selber verborgen seyn möchte. Nun rufe ich mit David: „Wer kann merken wie oft er fehlet, verzeihe wir auch die verborgenen Fehler!“ Nun fürchte ich mich vor nichts mehr als vor dem Betruge der Selbstverblendung, wenn man schon etwas zu seyn meint und auf die Andern herabblickt, wie es auch David thut, wenn er betet: „bewahre deinen Knecht vor den Stolzen“ - nicht den stolzen Menschen meint er hier, er meint die Versuchungen des Stolzes – „daß sie nicht über mich herrschen“. Seht da das Zeugniß, wie weit ihn das Wort Gottes in der Selbsterkenntniß gefördert hat, auch vor großer Versuchung hält er sich nicht für sicher, wenn nicht der Herr seine Hand über ihm hält. Wer recht vom Worte Gottes unterwiesen ist, thut so tiefe Blicke in das eigne Herz, daß er ganz Nein wird, daß er in keinem Stücke mehr sich selbst vertraut, daß er den Feind der Seelen fortwährend an sich geschäftig weiß. Dies völlige Mißtrauen in sich selbst bei einem vollen und ganzen Vertrauen auf die göttliche Gnade, das ist die letzte und reifste Frucht der Unterweisung im göttlichen Worte. Auf ein solches Gebet kann der Glaube das Siegel drücken: „Laß dir wohlgefallen die Rede meines Mundes und das Gespräch meines Herzens vor dir, mein Herr, mein Hort und mein Erlöser.“ Ja ein solches Lobgebet wie dieses hat das Amen schon in sich.
O liebe Christen, wenn schon David so große Dinge von dem Worte Gottes hat zu rühmen gewußt, wie viel mehr sollten wir davon zu rühmen wissen, denen der ganze Gnadenrathschluß Gottes unverhüllt vor Augen liegt. Ihr, die ihr immerfort nur Anfänger im Glauben bleibt, weil ihr immerfort nur Anfänger in der heiligen Schrift bleibt, wollt ihr euch denn nicht reizen und locken lassen durch solche Zeugnisse von der Herrlichkeit, von der Hoheit, von der Wahrheit, von der Süßigkeit des Wortes Gottes, wie wir hier eines vernommen haben? Welche Erfahrungen sind noch für euch aufbehalten, welche noch unerkannte Quellen der Kraft können noch für euch aufgehen! „Solches so ihr's wisset, selig seid ihr, wenn ihr's thut“. Amen.