Nach dem kostbaren Ruf der Gnade sehr geliebter Freund!
Dein angenehmer Brief ist mir zu seiner Zeit geworden. Ich bin überzeugt, dass Gott eine Liebesabsicht dabei gehabt hat, dass wir uns diesen Sommer auf einen Augenblick und vielleicht zum ersten- und letzten Mal in dieser Welt gesehen haben. Ich gestehe, dass ich seitdem oft Deiner im Gemüt gedacht habe. Wenn der HErr unser Gott Dir das schenkt, was ich Dir wiederholt herzlich wünsche, dann weiß ich, dass Du seinem Rufe treu bleiben und ein Mensch nach seinem Herzen werden wirst. An Gott wird es nie fehlen; was soll Er mehr tun, als Er tut? Er hat uns seinen Sohn gegeben zur Versöhnung unsrer Sünden; Er ruft uns aus Lauter Güte zu sich durch seine Gnade in unserm Herzen, und Er ist unaussprechlich bereitwillig, uns aus unsrer Verdorbenheit herauszuziehen und in seine Gemeinschaft zu führen, wenn wir nur unsren ganzen Willen unwiderruflich in seine Hände legen. Dahin muss es kommen und dabei muss es bleiben, oder wir genügen weder Gott noch uns, und sitzen vor wie nach in der Enge. Ein Christ ist entweder eine sehr wichtige Sache, oder gar nichts. Diese volle und ewige Hingebung an Gott, wo man wie ein Sterbender seine Augen allem Leben in der Kreatur und in sich selbst schließt, um dem Rufe Gottes, es koste was es wolle, zu folgen und Gott allein als sein Anteil zu erwählen, dies, sage ich, ist höchst wichtig, aber auch durchaus notwendig. Zwar ist es eine schwere, schmerzliche Handlung für die menschliche Natur und für die Eigenliebe, die aber dem beschwerlicher fällt, der noch unentschieden vor ihrer Ausführung steht, als dem, der sie verrichten will und ausführt, und die dem Geiste Freiheit und Frieden verleihet, wenn sie getan und gut getan ist. Lass uns, mein Freund, tapfer und mit ungeheuchelter Aufrichtigkeit auf die Seite Gottes gegen uns selbst treten, und dem gekreuzigten Jesus folgen, ohne zurückzusehen; der HErr wird uns schon durchhelfen. Folge Jesu und bekümmere Dich nicht um das, was andere tun; verurteile niemanden; aber richte auch nach keinem andern Deine Gottseligkeit; gib Dich in die Hände des HErrn, wie einen weichen Ton in die Hand des Töpfers, dass Er Dich selbst forme, und aus Dir mache, was Ihm gefällt. Du darfst weder im Auswendigen noch im Geistigen Deinem natürlichen Leben und Deiner natürlichen Tüchtigkeit zu viel nachgeben, und verwickle Dich nicht ohne wirkliche Notwendigkeit in zu viele Geschäfte. Ich kenne Deine Arbeiten nicht, noch weniger Deine Lebensweise und Lage, aber das weiß ich, dass der am ruhigsten und sichersten lebt, der am wenigsten mit der Welt und weltlichen Dingen zu schaffen hat, die so leicht das Herz und die Andacht zerstreuen, und das zarte, geistige Leben unterdrücken. Was wir im Zeitlichen tun und verrichten müssen, wird allgemach ein Gottesdienst, wenn wir es stets mit einer lauteren Absicht dem HErrn opfern. Lerne bei Dir selbst das Licht, welches Du durch Deinen Verstand empfängst, wohl _unterscheiden von dem Eindruck und der Berührung, die Du abwechselnd in Deinem Herzen spürst. Diese letzteren müssen durch Stille, Gebet und mit Treue gepflegt werden. Je stärker dein Herz sich getroffen fühlt, desto schöner wird sich zuweilen das Licht dieser oder jener Wahrheiten in Deinem Verstand spiegeln; lass Dich aber nicht von dieser Schönheit zu sehr verlocken, bleibe nicht dabei stehen; sie soll allein Dein Herz erwärmen, um Dich abermals und um so inniger dem HErrn zu übergeben. Uns selbst und allen Dingen absterben und ganz vor Gott zu leben, sei unser einziges Streben und Ziel. Ich grüße Dich herzlich und bleibe durch Gottes Gnade
Dein
Dich liebender Freund und Mitkämpfer.
Mülheim, den 16. Dezember 1735.