Auszug aus Gerhard Tersteegen, (der in Mühlheim 1769 seelig verschieden,) 1751. zum erstenmale gedruckten Betrachtung, die Kraft der Liebe Christi betittelt.
Die Liebe Christi ist keine thörichte Einbildung, sondern eine lebendige und geschäftige Kraft Gottes, die uns aus unserm Verderben aufhilft, neues Leben einflößet und zu recht glückseeligen Menschen macht. Die Liebe Christi ist der Anfang, der Grund und die Seele des Christenthums und der Gottseligkeit. Wer die Liebe Christi nicht hat, der hat nur eine todte und gemalte Gottseeligkeit. Es muß uns Christus nicht so fern bleiben, wir müssen nothwendig die Kraft seiner Liebe an uns erfahren, sonst bleiben wir todte und unseelige Menschen. Christus macht den Anfang mit Lieben. - Wir sollen Gottes liebendes Herz in Christo suchen, uns gleichsam in Christi Liebe hinein hungern und dursten. Die Liebe Christi bewegt uns auch zur Heiligung. Wie fürchterlich und unmöglich machen sich doch viele die Heiligung! So leben, wie die Schrift es vorstellet, ach! das ist nicht möglich, denken sie, das könnten sie nicht erreichen. Ja wohl, wenn du dich selbst dazu zwingen willst, oder, wenn dich Moses dazu zwingen soll, so ist es unmöglich; aber es ist leicht, wenn du dich die Liebe Christi zur Heiligung dringen lässest. Ach wie ängstlich ist manchem bey seiner Heiligung zu Muthe, und wie sauer wird sie ihm! O! liebt nur, werdet nur mit Christo so genau vereiniget, wie der Rebe mit dem Weinstocke vereiniget ist. Ey, Fällt es denn einem Reben schwer, daß er süße Trauben trage? Der Rebe bleibt nur im Weinstocke, läßt sich von dessen edeln Safte durchdringen, so grünt er, und trägt Frucht. Bleibet in mir, sagt Christus, so bringt ihr viele Früchte. Wir sollen nur lieben, und in der Liebe bleiben, und, als in uns selbst dürre Reben, uns von der göttlichen Kraft der Liebe Christi durchdringen lassen, o! da werden wir gewiß Gottgefällig werden, erfüllet mit Früchten der Gerechtigkeit; wir werden uns seelig schätzen, daß wir Christo zum Wohlgefallen leben können.
Alles, was wir hier thun, ist im Grunde, gegen das Ganze, doch nur eine Kleinigkeit, aber die Liebe giebt der Sache einen Werth. Wenn man seine Geschäfte alle, nicht nur den sogenannten Gottesdienst, sondern auch die Arbeit auf dem Felde, in der Küche, u.s.w. in der Liebe Christi verrichtet, so ists recht, und man ist überall geseegnet. Die Liebe Christi leitet und regiert uns in allem unsern Vornehmen. Es giebt keine bessere Regeln, als, die die Liebe Christi macht. Die Liebe Christi lehrt auch allein recht beten. Mit Geliebten redet man gern. Da wird einem die Zeit nicht lange. Wenn du nicht Lust hast, mit Christo dich zu unterhalten, so rührt das aus dem Mangel der Liebe zu ihm her. Wir haben, wenn wir Christum recht lieben, ihm immer etwas zu sagen; wir haben immer zu lieben. Ein einziges aus dem Herzen quillendes Seufzerlein, das voll Liebe Christi ist, gilt mehr vor Gott, als ein noch so langes Gebet aus dem Kopfe.
