Tersteegen, Gerhard – Briefe in Auswahl – Kurze Darstellung des Schreibers, wie und auf welche Art der Herr von Zeit zu Zeit das Versprechen an seinem Herzen erfüllt hat: Ich will deinen Weg mit Dornen vermachen. (Hos. 2, 6.) Beim Eintritt in ein neues Jahr.

In Jesus, der in Deiner Seele lebe, werte und herzlich geliebte Schwester!

Mit dem Anfange dieses Jahres war ich viel im Geiste bei Dir, und wünschte Dir viel Gutes in dem Einen Gute. Der Herr lasse den kleinen Rest unsers nichtigen Lebens zu dem Zwecke gesegnet sein, den er mit uns vorhat! Er vertiefe und befestige uns in ihm, denn wir wissen einigermaßen, dass in dieser Befestigung Freiheit und unermesslicher Raum zu finden ist. Das Versprechen Gottes: Ich will deinen Weg mit Dornen vermachen, und eine Wand davor ziehen, dass sie ihren Steig nicht finden soll (Hos. 2, 6.), werde an uns erfüllt. Lieber tausendfaches Kreuz mit Gott, als unsern eignen Weg gehen, und wäre es auch auf eine noch so feine Art. Dieses Versprechen Gottes habe ich, in verschiedenen Lagen und Zeiten, verschiedentlich an mir erfüllt gesehen. Im Anfang fühlte ich oft Beängstigungen und Unruhen, und war wie gejagt, wenn ich vom Wege abgekommen war, bis dass ich stillstand und bemerkte, ich sei in etwas dem Herrn Abholdes eingegangen; dann bekam ich einen innigen Zug, der mich durch seine innige Salbung erquickte und festhielt; und die Unbehaglichkeit, die ich in Allem außer demselben empfand, war die Wand, welche mich zum Umkehren bewog.

Zu andern Zeiten war noch etwas Anderes dabei. Jetzt spüre ich nicht mehr viel davon; ich lebe so nur hin, so gut ich vermag, habe zwar meistens wenig Gewissheit, ob ich gut lebe und was es eigentlich ist, das mich festhält und behütet; doch kommt es mir vor, als würde ich bewahrt. Wenn ich in meiner Armut, meinem Unvermögen usw. und so, wie ich nun gerade bin, sanft beruhe, dann ist mir, als wenn ich geborgen und in Frieden wäre; ich habe es dann gemächlich und gut, wiewohl ich nicht immer die verschiedenen Wirkungen Gottes spüre; bleibe ich aber nicht in diesem kleinen Punkt meines Nichts, oder suche und will ich etwas außerhalb dem, worin ich bin, dann werde ich, und Alles, was ich tue, wird verwirrt, und ich finde in allen Dingen Dunkelheiten und Mühe, ohne dass ich weiß warum, bis dass ich wieder umkehre. Diese Verwirrung, Mühe usw. sind nun die Dornen, vor denen ich am meisten bewahrt bleibe, wenn ich die wenigste Fähigkeit in mir selbst habe. Ich will indessen gern schwach sein, um nicht außer dem Herrn zu gehen, und damit seine Kraft und Herrlichkeit in meinem Nichts vollkommen werde. Ehre, Dank und Liebe sei unserm guten Gott, der uns treu führt und uns immer gründlicher die Wahrheit unsers Nichts und seines Alles lieben macht! Amen.

Ich bleibe nach herzlichem Gruße

Dein in Liebe verbundener Bruder.

Mülheim, den 15. Januar 1745.