Inhaltsverzeichnis

Theremin, Franz - Die Zeiten unter Christi Leitung.

Am ersten Sonntage des Jahres 1829.

Epistel an die Hebräer, 13,8
Jesus Christus, gestern und heute, und derselbe auch in Ewigkeit!

Der Mensch weiß eigentlich niemals, wohin er seinen Blick wenden soll, ob auf die Vergangenheit, ob auf die Zukunft, oder auf die Gegenwart; denn denkt er an die Vergangenheit, so erfüllt sie ihm mit Trauer und Gram; denkt er an die Zukunft, so erweckt sie in ihm Furcht und Besorgniß; denkt er an die Gegenwart, so fühlt er sich durch sie gedrückt und beschwert.

Diese Empfindungen pflegen auf das schmerzlichste bei einem Jahreswechsel zu erwachen. Das Jahr, in welches wir uns eingelebt hatten, und das uns als eine ausgedehnte Gegenwart erschien, reißt sich von uns los, und rollt zurück in die Vergangenheit, deren dunkler Schooß sich gleichsam aufthut, um uns so viel begrabene Freuden, und noch mehr begangene Sünden zu zeigen. Mit dem neuen Jahre ist die Zukunft, die wir von uns entfernt zu halten suchten, uns plötzlich nahe getreten; wider Willen werden unsere Gedanken bis an das Ende dieses vor uns liegenden Zeitabschnittes fortgerissen, und wir fragen nicht ohne Besorgniß: was, wenn er nun abgelaufen seyn wird, was dann aus unsern Angelegenheiten, unsern Umgebungen, aus uns selbst wird geworden seyn? Die Gegenwart, in der wir nun den Druck der Vergangenheit und der Zukunft empfinden, wird uns eine Last, die wir abzuwälzen suchen; eifriger noch als sonst stürzen sich die Mehresten von Zerstreuung in Zerstreuung, und beginnen im Taumel ein Jahr, das sie vielleicht ohne die Ihrigen, oder die Ihrigen ohne sie endigen werden.

O Ihr taumelnden, betrübten, geängstigten Menschen, habt Ihr das von mir vorgelesene Wort vernommen: Jesus Christus gestern und heute, und derselbe auch in Ewigkeit? Das ist solch ein Wort wie Gott es nur sprechen kann, und wodurch Er allen Stürmen im Herzen: Schweig und verstumme! zuruft. Jesus Christus gestern und heute, und derselbe auch in Ewigkeit! Also gibt es eigentlich keine Vergangenheit und Zukunft; sondern zusammengefaßt unter dem Einen, der sie alle leitet, bilden die verschiedensten Zeiten nur Eine Zeit, nur eine große, heilige Gegenwart. Dieser Eine nimmt der Vergangenheit ihre Trauer, der Zukunft ihre Schrecken, dem gegenwärtigen Augenblick seine Flüchtigkeit. Die Zeiten stehn unter Christi Leitung; und wir sollen erstlich ihm danken, daß er die Vergangenheit geleitet hat; wir sollen zweitens auf ihn hoffen, weil er auch die Zukunft leiten wird; wir sollen drittens seiner Ehre jeden Augenblick der Gegenwart widmen.

I.

Jesus Christus gestern! Ein langes Gestern! Von dem zuletzt verflossenen Augenblick dehnt es sich aus bis zu dem, wo Himmel und Erde entstanden. In diesem Gestern sind auch die Menschen erschaffen worden, sind abgefallen von Gott, haben sich weit verbreitet über die Erde, von deren Früchten sie sich im Schweiße ihres Angesichtes nähren, und der sie sterbend ihr irdisches Theil zurück geben. In diesem Gestern sind viele Reiche entstanden und untergegangen, haben sich viel große Ereignisse zugetragen, welche die Gemüther durch Freude oder Entsetzen erschütterten, haben unzählige Menschen, sey's gute, sey's böse, gelebt. Uns wird erzählt von den Thaten der Bösen; und wir wenden uns mit Abscheu hinweg; uns wird erzählt von den Thaten der Guten, und wir verweilen zwar gern einen Augenblick bei ihnen, aber auch diese befriedigen uns nicht, weil sie nicht ganz gut, weil sie voller Mängel und Schwächen sind. Trauriges Gestern, düstre Vergangenheit! Traurig und düster, weil das, was du uns zeigst, vergangen, und weil es, da es war, nur so unvollkommen gewesen ist! Doch nein! Es giebt eine Erscheinung in diesem Gestern, auf welcher das Auge mit Begeisterung, mit Entzücken ruht! Unter den vergangenen Tagen und Jahren ist ein Tag gewesen, da ward Christus geboren; sind Jahre gewesen, da wandelte er auf Erden; ist ein Augenblick gewesen, wo Er starb, und wo der Vorhang zerriß, der den Sünder verhinderte Gottes gnädiges Antlitz zu sehn; ist ein Augenblick gewesen, wo Christus von den Todten erstand! O Vergangenheit, wir sind mit dir versöhnt, denn in dir wurden wir versöhnt mit Gott! In dir lebte Christus, und jeder Augenblick seines Lebens war voll von Liebe zu Gott und den Brüdern! Dank ihm, daß er gekommen ist, denn ohne seine Erscheinung wäre dieß sechstausendjährige Gestern nur eine furchtbare Gewitternacht, und nur mit Grausen könnten wir darauf zurückblicken!