Christus liebt uns mit der treuesten Freundschaftsliebe, er ist ein treuer Freund in der Noth. Er hat uns die größte Freundschaftsprobe bewiesen. Er liebt uns mit der sorgfältigsten Mutterliebe. ER liebt uns mit der seeligsten Bräutigamsliebe. Er will sich über uns freuen, wie sich ein Bräutigam freuet über seine Braut. Jes. 62, 5. Wenn wir Ihn doch recht wieder liebten! Tausendmal sagt man wohl, lieber Herr Jesus, lieber Heiland! aber es kommt darauf an, wie es ums Herz stehe, ob das den Brand der Liebe Christi erfahren habe, oder nicht? Hat man sie, so bewahre man sie ja; man muß damit gehen, wie einer, der mit einer kleinen Kerze durch den Wind gehet, (er besorgt immer, daß sie auslöschen möge.) In Christi Herzen ist lauter Liebe zu uns; o! Schade, daß in unserm Herzen so wenig Liebe gegen Ihn ist!
Quelle: Wöchentliche Beyträge zur Beförderung der ächten Gottseligkeit.
Die Kinder Gottes haben dreierlei Geburtstage. Durch den ersten, natürlichen, kommen sie aus dem finstern Gefängnis von ihrer Mutter Leib zu dem Licht dieser unteren Welt. Da weint das Kind billig, die Verwandten aber freuen sich.
Durch den zweiten Gnadengeburtstag, nämlich die Wiedergeburt, werden sie stufenweise aus dem engsten, finsteren Naturzustand ins Licht der Gnade versetzt. Da weinet auch meistens das Kind; aber es freuen sich die Engel im Himmel, sobald nur ein Sünder Buße tut.
Was wir den Tod nennen, das feierten die ersten Christen als einen Geburtstag der Märtyrer und Heiligen. Dieser dritte Geburtstag, der leibliche Tod nämlich, erlöset die Kinder Gottes aus der bangen Welt, aus dem engen Gefängnis dieses Leibes der Demütigung und aus allem Druck und Seelengefahr, da sie fröhlich versetzt werden in die Weite der lichten Ewigkeit. Zwar geht's auch bei dieser letzten Geburt oft sehr unansehnlich und bedrängt her, daß das Gnadenkind wohl gar auch ächzen und weinen muß, bis es durchkommt, aber alles zu seinem Besten.
Quelle: Gärtner - Eine Wochenschrift für Gemeinde und Haus 1928
Die Ausübung und Erfahrung dessen, was die Schrift sagt, ist die beste Erklärung der Heiligen Schrift. Wer das menschliche Elend nicht in seinem Herzen erkennt, der sieht es niemals in der Schrift. Hingegen, wer Buße tut, erkennt immer mehr die Buße. Wer betet, glaubet, liebet, lernt beten, glauben, lieben und erkennt immer tiefer, was die Schrift damit meint. Denn die Gottesgelehrtheit oder das Christentum besteht ganz in der Erfahrung. Erst muß man es schmecken und sehen, wie bitter die Sünde und wie freundlich der Herr ist, dann kann man es auch weitersagen. Bei anderen aber geht es, wie schon der alte Macarius spricht: «Wenn einer Gottes Wort nicht in der Kraft und Wahrheit in sich selbst besitzt, sondern beim Reden nur weitergibt, was er in allerhand Schriften gelesen und von geistreichen Männern gehört, der scheint zwar andere zu erfreuen; aber nachdem er es gesagt hat, geht ein jedes Wort an den Ort, woher es gekommen war, und er bleibt arm und bloß.»
In uns sind ganze Welten zu finden; in unserm Grund ist das Geheimnis der Bosheit und das Geheimnis der Gottseligkeit, die Tiefen des Satans und die Tiefen der Gottheit zu entdecken durch den Geist. Was von beiden Teilen in der äußeren Welt und vor den Sinnen erscheinet, ist nur ein Gewächs oder Zweig aus diesem Baum, ein Bild, Abdruck oder Kopie von dem innern Original. Alles außer uns ist und muß uns ein Spiegel sein von dem, was innerlich zu finden. Daher kommt es, daß erleuchtete Seelen so sehr aufs Stillesein und Einkehren dringen. Und, nota bene, eben daher kommt es, daß sie alles in der Natur und in der Schrift so innerlich, oder, wie man spricht, mystisch deuten und verstehen.
Quelle: Gärtner - Eine Wochenschrift für Gemeinde und Haus 1925