Inhaltsverzeichnis

Theremin, Franz - Der verlorene Sohn.

Evangelium Luca, K. 15. V. 11-24.
Und er sprach: Ein Mensch hatte zween Söhne. Und der jüngste unter ihnen sprach zum Vater: Gib mir, Vater, das Theil der Güter, das mir gehöret. Und er theilete ihnen das Gut. Und nicht lange darnach sammelte der jüngste Sohn alles zusammen, und zog ferne über Land; und daselbst brachte er sein Gut um mit Prassen. Da er nun alles das Seine verzehret hatte, ward eine große Theuerung durch dasselbige ganze Land, und er fing an zu darben. Und ging hin, und hängete sich an einen Bürger desselbigen Landes, der schickte ihn auf seinen Acker, die Säue zu hüten. Und er begehrete seinen Bauch zu füllen mit Trabern, die die Säue aßen; und Niemand gab sie ihm. Da schlug er in sich, und sprach: Wie viele Tagelöhner hat mein Vater, die Brot die Fülle haben, und Ich verderbe im Hunger. Ich will mich aufmachen, und zu meinem Vater gehen, und zu ihm sagen: Vater, ich habe gesündigt in dem Himmel, und vor dir, und bin hinfort nicht mehr werth, daß ich dein Sohn heiße; mache mich als einen deiner Tagelöhner. Und er machte sich auf, und kam zu seinem Vater. Da er aber noch ferne von bannen war, sahe ihn sein Vater, und jammerte ihn, lief und fiel ihm um seinen Hals, und küssete ihn. Der Sohn aber sprach zu ihm: Vater, ich habe gesündigt in dem Himmel und vor dir; ich bin hinfort nicht mehr werth, daß ich dein Sohn heiße. Aber der Vater sprach zu seinen Knechte: Bringet das beste Kleid hervor, und thut ihn an, und gebet ihm einen Fingerreif an seine Hand, und Schuhe an seine Füße; und bringet ein gemästet Kalb her, und schlachtet es, laßt uns essen und fröhlich seyn: denn dieser mein Sohn war todt, und ist wieder lebendig geworden; er war verloren, und ist gefunden worden. Und fingen an fröhlich zu sehn.

Es gibt nur zwei Richtungen, in denen der Mensch sich bewegen kann; die eine entfernt ihn von Gott, die andere führt ihn zu Gott zurück. Auf der einen sinkt er von Sünde zu Sünde, von Elend in Elend, und kann, wenn er nicht umkehrt, in ewige Verdammniß gerathen. Auf der andern erhebt er sich von Einer Vollkommenheit, von Einer Seligkeit zur andern, bis er, wenn er treu bleibt, die ewige und über alle Maaße wichtige Herrlichkeit der Kinder Gottes ererbt. Diese beiden Richtungen in ihren vornehmsten Stufen hat uns der Herr dargestellt in dem Gleichnisse von dem verlornen Sohne.

Hört es und vernehmt es, Ihr, die Ihr wandelt in fleischlicher Sicherheit, und erschreckt vor dem Abgrund, der an eurer Seite sich öffnet. Hört es und vernehmt es, Ihr, denen anfängt bange zu werden in dem dumpfen, schmerzlichen Gefühle eurer Sünden, und lernt, wie Euch geholfen werden kann. Hört es und vernehmt es, Ihr, die Ihr Euch schon zu Gott gewendet habt, und beschleunigt eure Schritte auf dem Wege des Heils!

Wir wollen, indem wir uns den Worten des Gleichnisses anschließen, Euch zeigen, erstlich die Stufen des Abfalls von Gott, und zweitens die Stufen der Vereinigung mit Gott. Und Du, o Herr, da wir unternehmen, diese deine Worte der Gemeine auszulegen - diese theuren, anbetungswürdigen Worte, die eine ganze Welt göttlicher Gedanken m sich fassen - so rüste Du uns dazu aus, und gib uns, damit wir es vermögen, ein tieferes Gefühl der Sünde, und ein mächtigeres Verlangen nach Heiligung! Amen.

Höret also erstlich aus dem Munde dessen, der die Herzen erforscht, und vor dem auch das Wesen der ihm ewig fremden Sünde aufgedeckt liegt, welches da sind die Stufen des Abfalls. Es gibt ihrer vier: Der Stolz, die Entfernung, die Knechtschaft, und das Verderben.

Der Stolz.