Einmal ist er auf die Erde herabgekommen, aber immer hat er das Menschengeschlecht regiert. Dürften wir uns wohl in seinem Namen versammeln und ihn ohne Scheu bekennen, wenn er nicht sein Reich die Jahrhunderte hindurch erhalten und es gegen die Pforten der Hölle geschützt hätte? Ja, sein Werk war immer herrlich, so viel auch die Menschen durch ihre unvollkommenen Werke an seinem heiligen Werke verdorben haben mögen! Er hat immer Licht aus der Finsterniß hervorbrechen lassen, und die, welche treu dem Lichte folgten, die hat er wunderbar geleitet, während er die Widerstrebenden mit eisernem Zepter zerschlug. Dort oben in dem höhern Heiligthum ist Er immer der barmherzige Hohepriester gewesen, der die Bitten der Seinigen dem Vater darbringt, und sie durch die Berufung auf sein Verdienst unterstützt. So viel bußfertige Sünder aus allen Zeiten und Ländern thränende Augen zu ihm erhoben haben, so viele sind begnadigt; so viel willige Herzen ihn gebeten haben, ihre Führung zu übernehmen, so viele sind durch ihn auf den rechten Pfad geleitet und bewahret worden! Alle die unzähligen Todten, die, seitdem es Menschen gibt, gestorben sind, sey's in der Jugend oder im Alter, sey's auf dem Schlachtfelde oder auf dem Krankenlager, oder wo des Lebens Ende sie ereilte, die hat Er, der sie erschuf, Alle, Alle auferwecket; und von diesen hat er alle, die ihn liebten, aus dem trüben Gestern des menschlichen Lebens in das ewige selige Heute des Himmels versetzt. Allmächtig und weise, barmherzig und gnädig hat Er die Jahrhunderte hindurch auf Erden und im Himmel gewaltet.

Und nicht auch über uns? Ach! wir sind kalte Herzen, wollen nur immer genießen und nicht erkenntlich seyn, und beladen von der einen Seite mit den Wohlthaten des Herrn, beschweren wir von der andern unser Gewissen mit Undank gegen ihn. Hier zeigt sich Euch einmal eine Gelegenheit, meine Brüder, in die Vergangenheit zurückzugehen, zu erwägen, wie viel der Herr Euch Gutes erwiesen hat, seine Liebe und Gnade in ihren Wirkungen zu erkennen, und ihm zu danken. Was sind wir denn? Sünder! Was verdienen wir? Daß die Sonne uns scheint, daß die Erde uns trägt, daß ihre Früchte uns nähren? Nein, auch dieß nicht einmal. Und siehe! Der Herr hat uns das, was wir bedurften, oder viel, viel mehr als dieß gegeben; und keinen Einzigen hat er gänzlich verlassen und versäumt. Und das sind noch seine geringsten Wohlthaten! Wie empfänglich hat er nicht dieß Herz bei aller seiner Verderbtheit für die natürlich guten Gefühle der Eltern-, Gatten-, Geschwister-, Kindesliebe gemacht, und wie viel Seligkeit hat er uns nicht in diesen Verbindungen bereitet! O Dank ihm für jeden Vater- und Muttersegen, den wir empfingen; für jede ruhige Stunde, die wir im häuslichen Kreise, im Gefühl gegenseitiger Liebe und göttlicher Gegenwart zubrachten; für jedes frohe, unschuldige Lächeln, das uns von dem Angesichte unserer Kinder entgegenstrahlte. Dank ihm auch für die Sorgen, die Schmerzen, die Angst, welche oft unser Glück unterbrachen: denn wie oft hat er nicht diese Sorgen verscheucht, diese Schmerzen geheilt, diese Angst hinweggenommen, und uns tief dadurch beschämt, daß wir, bei so seltenen Gebeten und so großem Mißtrauen, dennoch von ihm empfingen, was wir wünschten!

