Tersteegen, Gerhard – Briefe in Auswahl – Zustand tiefer Einsamkeit bei einer Krankheit.

Lieber Bruder in dem HErrn!

Ich glaube, dass Deine Liebe wieder zu wissen verlangt, wie es jetzt seit meinem letzten Briefe mit mir in meiner Schwäche bestellt ist. Es scheint seit wenigen Tagen etwas besser zu gehen, solange es dem HErrn gefällt, so dass ich wieder einen kleinen Brief schreiben kann. Sonderbar ist mir zu Mute gewesen. Zuhören, sprechen, lesen, schreiben, wie wenig auch, griff mich dergestalt an, dass ich alles darangeben musste und auch wollte, indem ich sah, dass es des HErrn Wille war, so dass ich in jeder Hinsicht mich wie ein kleines, zu allem unfähiges Kind fühlte. Gänzliche Einsamkeit war mir ausnehmend erquickend, und die volle Abgeschiedenheit von der Kreatur und Entäußerung aller Stützen in mir selbst und in dem Kreatürlichen führte mich zu einer Einsamkeit mit Gott und der Ewigkeit, in der ich die Wahrheit mit erneuter Kraft empfand. In der Meinung, dass ich sterben würde, geriet ich in Nachdenken über mich selbst, gerade als wenn ich etwas in mir hätte suchen wollen. Aber die Beängstigung, in welche ich dadurch geriet, trieb mich bald wieder zum Umkehren, zum Hinschauen nach Gott allein, in dessen Hände ich mich legte, nur von und in Ihm mein Heil erwartend. Ich musste bleiben was ich war, nämlich ein armes, unwürdiges, nacktes Kind, indem ich die Worte des Psalms (62, 26) bekennen musste: Meine Seele ist stille zu Gott, der mir hilft. Meine Seele harret nur auf Gott; denn Er ist meine Hoffnung. Und dieses, sage ich, versetzte mich in eine Einsamkeit mit Gott, die mir köstlich war, und ich wünsche, dass wir für die kurze Zeit, die wir noch hier auf Erden ausharren müssen, inniger in sie eingeführt und darin festgehalten werden mögen. Wem die Kreatur noch anklebt, wer noch vom Seinigen mitbringt, wer noch Stützen außer sich hat, der ist noch nicht recht einsam bei Gott, der doch allein und für ewig genügt. Gewiss der HErr ist treu und gut, lieber Bruder: er lockt und führt uns in eine Wüste, wo Er freundlich mit uns redet (Hosea 2, 14). Wagen wir es nur mit Ihm, und geben wir uns, ohne umzusehen, im Leben und Tode in seine Hände, unser Heil nur von Ihm erwartend, dann werden wir nicht zu Schanden. Amen, Jesus!

Ich bleibe

Dein
in dem HErrn verbundener Bruder.

Mülheim, den 8. Oktober 1733.