Ein Mensch hatte zween Söhne. Und der jüngste unter ihnen sprach zum Vater: Gib mir, Vater, das Theil der Güter, das mir gehöret. Wie? der Sohn wagt es, vor den Vater hinzutreten, und mit ihm als der Gleiche mit dem Gleichen zu unterhandeln; von ihm zu fordern, da er doch nur bitten und für das Erbetene danken sollte? Er wagt es, etwas sein zu nennen, da doch Alles dem Vater gehört? Ist das nicht Stolz? War es nicht Stolz, daß der erste Mensch, anstatt sich Gott zu unterwerfen, selber seyn wollte, wie Gott? Sehet in dem Stolze, meine Brüder, eine angeerbte Krankheit des Menschen, sein Grundübel, die Quelle seiner vermeinten Tugenden und seiner wahrhaften Sünden. So lange Du Dich nur als ein Eigenthum Gottes betrachtest, nur für seine Ehre leben, nur nach seinem Winke Dich bewegen willst: wie könntest Du da in Sünde verfallen? Aber Du willst auf Dir selber beruhn; Du willst etwas seyn unabhängig von Gott; Du willst deine eigenen Zwecke verfolgen; und wenn ein Streit entsteht, so soll Dein Wille den Ausschlag geben. Siehe! das ist Stolz, das ist Abfall, das ist Sünde, das ist der erste Schritt auf dem Wege des Verderbens. Auch Du stellst Dich trotzig hin vor den Vater und sprichst: Gib mir, Vater, das Theil der Güter, das mir gehöret. Was wird er thun? Dich mit Gewalt zurückhalten? Nein, Gott zwingt Keinen. Willst Du, da Du gewarnt bist durch sein Wort, einen Versuch wiederholen, der deinem Stammvater und seinem Geschlechte die ursprüngliche Vollkommenheit gekostet, und ein unermeßliches Heer von Missethaten und Plagen herbeigeführt hat: so thue es auf deine Gefahr: Und er theilete ihnen das Gut.

Der Stolz bewirkt schnell die Entfernung.

Und nicht lange darnach sammelte der jüngste Sohn Alles zusammen, und zog fern über Land. Der Sohn verläßt das Haus des Vaters, in welchem der Aufenthalt ihm drückend und beschwerlich geworden ist; und der Mensch trennt sich von Gott. Von Gott, dem Allgegenwärtigen, der ihn näher, inniger umgibt, umschließt, als die Luft, die er einathmet und die ihn trägt; von Gott, der ihn nie verläßt, wenigstens nie vor dem furchtbaren Augenblick der entschiedenen Verdammniß? Wie ist das möglich? Ach! es ist nur zu möglich! Mancher entfernte Mensch ist uns nahe; mancher nahe ist uns fern; so können wir auch von Gott, dem Allgegenwärtigen uns entfernen. Sind die unaussprechlich theuren Verheißungen Gottes von der Vergebung der Sünden und von der Seligkeit des Himmels Euch vielleicht so gleichgültig geworden, daß Ihr nicht mehr daran denkt, sie nicht mehr aufsucht in der Schrift, daß Ihr meint, wenn nur Alles auf Erden nach Wunsche gelingt, sie entbehren zu können? Dann seyd Ihr gezogen fern über Land. Sind vielleicht schon Jahre vergangen, seitdem Ihr nicht mehr das heilige Abendmahl empfinget; schon Wochen und Monate, seitdem Ihr höchstens aus Zwang und Gewohnheit Euch zum Gebete bequemtet, aber nicht aus dem Drange eines kindlichen Herzens zu Gott gesprochen habt? Dann seyd Ihr gezogen fern über Land. Ist vielleicht in dem Kreuze Jesu Christi, in diesem Kreuze, das Er getragen hat, und das auch Ihr tragen sollt; ist vielleicht in dem Gedanken an Gott, wenn er unter andern Gedanken in Euch auftaucht, etwas, das Euch beschwerlich fällt, und wovon Ihr gern so schnell als möglich Euch wegwendet? Dann - zweifelt nicht - dann seyd Ihr gezogen fern über Land.

In dieser Entfernung von Gott gilt nun aber auch von dem Menschen, was weiter von dem Sohne gesagt wird: Und daselbst brachte er sein Gut um mit Prassen. Was ist das Gut des Menschen? Das ist sein Herz, welches für Gott geschaffen, und so eingerichtet ist, daß es nur in ihm Ruhe finden kann; welches unter dem Beistand der göttlichen Gnade fähig ist, Gott zu lieben, in dieser Liebe das höchste Gebot zu erfüllen, in ihr wahre Seligkeit zu genießen. Dieses Gut wird von dem Menschen, der sich von Gott entfernt hat, verpraßt; denn er liebt ihn nicht; wenn er ihn liebte, so hätte er sich nimmermehr von ihm entfernt. Was liebt er denn? Wie man von den Heiden gesagt hat, Alles wäre ihnen Gott gewesen, außer Gott selbst, so kann man auch von dem Menschen in diesem Zustande sagen, er liebe Alles außer Gott, dem Einzigen, den er über Alles, und in dem er Alles lieben soll. Er versinkt in Wohlgefallen an sich selbst, an einem solchen elenden Geschöpfe, da er sich in Anbetung des vollkommensten Wesens verlieren; er begehrt das, was die Erde ihm bietet, da sich seine Sehnsucht zu den Gütern des ewigen Lebens emporschwingen könnte. Ja - man sollte es kaum für möglich halten, aber es ist dennoch so - seine Gewohnheiten, seine Launen, das geringste Stück des um ihn aufgestellten Besitzes - dieß Alles ist ihm theurer, als Gott. Niemals hat wohl ein Sohn die aus dem väterlichen Hause mitgenommenen Güter so thöricht und ruchlos verpraßt, als mancher Mensch das große Gut, die Gefühle seines Herzens an die nichtswürdigsten Dinge verschwendet, und die frommen Empfindungen, die vielleicht in ihm keimten, ertödtet.