Aber wir haben nicht immer empfangen, sondern auch oft verloren; und was wir so innig liebten, so sehnlich zu behalten wünschten, ist uns, trotz unseren Gebeten, entrissen worden. Indem diese Erinnerungen in uns aufsteigen, zieht sich ein dunkler Schleier über unsere Vergangenheit, und unser Auge füllt sich mit Thronen. O Gott, Gott, noch am Anfang des verflossenen Jahres, noch vor wenigen Jahren, wie glücklich waren wir da! Und wie unglücklich sind wir seitdem geworden! Manche, die uns damals umgaben, die uns mit solcher Innigkeit den Segen des Herrn und den Frieden Gottes wünschten, sie reden nicht mehr zu uns, wir hören nicht mehr den Laut ihrer theuren Stimme; erhalten nicht mehr aus der Ferne eine Botschaft ihrer Liebe; gute und böse Tage wechseln wie sonst, aber durch ihre Theilnahme werden weder die einen verschönt, noch die andern erleichtert. Wenn ich hier eine der gewöhnlichsten und auffallendsten Ursachen des Schmerzes erwähnte, so bin ich weit entfernt zu glauben, sie hierdurch alle erschöpft zu haben. Ach! es gibt ihrer so viele, so unsäglich viele; und man vermeidet gern das Geschäft, sie alle aufzuzählen, weil auch dieß eine Ursache des Schmerzes wird. Da gibt es eine Sorge, eine Angst, die das Herz beschleicht, die es faßt, die ihm hin und wieder einen freien Athemzug erlaubt, um es darauf noch fester zusammenzudrücken. Da gibt es Kämpfe, furchtbare Kämpfe, von denen kein Mensch etwas ahndet, welche die Seele allein unter den Augen Gottes bestehen, nicht einmal bestehen, sondern immer fortsetzen muß! Was sollen wir nun diesen Erinnerungen entgegensetzen, die sich wie eine Last auf das Gemüth häufen, es drücken, es herunterziehn? Mit diesem Worte sollen wir ihnen begegnen, das der Prophet, der auf den Trümmern von Jerusalem weinte, gesprochen hat: Die Güte des Herrn ist, daß wir nicht gar aus sind! Es sind Strafen, aber es sind väterliche, gnädige Strafen; wir sollen dabei weniger bedenken, was wir verloren haben, als was uns geblieben ist; weniger, was wir erlitten haben, als was wir nach strenger Gerechtigkeit hätten erleiden müssen. Gegen die unzähligen Qualen des Körpers und der Seele, die wir verdienten - ja, laßt es uns bekennen, daß es eigentlich keine gibt, die wir als sündige Menschen nicht verdienten - was sind die wenigen, die uns getroffen haben? Und auch diese wenigen - wir schauen in das liebende Herz des Herrn hinein und wir erkennen es - auch diese wenigen hat er nur ungern über uns verhängt, nur weil es ihm, ihm selbst unmöglich war, sie uns zu ersparen, nur weil unsre Seligkeit davon abhing. Gerade also für das Allerbitterste, das Allerfurchtbarste werde ihm der innigste und glühendste Dank!

Werfet in diesem Gefühle noch einen Blick, den letzten, auf euer vergangenes Leben; sehet nicht auf Glück, nicht auf Unglück, sondern allein auf die Gnade des Herrn, der durch das eine wie durch das andere, der durch die unzähligen Veränderungen eures innern und äußern Lebens Euch zur Seligkeit vorbereiten und fähig machen will. O der Herr sende uns zu dieser Betrachtung das Licht seines Geistes, daß wir das Werk, das er im Dunkeln und Verborgenen in unserer Seele unablässig getrieben und fortgesetzt hat, erkennen mögen! Erinnert Ihr Euch jener Tage, jener Nächte, wo er so gewaltig anklopfte an die Thüre eures Herzens, und Euch niederwarf in dem Gefühl eurer nicht mehr abzuläugnenden Sünden? Erinnert Ihr Euch, wie er mitten in irdischer Süßigkeit geheime, bittre Schmerzen in Euch entstehn ließ, und in Euch eine unabweisbare Sehnsucht erweckte nach höherer Seligkeit? Erinnert Ihr Euch, wie er Euch bald schlug und zerschmetterte, und dann wieder mild und freundlich zog? Erinnert Ihr Euch der unaussprechlichen Ruhe, des alle Vernunft übertreffenden Friedens, den Ihr bei ihm fandet, des neuen und schönen Wiederaufblühens eures schon verödeten Herzens? Erinnert Ihr Euch, wie Er euer Schwanken, euer Hinwegwenden zur Welt und zur Sünde nicht ertrug, wie er dann verworrene Schrecken in Euch erregte, schon für todt gehaltene sündliche Triebe wieder aufleben ließ; aber sogleich, sobald Ihr auf diesen Wogen, wo Ihr unterzugehn fürchten mußtet, ihn anrieft, Euch die Hand reichte, Euch auf das Trockne führte, und zu einer höheren Stufe erhob? O wenn in jener Vergangenheit der Grund zu eurem Heile gelegt, wenn damals der Keim ausgestreut ward, dessen Früchte Ihr ewig genießen werdet - o dann segnet die Vergangenheit mit allen ihren Schmerzen, Thränen und Verlusten; dann preiset den Herrn, der solch ein Wunder an Euch vollbracht hat. Ich sage wenn es geschah. Geschah es denn nicht bei Euch Allen? Vielleicht nicht! Ich richte Keinen; ein Jeder richte sich selbst, wie der Herr ihn lichtet. Und auch derjenige, bei dem es nicht geschah, auch der danke dem Herrn für seine unbenutzten Wohlthaten, für seine vergebliche Arbeit, und vereine sich mit dem, bei welchem sie gefruchtet hat, um zu bekennen, daß der Herr es immer gut gemeint hat, daß Er unser ganzes Gestern hindurch, unser Jesus Christus, unser Heiland, unser gnadenreicher König gewesen ist.

