Tersteegen, Gerhard – Briefe in Auswahl – Es gibt eine Zeit, in der uns Gott uns selbst sehen und fühlen lässt; und wieder eine andere Zeit, in der er uns sehen und empfinden lässt, was er in uns ist und tut; und wiederum eine Zeit, in der er seinen Weg und sein Werk zu unsrer Reinigung gänzlich vor uns verborgen hält.

Werte Schwester!

Nach dem Innern lebe ich so auf Gottes Gnade hin. Ich darf nichts wollen und nichts machen, und muss, Gott mit mir schalten lassend, zufrieden sein. Alles Hinblicken auf mich selbst macht mich verwirrt, oder ich müsste vom Herrn darauf gebracht werden. Es ist sonderbar, dass man so vernichtet und elend sein, und doch so sehr auf Gott vertrauen kann. O das gute Wesen! O diese wahrhafte Güte! Uns liebend sieht er nicht auf das Unsrige, und ihn liebend will er auch, dass wir uns ganz vergessen sollen. Er ist das Ganze, was uns ruhig und selig macht. Zu einer Zeit lässt er uns uns selbst sehen und fühlen, und wieder zur andern Zeit lässt er uns sehen und empfinden, was er uns ist und in uns verrichtet. Aber zu seiner Zeit auch verbirgt er seinen Weg und sein Werk in und über uns unserm Blicke, um uns einfältig zu machen, uns zu säubern und uns nur auf ihn schauend zu machen und uns zum gänzlichen Hingeben in feine Hände zu führen. Wir haben nichts Anderes zu tun, als ihm nur zu folgen, nach dem Erfordernis unsers Zustandes und seinem Schalten mit uns ihm nachzugeben; und selbst dieses muss er uns erst lehren und verleihen. Ich, liebe Schwester, muss beinahe täglich noch kämpfen und überwinden zum Beweise, dass ich noch lange nicht tot bin. Das heißt: wenn ich reden, schreiben, Besuche geben und dergleichen tun muss, zeige ich mich dazu zwar bereitwillig, im Glauben, dass es Gottes Wille sei; aber meistens muss ich mich dabei doch etwas überwinden, obgleich es mich nicht beunruhigt. Gott allein genügt; Gott allein ist unser Platz. Es wird mein Fehler fein, dass ich in Einsamkeit und Ruhe mich am geräumigsten auf diesem Platze fühle.

Doch wir verstehen nicht das Beste zu wählen: und was uns angenehm ist, gefällt nicht immer Gott! Ihm also suche man nur zu genügen! Er bewahre sein Heiligtum, damit keine Kreatur weiter als in den Vorhof gelange! Amen.

Der tiefe Friede Gottes, der Gott selbst ist (Richt. 6, 24.), sei die Speise und Festigkeit Deiner Seele bei allen Stürmen dieses nichtigen Lebens! Dies wünscht Dein Mitbruder in dem Herrn.

Mülheim, den 3. Dezember 1745.