Diese Vergeudung zieht die gerechte Strafe nach sich. Da er nun alles das Seine verzehret hatte, wurde eine große Theurung durch dasselbe ganze Land, und er fing an zu darben. Die lebendige Quelle hat der Mensch verlassen, die allein den ihm anerschaffenen, unbesiegbaren Durst nach Seligkeit löschen, die mit ihrem reinen Strome sein Herz durchfluthen, und alle niederen Erdenschmerzen hinwegschwemmen, die ihn mit Kraft und Begeisterung zur guten Ritterschaft des Lichtes erfüllen tonnte. Er versucht seinen Durst zu stillen aus dem stehenden, faulen Sumpf. Er schöpft, er trinkt. Köstlich! rufen Unzählige. Er ruft es auch, er meint es eine Zeit lang, aber am Ende widert ihn doch der ekelhafte Trank. Er stößt den Becher hinweg; aber der Durst bleibt. Ein neuer Versuch, ein größerer Ekel. Kein Wasser, kein Brot. Denn Du, Brot des Lebens, das vom Himmel kam, das den Hungrigen in der Wüste labet, Du wirst von ihm verkannt und verschmäht. Sein Herz ist matt und zugleich empfindlich; durch jede unsanfte Berührung fühlt er sich auf das tiefste verwundet, durch jede Beschwerde zu Boden gedrückt. Vernunft und Wille sind ohne Kraft; alle anderen Vermögen reiben sich auf in krankhafter Thätigkeit. Bilder auf Bilder jagen sich vor dem innern Sinn, und gerade die abscheulichsten bleiben stehn in furchtbar quälender Gegenwart. Wünsche auf Wünsche, Neigungen auf Neigungen erheben das Haupt, und verbreiten in dem Gemüthe jene finstere, weltliche Trauer, welche die unbefriedigte Leidenschaft, so wie auch die befriedigte mit sich führt. Er fing an zu darben.

Kehre jetzt um, Du, mit dem es schon so weit gekommen ist; warum wolltest Du in noch größere Gefahren, in noch tieferes Elend Dich stürzen? Kehre um; schöpfe aus dem Brunnen des Heils, kaufe Dir Brot des Lebens, thue sogleich, was Du doch einmal thun mußt, um nicht ewig verloren zu gehn. Du zauderst? So glaube wenigstens nicht, daß Du lange auf dieser Stufe verweilen wirst; bald sinkst Du herab auf die dritte,

Das ist die Knechtschaft.

