Tersteegen, Gerhard – Briefe in Auswahl – Durch mancherlei innere und äußere Prüfungen lernt man immer mehr, dass man nichts Gutes als Eigentum besitzt, sondern dass unser ganzes Heil in der gänzlichen Abhängigkeit von Gott besteht. Alles, was wahrlich Tugend und Gottesdienst genannt werden soll, muss aus der inwendigen Gemeinschaft mit dem Herrn Jesus entspringen.

In dem Herrn Jesus Christus, der Dich segne, sehr geliebter Bruder!

Da ich an unsern werten Freund N. N. schreiben musste, so konnte ich nicht unterlassen, Dich ebenfalls im Namen des Herrn herzlich zu grüßen. Dein Brief war mir sehr angenehm; ich danke Dir und dem Herrn dafür, der unsre Herzen vereinigt hat und noch ferner vereinigen will in ihm, der unser Haupt ist. Sieh nicht auf meine Person, lieber Bruder, denn ich bin ärmer, als Du und Andere glauben; sich auch nicht auf Dich und Deine Gebrechen. Niemand ist gut als der einzige Gott und die, welche er durch sich selbst gut macht. Wir haben vom Guten nichts Eigenes; all' unser Heil besteht in der bloßen Abhängigkeit vom Herrn; dies erfahren wir aus den mannigfachen Prüfungen von außen und innen je länger, je mehr. Im Anfang ist es gut, sich selbst zu untersuchen und auf sich selbst zu sehen; aber man muss nicht bei sich selbst stehen bleiben, sondern allmählig, mit fortwährendem Absehen von sich selbst, den ganzen Grund seines Vertrauens in den Namen des Herrn Jesus stellen, der oft ein Wohlgefallen darin findet, sich ausnehmend zu verherrlichen in außerordentlich großen Sündern. Und wenn man etwas tun oder reden soll von den Wegen des Herrn, dann ist es noch weniger geraten, auf das eigne Böse oder Gute zu blicken. Der Herr will immer mehr und inniger Alles in uns werden; wir müssen und wollen ihm also Platz machen durch seine Gnade.

Die wahre Heiligkeit und Gottseligkeit wird heut zu Tage in ihrer Reinheit und Kraft wenig erkannt. Diejenigen, welche noch mit einigem Ernst sich danach umsehen, gehen gewöhnlich in sich selbst zu Werke. Das Evangelium ist ihnen nur eine schöne Sittenlehre, da doch Alles auf die Gemeinschaft mit dem Herrn Jesus durch Glauben und Liebe gegründet sein muss. In Jesus ist uns Gott unaussprechlich nahe und in seiner Liebe geneigt; in seinem Blute ist uns ein frischer und lebendiger Weg geöffnet, so dass wir nun fähig sind, auf dem Wege des inwendigen Gebetes einzugehen in das innige Heiligtum von Gottes Gemeinschaft, aus welcher Gemeinschaft entspringen muss Alles, was wahrhaft Tugend und Gottesdienst genannt werden soll. Es ist an der einen Seite sehr wahr, dass man sich selbst und allen Dingen absterben muss, um mit Gott leben zu können; aber an der andern ist es eben so wahr, dass man erst durch die getreue Übung des Annäherns zu Gott, durch inwendiges Gebet und durch Wandeln in seiner Gegenwart recht eins geführt wird in die Wege der Absterbung aus dem Grunde durch den Geist Jesu (Röm. 8, 13. Gal. 5, 16.), was ohne dieses so sehr mangelhaft stattfindet. Lass uns also, Vielgeliebter, von diesem großen Vorrecht rechten Gebrauch machen, und mit einem wahrhaftigen Herzen eingehen in die geöffnete kostbare Gemeinschaft, im Glauben vor seinem Angesicht bleibend, auf ihn wartend und ihm folgend mit Hingebung unseres ganzen Willens und Herzens in seine Hände, auf dass er uns umschaffe nach seinem Herzen und Wohlgefallen. Der Herr ist treu, er wird es auch tun.

Ich grüße und umarme Dich im Geiste der Liebe. Lass uns aneinander gedenken vor und im Herrn, in dem ich bleibe

Dein in Liebe verbundener Bruder.