Tersteegen, Gerhard – Briefe in Auswahl – An einen Freund, der befürchtete, dass die körperliche Schwäche des Schreibers aus seinen geistigen Anstrengungen entspringe, oder aus dem Versagen der nötigen stärkenden Mittel für seinen Körper.

Werter Freund!

Die Bemerkungen über meine Leibesschwäche: Ob mein Körper nicht zu wenig Bewegung habe? ob die geistigen Übungen den Körper nicht noch mehr angreife und: ob ich wohl hinreichende Stärkungsmittel brauche? diese Bemerkungen, die Du mir in Liebe zu überlegen gibst, nehme ich auch in Liebe an; doch kann ich dagegen sagen, dass ich mir viel mehr Bewegung mache, als Du denkst, indem ich viel hin- und herlaufen muss, um meine geringen Dienste dem Nächsten anzubieten und zu erweisen. Dass mein Körper durch geistige Anstrengung geschwächt würde, weiß ich nicht; es müsste denn durch meinen starken Briefwechsel und den Umgang mit Menschen geschehen, was ich nicht immer kann und darf vermeiden; anders wüsste ich nicht, dass ich meinen Körper durch geistige Übel zu viel angriffe. Von dem sogenannten Nachdenken oder Studieren halte ich so sehr viel nicht; ich lege mehr Gewicht auf das Er töten und Beten, weil ich mit der größten Sicherheit weiß, dass man Gott und die Wahrheit nie durch Tätigkeit des Kopfes finden kann, sondern nur durch die des Herzens und der Liebe. Übrigens hat mein Leib, wie ich glaube, keine Ursache zum Klagen; ich will ihm wohl das nötige reichen, damit er dem Geiste dienen könne, aber nicht ihn beherrsche. Fehlt es mir hierin an der nötigen Bescheidenheit, so bekenne ich meine Schuld und bitte Gott um die erforderliche Weisheit; doch man ist heut zu Tage in diesem Stücke nur allzu bescheiden. In der Arbeit für die Welt will man den Körper wohl daran wagen; man wacht und trabt oft ohne Ende, und fragt die Seele nicht einmal, ob sie nicht krank davon wird? Wenn aber die Seele für sich und für die Ewigkeit arbeiten will, dann soll sie fortwährend den Leib (ich hätte beinahe gesagt Fleisch und Blut) um Rat fragen, ob es auch nicht zu viel sei? Bei dem geringsten Schein von Verleugnung findet man, dass die Gesundheit des Körpers darunter leide, der doch in Kurzem eine Speise der Würmer wird. Törichte Furcht! So ungeziemend für einen Nachfolger Jesu! Das Ewige ist mehr wie das Zeitliche, und ein kranker Körper, wenn es dazu kommt, weit erträglicher, als ein strotzender Leib mit einer hinschwindenden Seele. Der Herr erhalte uns treu in diesen unsern letzten Tagen. Ich bleibe

Dein Dich liebender Freund.

Mülheim, den 16. Juni 1735.