Und ging hin, und hängete sich an einen Bürger desselbigen Landes. Bisher hatte der Mensch zwar oft gesündigt, aber da er noch schwankte, da er sich in einzelnen Augenblicken zu Gott kehrte, so hatte er noch nicht eigentlich der Sünde gedient. Jetzt, getrieben durch den immer unbefriedigten, immer qualvolleren Durst nach Glück, schließt er mit der Sünde eine Art von Vertrag: er will ihr dienen, und sie soll ihn glücklich machen. Sie ihn glücklich machen? Das kann sie nicht; das will sie nicht, auch wenn sie es könnte! Nur er, der Thor, hält sein abscheuliches Versprechen, und wird ihr Knecht. Einer Leidenschaft hat er sich hingegeben, und es zeigt sich eine Gelegenheit, sie zu befriedigen. Das ist unerlaubt, sagt die Stimme Gottes in seinem Innern. Mag senn, erwiedert er, erlaubt oder unerlaubt, die Leidenschaft will es, die Sünde befiehlt es; ich thue es dennoch. Die böse That ist geschehn, der giftige Pfeil ist hinausgeschleudert in den Zusammenhang der menschlichen Dinge: aber nun kehrt er zurück auf den Schützen, die Folgen des Verbrechens wenden sich gegen ihn, drohen ihm Schande und Unheil. Was ist zu thun? Bekenne deine Missethat, erdulde ihre Strafe, versöhne Dich mit Gott, und dadurch auch allmählig mit den Menschen. Aber das wäre ja gegen den Vortheil der Sünde! Sie befiehlt; und ihr Knecht bedeckt Verbrechen mit Verbrechen, stürzt sich, um dem einen Abgrund zu entgehn, in den andern, der noch tiefer ist. Wenn er Gott gehorcht hätte, so hätte er doch nur Einen Herrn gehabt, und er wäre frei geblieben in seinem Gehorsam, denn der Wille Gottes stimmt ja überein mit dem bessern Willen des Menschen, Wie viel Herren hat er jetzt! Ein jeder, mit dem er in ein sündliches Einverständniß getreten ist; ein jeder, dem er ein schmachvolles Geheimniß anvertraut hat; ein jeder, von dem er eine Begünstigung seiner Leidenschaften erwartete: ein jeder von diesen ist sein Herr; ein jeder von diesen, winkt, befiehlt, verlangt etwas, das ihn mehr Ueberwindung und Anstrengung kostet, als das heldenmüthigste Opfer der Gottesliebe gekostet haben würde - und er thut es! Und nur Menschen wären seine Herren? Gibt es nicht ein Reich der Finsterniß? Hat dieses nicht seine Genossen? Haben diese nicht einen Fürsten? Ist unter dem Bürger desselbigen Landes, dieses Landes, wo Hunger und Theurung herrscht, nicht vielleicht dieser gemeint? Und dieser, der vor Dir fliehen muß, sobald Du ihm widerstehst, weißt Du jemals, wie nahe er Dir treten, und mit welchen unsichtbaren Ketten er Dich fesseln kann, wenn Du beschlossen hast, ihm nicht zu widerstehn?

Dieser Herr nun, wer er auch seyn mag, der schickte ihn auf seinen Acker, um die Säue zu hüten. Knechtschaft also, und in der Knechtschaft Erniedrigung. Der Sohn, der im Hause des Vaters so geehrt hätte leben können, wie ist er herabgewürdigt! Der Mensch, o Gott, der Christ, in welchem Du dein heiliges Ebenbild wiederherstellen wolltest, den Du in der Taufe zu deinem Kinde angenommen hattest, der gewürdigt ward, den Leib und das Blut Jesu Christi zu empfangen, in welchem dein Geist sonst manche gute Regung erweckte - was thut er, was begeht er! Und daß er es thut und begeht, ist noch nicht das Schlimmste; das Schlimmste ist, daß Du, allwissendes Auge, es sehen mußt, daß Du, heilige Majestät des allgegenwärtigen Gottes, dadurch beleidigt wirst! Soll ich es nennen? Nein, der Mund verschweige, was zu denken schon entsetzlich ist; er verschweige, in welchen Abgrund von Schmach und Erniedrigung oft das äußere und das innere Leben der Menschen versinkt. Denn wie die Seele, dieser heilige Tempel Gottes, in welchem nur fromme Gedanken wohnen sollten, oft entheiligt wird; wie der tiefste Boden des Herzens angefüllt seyn kann mit unreiner Lust: - dafür möge als Zeugniß dienen, was der Herr nun hinzufügt, und was wir, da es sein heiliger Mund gesprochen hat, auch aussprechen dürfen: Er begehrte seinen Bauch zu füllen mit den Trabern, die die Säue aßen.

Verderben

Da schlug er in sich und sprach: Wie viel Tagelöhner hat mein Vater, die Brot die Fülle haben, und ich verderbe im Hunger. Er ist gesunken, so weit ein Mensch sinken kann, bis auf die äußerste und letzte Stufe - bis in das Verderben. Und was ist dieß? Eine Zusammenstellung wird es uns näher bringen. Wie viel Tagelöhner hat mein Vater, die Brot die Fülle haben. Denkt Euch einen Tagelöhner im Hause des Vaters, einen frommen Christen, der mit allen Lasten, mit allem Elend dieses irdischen Lebens beschwert ist. Ihn drückt äußere Noch; zur Noth gesellt sich Krankheit; in der Krankheit ist er einsam, weil seine Freunde und Angehörigen gestorben sind. Er ist nicht nur einsam, er ist auch verlassen, verkannt, und wird, wie Hiob, mit ungerechten Am klagen überhäuft. Wird er verderben? Nein, denn er sieht mit Gott in Verbindung; und Gott, an den er sich hält durch Glauben und Gebet, Gott wirkt auf ihn durch seinen Geist, und läßt ihn nicht verderben, nicht umkommen. Denkt Euch nun, daß alles Uebrige bleibt, und daß nur der Zusammenhang mit Gott hinwegfallt, daß die Seele von inneren und äußeren Schmerzen bestürmt, keinen Ausgang finden kann, keine Zuflucht, keine Erquickung, weder in sich selbst, noch bei den Menschen, noch bei Gott, von dem sie sich trennte - das ist der Zustand des Verderbens. Da gräbt sich der Mensch mit jedem Gefühl tiefer hinein in den Abgrund seines Elends; er fürchtet die Vergangenheit, aus welcher seine Sünden gespenstig, mit entsetzlichen Zügen und mit Flammenaugen ihn anblicken; er fürchtet die Zukunft; und wohl nicht mit Unrecht; denn weder die Seligkeit noch die Unseligkeit hat ja ihr Maaß, und die Qual, die er erduldet, kann mit jedem Augenblicke höher steigen. Ihn peinigt die Gegenwart, - können nicht auch über ihn, wie über den Frommen, schwere Leiden verhängt werden? Doch nein, laßt uns annehmen, ihn umgebe die Fülle der Güter, über ihn wölbe sich der heiterste Himmel, ihn fächle die freundlichste Luft: mitten in dieser lieblichen Umgebung wird der Krampf des Schmerzes sein Inneres zusammenschnüren; mitten im Genuß dieser Güter, ja mitten im ungebundensten Schwelgen wird es in seinem Innern rufen: Ich verderbe im Hunger!