II.

Und wird Er es nicht auch in Zukunft seyn, und in dem Theile der Zukunft, der zunächst vor uns liegt, in dem neu angefangenen Jahre? Manche unter uns, meine Brüder, mögen in dieß neue Jahr eingetreten seyn ungefähr mit eben den Gefühlen, womit Petrus das Schiff verließ und das Wasser betrat, auf welchem der Herr ihm befohlen hatte zu ihm zu kommen: tief aufathmend, und den Boden prüfend, ob er hielte oder zusammenbräche. Denn in diesen neuen Abschnitt ihres Lebens nehmen sie manche unentwickelte Verhältnisse, manche Knoten der Sorge, manche Beschwerden und Lasten, sie nehmen sich selbst, ihr eignes Herz, diese größte und beschwerlichste Last, sie nehmen auch manche theure Güter, geliebte Ueberreste, die sie aus dem Schiffbruch ihres Glückes gerettet haben, mit hinüber. Werden sich diese Verhältnisse entwirren, und wie? Werden diese Knoten sich lösen? Werden diese Lasten ihnen erleichtert werden, oder sie erdrücken? Werden sie an dem eigenen Herzen immer noch so schwer wie sonst zu tragen haben? Werden sie das, was ihnen übrig geblieben ist, behalten, oder ist noch in diesem Jahre ein Tag gesetzt, wo sie auch dieses verlieren sollen? Was können wir auf diese Fragen antworten? Nur dieß Eine: Jesus Christus gestern, und derselbe auch in Ewigkeit! Nur dieß Eine wissen wir; alles Andere ist uns verborgen, aber dieß Eine genügt. Derselbe der Er in jenem Gestern war, wo er unser Schicksal so gnädig geleitet, wo er so viele Berge von Sorgen, die vor und auf uns lagen, versetzt und in das Meer versenkt, wo er so oft unser Herz mit seinem wunderbaren Frieden erfüllt hat; eben derselbe bleibt Er auch, nicht nur dieß angefangene Jahr hindurch, nein, in alle Ewigkeit; bleibt immer unser Heiland, der uns erlöset, unser Hoherpriester, der uns bei dem Vater vertritt, unser König, der uns schützt und regiert, unser Friedefürst, der unsre Seele beruhigt. Immer weiter hinein an seiner Hand in das Dunkel, das wir Zukunft nennen; schon erhellt es sich; immer weiter fort auf diesen Wellen, die sich unter uns bewegen; indem wir neben ihm stehen, wird es ein fester Boden. Man geht sicher, wenn man an der Hand Jesu geht!

