Tersteegen, Gerhard – Briefe in Auswahl – Von der wichtigen Umänderung, die der Segen, den Christus bei seiner Himmelfahrt seinen Jüngern erteilte, in diesen bewirkte. Über die Worte: Gehe ein zu deines HErrn Freude (Matth. 25, 21).

In unserm teuren Heiland Jesu herzlich geliebter Bruder!

Es ist mir Bedürfnis, Dich wieder einmal durch einen Brief zu begrüßen; und ich wünsche, dass der Herr Jesus dieses selbst kräftig tun mag, und Dich segne wie Er bei seiner Himmelfahrt mit aufgehobenen Händen seine Jünger segnete. Es ist zu bewundern, welche wesentliche Umänderung dieser Segen des HErrn in den Jüngern hervorbrachte, sie in einem Augenblick aus äußern zu innern, aus sinnlich-guten Menschen zu geistigen Christen machte. Vor demselben mussten sie sehen, hören, fühlen und betasten, wenn sie glauben sollten, und konnten nicht ausdauern ohne die leibliche Gegenwart und das leibhaftige Bild Jesu. Dies war ihre einzige Stütze, und die Süßigkeit, die sie darin fanden, ließ sie die Welt verleugnen, und alle Mühseligkeit willig ertragen. Aber nach diesem Segen vermochten sie auch alles dieses zu entbehren, und konnten, ohne Bild oder Stütze vor Augen zu haben, mit großer Freude hingehen, und zehn Tage still sitzen im Warten auf die unsichtbare, unbegreifliche Kraft des Geistes Jesu, da sie früher ohne die körperliche Gegenwart Christi nicht lange ruhig bleiben konnten, sondern zur Kürzung der Zeit auf den Fischfang ausgingen, ohne etwas zu fangen. Ich wünsche daher, dass unser Heiland uns auch so segne, und uns die Gnade mitteile, ohne Bild und Stütze in Ihm zu fußen, auch bei Entbehrung alles Handgreiflichen im reinen Glauben still wie Kindlein niedersitzen zu können in der Herrlichkeit, Größe und unveränderlichen Seligkeit von unserm Gott und Vater in Christo, ohne uns zu kümmern, wie es mit uns geht und gehen wird. Es ist eine verborgene, aber sehr große Wahrheit, dass unsre Seligkeit ganz in der von Gott enthalten ist. Es gibt auch keine andre, weil niemand aus und an sich selbst gut oder selig sein kann, als Gott allein; aber der HErr muss uns selbst in alle Wahrheit einführen. Dem frommen und getreuen Knecht wurde gesagt: Gehe ein in deines Herrn Freude (Matth. 25, 23). Er wird vorher Freude gehabt haben an seinen Zentnern, vielleicht auch an seiner Güte und Treue.

Aber durch den Eingang in die Freude seines HErrn wurde er vom Knecht zum Kinde, und verließ seine Freude an diesem oder jenem und an sich selbst und die Zentner zurückgebend, empfing er die Freude, die der HErr genießt; doch nein, er empfing sie nicht, sondern er wurde von ihr empfangen, er gab sich ganz hin und ging ein in die Freude, deren er durch die Vereinigung mit dem HErrn teilhaftig wurde, und die er nicht in der Enge des eignen Besitzes, sondern in der Gemeinschaft mit dem HErrn genoss. O, welch ein Raum, Friede und Reichtum liegt in dem gänzlichen Fahrenlassen und Entblößen und in dem Übergang in den Besitz des HErrn! Wenn es dem HErrn gefiele, uns dies in der Wirklichkeit zu gewähren, dann glaube ich, würden wir wieder wie folgsame, unschuldige Kindlein in Ihm, und Er in uns leben können. Er tue, was in seinen Augen wohlgefällig ist, und führe uns auf alle die Wege, die seine göttliche Weisheit weiß, dass sie uns am besten dazu vorbereiten können. Amen, Jesus!

In dem Geiste seiner Liebe grüße und umarme ich Dich, und bleibe

Dein liebender und verbundener Mitbruder.