Kann er jetzt noch umkehren? Er kann es; konnte es von jeder der früheren Stufen, kann es auch noch von dieser. Ewiger Dank sey Dir, o Herr, daß deine göttlichen Worte uns eine Gewißheit geben, die unsere vermessensten Hoffnungen übersteigt. Er kann es, so lange das Licht dieser Sonne, so lange das Licht der Gnade ihm scheint; aber ist das eine wie das andere untergegangen, so kann er es nicht mehr. Starb er in diesem Zustande, dann erwachet er dort vom Todesschlafe, dort, wo das Verderben, das allmählig in der Zeit ihn umschlungen hatte, nun für die Ewigkeit ihn umklammert hält; wo es an ihm naget wie ein nie sterbender Wurm, und wo hervor aus dem Aufenthalte der für immer von Gott verlassenen Seelen, nur diese Klagelaute ertönen: Ich leide Pein in dieser Flamme! Ich verderbe im Hunger! Schnell also, ungesäumt, meine Brüder, laßt uns umkehren, uns, die wir der Umkehr bedürfen, umkehren auch von dieser letzten Stufe, denn auch von ihr ist es möglich; umkehren von jeder früheren, denn auf einer jeden ist das Zögern verderblich; umkehren, und mit dem Gott, von welchem wir abfielen, uns wieder vereinigen.

Ich athme freier! Denn unsere Betrachtung, die bis zur Hölle hinabstieg in den vier niedergehenden Stufen des Stolzes, der Entfernung, der Knechtschaft und des Verderbens, die steiget jetzt zum Himmel in den vier auswärts gehenden Stufen der Vereinigung mit Gott, die jenen andern entsprechen, und die da sind: die Demuth, die Annäherung, die Freiheit und das Leben.

Die Demuth. Ich will mich aufmachen, und zu meinem Vater gehn, und zu ihm sagen: Vater, ich habe gesündigt in dem Himmel und vor Dir, und bin hinfort nicht mehr werth, daß ich dein Sohn heiße, mache mich als einen deiner Tagelöhner. Was ist Euch aufgefallen in diesen Worten; oder, was hätte Euch auffallen sollen? Daß er sagt: zu meinem Vater. So wagt er ihn zu nennen, da er doch so viel Stolz, so viel Trotz und eine so große Entfernung gestellt hat zwischen sich und ihn? Er muß ihn so nennen, er muß glauben, daß er es sey; denn wie würde er sich sonst entschließen zu ihm zurückzukehren: aber, wie kommt er dazu? Und Du, o Mensch, der Du von Gott abgefallen bist, der Du ihn durch deine schrecklichen Sünden beleidigt, der Du die Zuchtruthe seines Zornes empfunden, der Du einen Vorschmack der Verdammniß gehabt hast: Du wagst es, zu Gott aufzublicken und zu sagen: Mein Vater! Du mußt es wagen; sonst bist Du verloren, und bleibst es ewiglich. Aber was gibt Dir diesen Muth? Wäre nicht der Sohn Gottes herabgekommen auf die Erde, wäre er nicht, beschwert mit allen Deinen Sünden, am Kreuze gestorben, um ihre Strafe zu vertilgen; wärest Du nicht erweckt worden zum Glauben an diese größte Thal der göttlichen Liebe: Du hättest niemals vermocht aus den Tiefen des Abgrunds Gott als deinen Vater anzurufen, und die Rückkehr zu ihm wäre Dir unmöglich gewesen. Und dennoch gibt es Menschen, welche sagen: Wozu wäre es nöthig gewesen, und warum sollte ich es glauben, daß ein göttlicher Erlöser vom Himmel herab kam, und für unsere Sünden starb? O Mensch, der Du dieß sagest, solltest Du aus der Erfahrung nicht besser das Elend der Sünde kennen? Solltest Du nicht fühlen, daß um eine Seele, die schon in die Knechtschaft der Finsterniß gerathen ist, zu befreien, menschliche Kräfte nicht genügen; daß der Himmel sich bewegen, daß der Herr des Himmels herab kommen muß, um sie zum Himmel zurückzuführen? O sey heute, sey alle Tage von uns gepriesen, gnadenvolles Geheimniß, unaussprechliche Wohlthat der Sündenvergebung; ohne dich hätten wir keine Bedingung unseres Heils zu erfüllen vermocht, nicht einmal die, uns zu demüthigen.