Da vernehme ich aber aus eurer Mitte eine ungläubige, zweifelnde Stimme, die fragt: Was soll das eigentlich heißen: Man geht sicher, wenn man an der Hand Jesu geht? Es kann doch nur den Sinn haben: Man ist vor allem Unfall bewahrt. Das aber ist unrichtig, denn die Erfahrungen von Gestern, von jener Vergangenheit, auf welche Du Dich berufst, die beweisen ja eben, daß die Frommsten, die an der Hand Jesu einhergehen, nicht verschont bleiben, ja daß sie oft die Nächsten sind, nicht für die Liebkosungen dieser Hand, sondern für ihre härtesten Schläge. Welche Beruhigung gibt uns also dieser Gedanke? Die große Beruhigung, meine Brüder, daß derjenige, welcher sich durch diese Hand des Herrn führen läßt, vor vielen Sünden bewahrt bleibt, in welche Ihr alle, die Ihr sie nicht ergreifen, Euch nicht von ihr ergreifen lassen wollet, unvermeidlich fallt; daß er also auch bewahrt bleibt vor den äußeren Gerichten und vor der inneren Pein, wodurch die Sünde schon hienieden bestraft wird; daß er auch in jener noch ferneren Zukunft, die mit dem Tode beginnt, keine Strafen zu fürchten hat. Die Beruhigung gewährt der Gedanke an Christi Hand einherzugehn, daß die Leiden, die uns noch in Zukunft treffen können, nicht muthwillig verschuldet, sondern heilsame Erinnerungen sind an die noch zurückgebliebenen Fehler, wirksame Mittel, das Fleisch und die Sünde zu ertödten, unerläßliche Bedingungen unserer Seligkeit. Und wir könnten wünschen, daß sie uns erlassen würden? Nein, so wahr wir unsere Seligkeit wünschen, so wünschen wir auch, daß uns diese Leiden nicht erlassen werden! Aber welche Leiden möchten das wohl seyn? Schweig, neugieriger und vorwitziger Sinn! Brauchst du sie zu kennen? Weißt du nicht, daß Jesus Christus sie kennt? Daß kein Anderer als Er sie über uns verhängen wird? Weißt du nicht, daß eine jede Versuchung, die von ihm kommt, also ein Ende gewinnt, daß wir sie können ertragen? Weißt du nicht, und auch aus eigner Erfahrung, wie er dem Leidenden beisteht und ihn tröstet?

Doch ich traue es Euch allen zu, daß eine andere und höhere Sorge Euch noch mehr bekümmert, als die um euer Glück; dieß ist die Sorge um euer Heil. Der Grund zu demselben ist vielleicht schon gelegt; darum blickt Ihr mit Dank in die Vergangenheit zurück, wo dieß geschah; aber mit diesem Dank verbindet sich wohl ein Seufzer, so daß Ihr mit jenem Lehrer der Kirche in Beziehung auf Christum ausruft: „O du älteste und ewig neue Schönheit, wie spät habe ich dich gefunden!“ Vielleicht sieht Ihr auch noch in weiter Entfernung von ihm. Was sich in der Vergangenheit durch eure Schuld so lange verzögert hat, das soll nun, Ihr wünscht es, in der Zukunft um so schneller fortschreiten; Ihr wollt von Glauben zu Glauben, von Erkenntnis zu Erkenntniß, von Liebe zu Liebe, von Demuth zu Demuth gelangen. Ihr wollt es; wohl Euch! Denn der Herr will es immer; und er erwartet nur euren Willen, um Euch seinen reichen Segen, den mächtigen Beistand seines Geistes zu verleihen. Fühlt Ihr Euch aber auch in der That recht schwach und elend; werft Ihr Euch recht bitter eure früheren Vernachlässigungen vor? Erwartet Ihr von Jesu Christo Beistand, und sonst von Keinem? Wohl Euch! rufe ich dann noch einmal. Denn Er der starb, um eure theure Seele zu erlösen; der auferstand, um Euch alle nach sich zu ziehn in das ewige Leben, der die harte, eiserne Schale, wovon euer Herz umgeben war, schon durch den Ruf seiner Gnade durchbrochen hat, der Keinen zurückstößt, der zu ihm kommt: Er wird auch in Zukunft bald freundlich und bald ernst zu Euch sprechen; er wird Euch ermuntern und wird Euch warnen; er wird Euch erquicken und wird Euch antreiben; er wird Euch geben und wird Euch nehmen; er wird Euch zerschlagen und wird Euch heilen - gerade wie es jedesmal für Euch am Besten ist; und dann werdet Ihr doch am Ende werden, was die Hölle so gern verhindern möchte, und woran euer Unglaube so oft verzagt - sein Ebenbild!

Indem ich in die Zukunft vordringe, - und vielleicht habe ich nicht nöthig, weit darein vorzudringen, - so treffe ich auf ein großes Ereigniß, auf eine gewaltige Veränderung, die uns alle dort erwartet - auf unsern Tod. Wie wird Euch, indem ich dieß Wort ausspreche?

