Tersteegen, Gerhard – Briefe in Auswahl – Die reine Liebe zu Gott erhebt uns über all unser Elend, da sie zu Gott hinführt, der der Gegenstand unsrer völligen Erwartung und unser Vorrat in unserm Mangel ist.

In Jesu, der unser Leben und alles sei, sehr werte und herzlich geliebte Schwester!

Deinen mir angenehmen Brief vom 20. September habe ich richtig erhalten und sage von Herzen Amen auf Deine Wünsche und auf die von Dir ausgesprochenen Wahrheiten. Der HErr vollbringe in und durch uns alles, was seinem Willen wohlgefällt, und erfülle uns und all unser Tun und Leiden mit seiner göttlichen Liebe, ohne welche wir und alles, was wir haben und verrichten, tot und ganz ohne Wert sind! Jede Sache wirkt nach ihrer Beschaffenheit, und jeder Baum trägt Früchte nach seiner Art. Was ist der Mensch an und für sich selbst? was hat er? was ist sein Tun? Ist nicht alles menschlich? d. h. sehr gering und unlauter, wenn nicht ein anderes Leben, nämlich die reine Liebe zu Gott zu Grund liegt. Das beste ist Schein und Prunkwerk, von dem in der Feuerprobe nichts offenbar wird. Ich denke an 1. Kor. 3, 13. Ich weiß zwar nicht recht, liebe Schwester, warum ich dieses schreibe; aber so viel ist wahr, dass ich seit einiger Zeit die Wahrheit von der Schönheit und Reinheit der Liebe Gottes viel mit mir herumgetragen habe und darauf hingewiesen werde. Ich sehe den Menschen so versunken und gefangen in sich selbst, er arbeitet und wühlt in sich selbst, er kommt nicht empor noch überwindet er das Hindernis, und in und für sich selbst suchend, findet er kein wahrhaftiges Gut und keine bleibende Ruhe, sondern bleibt versunken und gefangen in sich selbst, immer im Elende. Er muss niedersinken, warten und Platz machen der Kraft, die aus seinem Unvermögen, dem Guten, das aus der Erkenntnis seines Bösen, und dem Leben, das aus dem Tode seines Ichs durch die Gnade in Ihm geboren wird: und das ist die reine Liebe Gottes, die der Herr Jesus mitteilt. Diese göttliche Liebe allein kann uns aus uns selbst bringen und über all unser Elend erheben, weil sie uns selbst vergessen lässt und uns zu Gott führt, indem sie Ihn zum Gegenstand unsrer völligen Erwartung, Ihn zu unserm Vorrat mitten in unserm Mangel macht und in Ihm allein ruht. Diese Liebe ist und macht frei, einfältig, ruhig und rein; sie ist wie ein lauterer Strom des lebendigen Wassers klar wie Kristall (Offenb. 22, 1), der alles auswirft, was nicht von Gott kommt, und der wieder rein zu Ihm zurückfließt. Dieses lebendige Wasser entspringt aus und führt wieder zu dem Stuhle Gottes und des Lammes; denn aus Ihm und zu Ihm sind alle Dinge, welche die Armen im Geist haben. Ihm sei die Ehre in Ewigkeit! Amen.

Dies ist dann noch so meine Arbeit ohne Arbeit, dass ich in meinem Nichts und meiner Armut ruhe, indem ich bloß wünsche, in und durch diese Liebe zu leben. Jetzt scheine ich so auszusehen, dann wieder anders; jetzt stelle ich einigermaßen einen Held vor, und dann bin ich wieder in Armut und Schwäche, so dass ich Mitleiden mit mir selbst bekommen würde, wenn ich dabei stehen bleiben wollte. Aber dem HErrn sei Dank, dass Er mir dies nicht lange erlaubt, und in meinem Herzen eine köstliche Freude erweckt an dem, was er ist, und dass er es allein ist. Nun, meine liebe Schwester, ich weiß Dir dann auch nichts Besseres zu wünschen, als dass diese göttliche Liebe Dein Herz und Leben beseele! Erflehe dasselbe auch für mich, wenn es Dir eingegeben wird; mir scheint, die Liebe muss Dich dazu verpflichten, weil Du nicht so viel mit Menschen und allerlei Menschen umzugehen brauchst, wie ich, der ich doch so gebrechlich und blind bin. Ich bleibe durch die Gnade

Dein schwacher aber treuverbundener Bruder.

Mülheim, den 11. Oktober 1746.