Denn ein unerbittlicher Richter hätte uns immer gleich trotzig gefunden; und die Sünden, die er uns nicht hätte vergeben wollen, die hätten wir ihm niemals bekannt. Aber nun, wenn dem verlornen Sohne in dem Lande des Hungers das Angesicht des Vaters vor die Seele tritt, dieß ernste und doch so milde Angesicht; wenn dem Menschen, in seinem schrecklichen Elend, die Ahndung aufgeht von der göttlichen Barmherzigkeit: dann wird er weich; Thränen füllen sein Auge. Warum, denkt er, sollte ich es noch länger verschweigen? Es ist ja wahr, so will ich es denn auch eingestehn. Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehn, und zu ihm sagen: - er thut es zwar noch nicht, aber er will es thun; er betet noch nicht, aber er bereitet sich zu beten - Vater ich habe gesündigt in dem Himmel und vor Dir. Nein, meine Thaten sind nicht, wofür die Welt und mein eigner frevelhafter Leichtsinn sie ausgab, sie sind nicht verzeihliche und von keinen Strafen bedrohte Schwächen; sie sind Uebertretungen deines heiligen Gesetzes, das Himmel und Erde regiert, und das über seine Verächter die furchtbarsten Strafen verhängt, welche nur das vergossene Blut Jesu Christi abwenden kann. Erlaß mir um Seinetwillen diese Strafen; erlaß mir nur die größte unter ihnen, die ewige Trennung von Dir, die ewige Verdammniß.

Ich bin hinfort nicht mehr werth, daß ich dein Sohn heiße; mache mich als einen deiner Tagelöhner. Verscherzt ist wohl mein Glück in diesem Leben, auch wohl die größere Herrlichkeit in dem zukünftigen. Aber auch unter den schmerzlichen Folgen meiner Vergehungen, die ich hier erdulde, kann ich Dir noch immer angehören; auch als der Letzte unter Allen kann ich dort noch ein Mitglied deines Reiches seyn. O nimm mich nur wieder auf, unter welcher Bedingung es sey; nimm mich nur wieder auf, und verfahre mit mir wie Du willst!

Dieß, sage ich, war noch eigentlich nicht ein Gebet; es war nur die Vorbereitung dazu, denn um recht zu beten, muß man schon die Sünde verlassen, und sich zu Gott gewendet haben. Es war ein Entschluß, denn er hatte gesagt: Ich will mich aufmachen; aber der Entschluß muß ausgeführt werden. Er führt ihn aus; und dieß ist die zweite Stufe, die der Annäherung. Er machte sich auf und kam zu seinem Vater. - Ich will mich aufmachen; gewiß, meine Brüder, haben unter Euch Manche oft eben so gesprochen. Erschüttert gleich gewaltig und tief durch Buße und durch das Gefühl der göttlichen Gnade, habt Ihr gerufen: So kann es nicht bleiben, es muß eine Veränderung mit mir vorgehn. Ich will mich aufmachen, ich will die Versuchung fliehn; ich will die Bande der Leidenschaft zerreißen; ich will die mich zu sündlicher Neigung oder Abneigung reizenden Bilder von mir entfernt halten. Ich will mich aufmachen; ich will die so lange vernachlässigten, heilsamen Uebungen erneuen; wieder das Wort Gottes lesen, wieder am Morgen und Abend beten; wieder das heilige Abendmahl, von welchem ich in meinem unbußfertigen Zustande mich mit Zittern entfernt hielt - jetzt, da ich es darf, empfangen. Ich will mich aufmachen, will mich meinen wahren Freunden nähern, will mich mit meinem Gatten versöhnen, will meinen Eltern Alles, wodurch ich sie so tief gekränkt habe, abbitten. Das wolltet Ihr thun; nun so thut es! Ihr wolltet Euch aufmachen; nun so macht Euch auf! Kraft wird dazu erfordert; aber Gott gibt sie. Diese Anstrengung, dieß sich Erheben, dieß sich Losreißen, ist ja nur Ein Augenblick, aber er hat für die ganze Ewigkeit unermeßlich segensreiche Folgen. Groß, ungeheuer ist zwar der Abstand zwischen Euch und Gott; aber thut nur Einen Schritt, ja hebt nur den Fuß, sogleich trägt Euch der Wind der göttlichen Gnade, daß Ihr nicht mehr gehet, sondern fliegt, und der Zwischenraum wird verzehrt unter euren Füßen.