Fühlt nicht ein Jeder unter Euch, und auch der Unglückliche, der sich schon oft den Tod gewünscht haben mag, sein Herz zusammengeklemmt durch den Gedanken: daß auch er einmal sterben, daß einer seiner Athemzüge der letzte seyn, daß alsdann seine irdische Hülle kalt und leblos hinsinken wird? Soll sich euer Herz auf einmal erweitern und mit Freudigkeit füllen? Denkt nur daß die Zukunft mit allen ihren Ereignissen, und auch mit eurem Tode, unter der Leitung Jesu Christi sieht, des Jesu, den Ihr kennt, und daß er sich im Tode gegen Euch erweisen wird, wie er sich im Leben gegen Euch erwiesen hat: gnädig, barmherzig, wenn Ihr für Gnade und Erbarmen empfänglich waret. Er hat Euch Vieles gegeben, wenn Ihr ihn recht dringend und inständig batet: bittet ihn um eine gute Todesstunde; Er wird sie Euch geben. Wann aber ist sie gut? Wenn das Band zwischen Seele und Leib ohne viele Schmerzen getrennt wird? Wenn wir Alles, was uns das Theuerste ist, um uns versammeln können? Wenn wir den Tod herannahen sehen und Zeit gewinnen, denen die wir lieben ein letztes Lebewohl zu sagen, sie mit stammelnder Zunge zum Glauben an Christum zu ermahnen, sie zu segnen? Wenn die Anfechtungen, die auch noch den frommsten Christen beunruhigen können, entfernt gehalten werden, und das Vorgefühl herannahender Seligkeit unsern Geist entzückt? Wohl dürfen wir ihn bitten, daß Er uns einen solchen süßen und herrlichen Tod gewähre; doch sind jene Umstände mehr die Ausschmückung als das Wesen eines seligen Todes; sie können fehlen, und er kam, doch selig seyn. Also nur um das Eine Wesentliche, um das Eine, das hier Noth thut, laßt uns bitten, und recht dringend bitten: Herr, es sey der Augenblick, wo Du unsere Seele abrufst, ein Augenblick der Gnade, wo wir frei sind von irdischen Leidenschaften, ganz am gefüllt von Buße, Glaube und Liebe, wo wir fähig sind zu deinem Lichte überzugehn und es zu ertragen. Darum laßt uns ihn bitten, und er wird es thun; er wird uns abrufen, wenn es die rechte, die beste Zeit ist.

Ich dringe noch weiter vor, und auf welchen Augenblick treffe ich da? Auf den Augenblick, wo meine Seele, getrennt vom Körper, bestürmt von unbekannten Empfindungen, kaum mächtig, die neuen Bilder zu beherrschen, womit die Gegenstände jener höheren Schöpfung sie erfüllen, vor das Angesicht Dessen geführt wird, von dem ich erfahren soll, ob mein Leben hienieden vergeblich und verderblich, oder der Anfang eines höheren Lebens gewesen ist; ob mein Loos ist, ihn ewig zu lieben und ewig zu schauen, oder ewig von ihm entfernt zu bleiben. Ich würde diesen Augenblick dann nicht ertragen - ja ich ertrüge es jetzt nicht, ihn mir so lebhaft zu denken und vorzustellen, wie ich es thue, und wie ich es wünsche, daß Ihr alle es thun mögt - wenn ich nicht wüßte, daß Der, welcher mein Loos für jene lange, unabsehbare Ewigkeit entscheidet, mich selig spricht oder mich verdammt - derselbe ist der für mich starb; derselbe der alle meine Sünden am Kreuze getragen, den am Kreuze nach meiner Seligkeit gedürstet; derselbe der, wenn ich in meiner Angst ihn anrief, mir so manches theure Wort: Euer Herz erschrecke nicht und fürchte sich nicht; Du leitest mich nach deinem Rath und nimmst mich endlich mit Ehren an, zugerufen hat. Derselbe ist es; und wenn ich kraft seines blutigen Todes, kraft seines Verdienstes - o der unendlichen, Alles vermögenden Kraft! - gerettet werden kann - so wird Er mich retten, so wird Er zu mir sagen: Komm und ererbe das Reich! Und was bleibt Er für die Seinigen jene lange Ewigkeit hindurch, die sich vor dem weiter dringenden Blicke immer mehr vertieft und ausdehnt, also daß er ihr Ende nimmer erreichen kann? Derselbe bleibt er, der gesagt hat: Vater, ich will, daß da wo ich bin auch die bei mir seyen, die du mir gegeben hast, auf daß sie meine Herrlichkeit sehen, die du mir gegeben hast. Dieselbe unendliche Liebe bleibt Er, welche die Auserwählten nicht lassen kann; die sich unaufhörlich mit einer Fülle von Freude, von Friede, von Wonne in ihre Seelen ergießt, und ihnen dadurch die Ewigkeit zu Einem seligen Augenblicke macht.

III.