Ja noch mehr: Gott kommt Euch entgegen, und während Ihr Einen Schritt thut, hat er tausend Schritte gethan. Da er aber noch ferne von dannen war, sahe ihn sein Vater, und jammerte ihn, lief und fiel ihm um seinen Hals, und küssete ihn. Was ist dieser Kuß des Vaters? Es ist die Versiegelung eures Bündnisses mit Gott; es ist die volle, überströmende Gewißheit der Begnadigung, die der Geist Gottes eurem Geiste, eurem Herzen ertheilt; es ist ein Gefühl, durch welches Ihr die Vergebung der Sünden nicht mehr als etwas Zukünftiges hofft, sondern schon als etwas Gegenwärtiges besitzt; es ist ein Augenblick, der gerade nicht nothwendig für einen jeden Christen gleich klar und lebendig eintreten muß, der aber, wenn er für Euch eintritt, sey's in einsamen Stunden, sey's am Tische des Herrn, von allem was Ihr bisher empfandet, das Seligste ist. Denkt Euch, daß Euch die ganze Fülle der Erdengüter geschenkt würde - doch nein, in dieser Freude könnte ja etwas Sündliches seyn, und wir können hier zum Vergleich ganz reine und fromme Empfindungen wählen. Denkt Euch, daß Ihr Hand in Hand einher ginget mit einem Freunde, umlächelt, umstrahlt von der Schönheit und Erhabenheit Gottes in seiner sichtbaren Schöpfung. Denkt Euch, daß es Euch verliehen würde, alle göttlichen Wahrheiten, eng verbunden, als ein einziges, lichtvolles Ganze, zu schauen. Denkt Euch, daß eure Bemühungen, um einen Freund aus großer Bedrängniß zu retten, gelungen wären, daß Ihr nun hereinträtet zu ihm, um ihm davon die erste Kunde zu bringen. Denkt Euch, in einem Worte, das Schönste, das Lieblichste, wodurch ein frommes Leben nur gesegnet werden kann: es wird Alles unermeßlich übertroffen, überboten durch diesen Kuß des Vaters, durch diesen Anhauch des Geistes, durch diese Mark und Bein durchdringende Gewißheit: Es ist Alles ausgelöscht, Alles vergeben. Werden jetzt etwa die Thränen der Buße versiegen? Wird jetzt etwa das reuevolle Bekenntniß, und die eigene Anklage verstummen? Nein, mit hervorquellenden Thränen, das Angesicht verborgen an der Brust des Vaters, der ihn geküßt hat, rufet der Sohn noch einmal, was er schon in der Entfernung gerufen hatte, und was jetzt in dieser innigen Nähe erst ein wahres Gebet geworden ist: Vater, ich habe gesündigt in dem Himmel und vor Dir, und bin hinfort nicht mehr werth, daß ich dein Sohn heiße. Ihr begnadigten Seelen, je höher Ihr es seyd, um so tiefer, um so häufiger werdet Ihr in die Schmerzen der Buße versinken; sie wird den Inhalt eurer Gebete, den Grundton eures Lebens bilden.

Den noch immer an seinem Halse weinenden Sohn hebt nun der Vater zur dritten Stufe: zur Freiheit. Aber der Vater sprach zu seinen Knechten: Bringet das beste Kleid hervor, und thut ihn an, und gebet ihm einen Fingerreif an seine Hand, und Schuhe an seine Füße. Welches ist das beste Kleid? Das, welches gewaschen ward im Blute Jesu Christi. Dieses gewährt nicht nur Kühlung in der Hitze, Schutz in der Kälte, nicht nur Ehre und Schmuck unter den Kindern Gottes; es gewahret auch Zuversicht am Tage des Gerichtes; angethan mit diesem Kleide, kann man eingehn zur Hochzeit des Lammes, und wird nicht zurückgewiesen. Es ist rein, schneeweiß, und diese Reinheit dringet durch Gottes Gnade bis in das Herz dessen, der es trägt. Die unvergebene Sünde wäre wohl immer etwas uns Eigenes geblieben, woran wir gehangen, das wir geliebt hätten. Die vergebene ist uns fremd geworden, und wir hassen sie. Bleibt sie auch dem Keime nach in uns zurück, kann sie uns gleich noch immer versuchen, beunruhigen - ihre Herrschaft hat aufgehört; alle ihr sonst dienstbaren Kräfte der Seele entwinden sich ihrem Joche, und streben hin zu Dem, der uns begnadigt hat, zu Gott, unserm Heiland, um ihm allein zu gehören, ihm allein zu dienen. Dieser Dienst Gottes ist Freiheit; und er wird hier bezeichnet durch den Ring: Gebet ihm einen Fingerreif an seine Hand. Der Ring ist das Gegen, stück der Kette; er bedeutet die edle, ehrenvolle, freiwillige, so wie diese die gemeine, schmachvolle, erzwungene Abhängigkeit. Der Ring, wenn Ihr wollt, ist auch ein Theil einer Kette; aber man trägt ihn leicht und ohne Beschwerde; man blickt ihn an, und erinnert sich mit Freuden der übernommenen Pflichten, der abgelegten Gelübde. Sind die Hände geschmückt, so werden auch den Füßen, die so lange auf dem Wege des Verderbens wandelten, Schuhe angethan, daß sie forteilen auf dem Wege des Heils, und in die goldenen Fußtapfen treten, welche der Fuß Jesu Christi darauf eingeprägt hat.

Auf diesem Wege gelangt die Seele dann zur vierten und höchsten Stufe der Vereinigung mit Gott; zum Leben. Dieser mein Sohn, ruft der Vater, war todt, und ist wieder lebendig geworden. Gott, der Sohn Gottes ist das Leben der Seele. Ihn kann sie niemals, aber mit ihm kann sie Alles entbehren. Ohne ihn würde ihr der Himmel kein Himmel seyn, aber mit ihm fragt sie nichts nach Himmel und Erde. Jetzt hat sie ihn, denn da er sie ganz in Besitz genommen hat, so ist es unmöglich, daß sie ihn nicht auch besitzen sollte. Jetzt lebt sie, denn jetzt hat sie in sich das Leben, der Allgenugsame gibt ihr volle Genüge. Sie lebt von der Gnade des Herrn, da, wo Andere sich nur an ihren Gaben ergötzen; sie lebt von der Hoffnung unter Trübsalen; sie lebt von dem Frieden Gottes unter Angst und Beschwerden; sie lebt in Augenblicken höherer Weihe von seinem Anschaun, und von dem Kuß seines Geistes. Sie lebt beim Scheiden vom Leibe durch das Gefühl der Nähe und Gegenwart des Herrn, wofür sie, selbst in jenen dumpfen Augenblicken, in dem höchsten Gipfel ihrer Kräfte, noch empfänglich ist. Und wenn sie vom Leibe geschieden ist, wovon wird sie dann leben? O Gott, verklärter Heiland zur Rechten des Vaters! wovon anders als von Dir, und von deinem Anschaun? O verklärte Brüder im himmlischen Lichte, wir beneiden Euch, nicht zu sehr. Denn wahrlich, Ihr habt nur im Schauen was wir hier schon im Glauben besitzen; genießt nur überschwenglich, was uns hier nach dem Maaße unsrer Fähigkeit dargeboten wird.

Mein Geschäft ist zu Ende; denn zur Erklärung der Worte des Herrn weiß ich nichts mehr hinzuzufügen. Aber für Euch, meine Brüder, beginnt jetzt ein großes, wichtiges Geschäft: Euch zu prüfen, und zu bestimmen, auf welcher der hier beschriebenen Stufen Ihr stehen mögt; denn auf einer sieht ihr gewiß; durch sie sind alle Seelenzustände erschöpft. Soll ich Euch bei dieser Prüfung zu Hülfe kommen, so möchte ich sagen, daß die Mehresten sich auf den mittleren der abwärts oder aufwärts gehenden Stufen befinden. Groß ist die Anzahl derjenigen, die in Entfernung von Gott leben, die anfangen zu darben, die, wenn sie nicht umkehren, in Knechtschaft und Verderben gerathen können: kehret um, meine Brüder, wenn Ihr zu diesen gehört. Seltener sind die in das Verderben Gesunkenen; ist aber ein solcher unter uns, so erkläre ich, daß er mir unter Allen der Theuerste und Wichtigste sey; so rufe ich die göttliche Gnade für ihn an; so beschwöre ich ihn sich zu bekehren zum Herrn, der uns den Abfall des Verlornen nicht so groß und so entsetzlich geschildert haben würde, wenn er nicht bereit wäre auch den größten Sünder wieder aufzunehmen. Unter denen, die sich zu Gott wendeten, gibt es ebenfalls Manche, die sprachen: Vater, ich habe gesündigt; Manche, die riefen: Ich will mich aufmachen; Wenige freilich, die sich wirklich aufgemacht haben. Einige wohl selbst, die den Kuß des Vaters empfingen. Ob aber Jemand unter uns sey, der den Ring der Freiheit an seiner Hand, und der das Leben in sich trägt - Gott allein weiß es! Ich rathe Keinem, sich eine solche Vollkommenheit zuzuschreiben; ich rathe einem jeden, danach zu streben. Amen.