Ist nun Christus in der Vergangenheit der allmächtige, gnädige, barmherzige gewesen, wird er die ganze Ewigkeit hindurch derselbe bleiben, so sey ihm auch das Heute, so sey ihm auch jeder Augenblick der Gegenwart gewidmet! Was in dieser flüchtigen Gegenwart unsere Seele füllt, das sind Bilder des Vergangenen und Vorstellungen, Ahndungen des Zukünftigen. Sollte nun unter allen Bildern der Vergangenheit nicht Der vornehmlich uns beschäftigen, von dem in unserm frühern Leben alles irdische und geistige Gedeihen ausgegangen ist, der uns, ehe wir zu leben anfingen, schon erlöset hat? Ist er es nicht auch, von dessen Gnade wir in jener dunkel vor uns liegenden Zukunft, in jener unabsehbaren Ewigkeit, Heil und Seligkeit erwarten? Ist Er es nicht, den wir dort zu schauen hoffen? Und wir sollten nicht schon jetzt die Blicke unseres Geistes unverwandt auf ihn richten?

Der sehr geliebte Vater einer sehr geliebten Tochter lag im Sterben. Die Tochter saß an seinem Lager in tiefem Schmerze und in unaufhörlichem Gebete. Da bemerkte sie, daß der sterbende Vater die Augen lange und unverwandt auf sie gerichtet hielt. Warum blickst Du mich so an? fragte sie. Ich suche, antwortete er, mir die Züge deines holden Angesichts einzuprägen, auf daß ich dich dereinst um so leichter dort wieder erkennen möge. O der fromme, der treue Vater! Wie! Und uns allen sollte nicht das Bild Jesu Christi noch viel theurer seyn, als ihm das Bild seiner Tochter war? Wir sollten es nicht festhalten vor unserem Geist, und uns seine holden Züge tief einprägen? Wir sollten uns nicht ganz daran gewöhnen, auf daß, wenn wir dereinst in seine Gegenwart gelangen, das Brennen unsers Herzens uns sage: Er ist es!

O wie wird doch unser Geist, der ein stets ruhiger und klarer Spiegel für das Bild Jesu Christi seyn sollte, wie wird er getrübt und befleckt, durch so viele Bilder die sich darin jagen, durchkreuzen, uns versuchen und uns martern! Kaum haben wir am Morgen die Augen dem Lichte des neuen Tags geöffnet, als ihr Schwann auch schon durch alle Thore unsers Innern einzudringen sucht. Um diesen Zauber zu lösen, gibt es ein mächtiges Wort: Es heißt: Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit! Fort von mir Alles, was nicht ewig, was nicht Christus ist! Er gehe an jedem Morgen als die wahre Sonne dem Auge unsers Geistes auf! Bittre Thränen über alle unsre begangenen Sünden, tiefe Demüthigung vor dem verzehrenden Glanze seiner Heiligkeit, feste Zuversicht auf sein unermeßliches Verdienst, dieß Alles werde, als wohlgefälliges Morgenopfer, ihm dargebracht!

Nun, im Namen des Herrn! zu dem Tagewerk, das in einer Geist und Körper ermüdenden Arbeit besieht; hinein in die Bewegung des Lebens, wo man auf Freunde und Feinde, auf Schmeichler und Tadler, auf Viele die fordern und Wenige die danken, treffen wird; entgegen, im Namen des Herrn! dem Glücke, dem Leiden, das der Tag mit sich bringt! Aber nur immer das Auge auf den Herrn gerichtet; nur immer, bei der nothwendigen Beschäftigung mit irdischen Dingen, das Gefühl seiner Nähe bewahrt! Alles werde um Seinet-, nichts um Unsertwillen gethan! In Einfalt, ohne Verstrickung in die Plane weltlicher Klugheit, werde Alles vor seinen Augen berathen und ausgeführt. Arbeit beglücke, Tadel erfreue, unverdiente Schmach erhebe, Freundschaft und Lob beschäme, Leiden demüthige, noch tiefer demüthige das Glück; für Alles werde dem Herrn gedankt!

Nun kommt der Abend. Manchen trifft er froh und manchen traurig; manchen in geselligem Kreise und manchen einsam; manchen dessen Glück gestiegen, und manchen dessen Glück gesunken ist; manchen den der feste Schlaf des körperlichen und geistigen Wohlbefindens, manchen den eine schlaflose Nacht auf einem Schmerzenslager erwartet. Wie dem auch sey, hüllt nur den Geist, und Alles was ihn bewegt, in den Gedanken ein: Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit. Dankt ihm, daß Er so treu geholfen, so liebreich getröstet, so milde gestraft, so reich begnadigt hat; sein Bild schwebe noch vor euren Augen, wenn sie sich schließen, daß Er, während Ihr schlaft, Leib und Seele bewache.

Wohlan! laßt uns hier vor dem Herrn das Gelübde ablegen, daß ein jeder unsrer Tage, so viel Er uns ihrer in dem jetzigen oder in den folgenden Jahren noch schenken wird, mit ihm angefangen, mit ihm durchlebt, mit ihm beendigt werden soll. Wie er über die lange Vergangenheit, über die unendliche Zukunft regieret, so soll Er auch regieren über die Gegenwart, die zwischen Vergangenheit und Zukunft ein fast entschlüpfender Augenblick ist. Aber indem Er über diesen flüchtigen Augenblick herrscht, so tritt derselbe heraus aus dem Strom des Vergänglichen, und wird zu einem Punkte der Ewigkeit. Denn Jesus Christus ist der Unvergängliche, der Ewige; Er ist gestern, heute, Er ist derselbe in Ewigkeit; ist unser Herz ganz ihm geweiht, ganz von ihm durchdrungen, so sind wir dem Wechsel entflohn, und der Unwandelbarkeit theilhaftig geworden. Alles verändert sich zwar, und es ziehn immer neue Gestalten der Dinge an uns vorüber, oder unter uns hin, aber sie werden gesendet von Dem, der alle Zeiten unter seiner Regierung begreift, und sie stören nicht die Einheit eines Lebens, das ihn gefunden hat. Das Herz ist dann nicht mehr zusammengepreßt zwischen Vergangenheit und Zukunft; nicht mehr mit Trauer der Erinnerung und mit Schrecken der Ahndung erfüllt; sondern es erweitert sich in dem Gefühl, daß alle zu den verschiedensten Zeiten ausgegossenen Segnungen auch ihm bestimmt sind. Dann geht es endlich über von der Zeit in die Ewigkeit, - ein gewaltig schneidender Abstand, der aber von dem kaum gefühlt wird, der schon in der Zeit wie in der Ewigkeit gelebt hat.

Diesen Entschluß, uns ganz Christo zu weihen, lasset uns heute fassen. Heute! Was liegt denn in dem Worte so Wohlthuendes, Erfreuliches, das den Worten Zukunft und Vergangenheit fehlt? Das liegt darin, daß heute eine Gnadenzeit bedeutet: daß, so lange es heute heißt, noch Alles gehofft, an nichts gezweifelt werden darf; während eine solche Gnadenzeit vielleicht in den früheren Tagen nicht benutzt ward, und in den künftigen vielleicht nicht wiederkommen wird. Ach schon so manches Jahr hat für uns begonnen; und immer, zumal im Anfang desselben, erging an uns durch äußere oder innere Stimmen die Mahnung: Entsage dem Dienst des vergänglichen Wesens, und bringe Dich mit Leib und Seele Christo zum Opfer dar! Aber wie bald war diese Mahnung durch das Geräusch des gewöhnlichen Lebens übertönt! Siehe! nun heißt es wiederum heute; nun beginnt wieder ein Jahr; nun ertönt dieselbe Mahnung unserm Herzen. O heute so Ihr die Stimme des Herrn hört, so verstockt eure Herzen nicht! Ihr hört sie heute: werdet Ihr sie morgen hören? Eure Gnadenfrist wird verlängert; wie lange wird sie dauern? Der göttliche Beistand wird Euch reichlich dargeboten; o nehmt ihn an, denn wie bald ist nicht vielleicht die himmlische Quelle, so reichlich sie für Andere fließen mag, vertrocknet für Euch! Wißt Ihr denn, ob Ihr noch oft am Anfange eines Jahres Heute werdet sagen können; oder ob die Jahre, die noch kommen, für den, der immer den Geist Gottes betrübt hat, zum Segen oder zum Fluche kommen werden?

O Jesus Christus, der Du Gestern, unser vergangenes Leben hindurch, gnädig, barmherzig, geduldig, voll großer Gnade und Treue gewesen bist, der Du es auch in alle Ewigkeit seyn willst, o sey es auch heute! Mache uns den heutigen Tag zu einem Gnadentag, wo wir deine Stimme hören und nicht unsre Herzen verstocken, wo wir in Dir leben, und Du in uns selbst lebst. Ein solches Heute, ein solcher Gnadentag sey uns ein jeder Tag dieses Jahres, jeder, wo wir hier zusammenkommen, um dein Wort zu hören; jeder, den wir in dem Berufe, den Du uns gegeben hast, zu bringen. Ein solches Heute, ein solcher Gnadentag sey und auch der, wo Du uns von hier abberufen wirst, er mag nun durch die späteren Jahre, oder schon durch das jetzige herbeigeführt werden! Amen.