Taube, Emil Heinrich - Psalm 133.

Dies kleine Lied ist ein köstlicher Edelstein unter den Stufenliedern und schildert den lieblichen Segen des brüderlichen Zusammenseins. Es hat nach der Überschrift den zum Verfasser, der nicht nur dies traute Liebesleben dem Volke Gottes in seiner Freundschaft mit Jonathan vorgelebt und im 122. Psalm ermunternd vorgesungen hat, sondern ihm auch mit der Aufstellung der Bundeslade in Zion seine eigentliche Brunnenkammer wieder erschlossen hat. Daher ist es auch ein gottesdienstliches Festlied und preist die Eintracht, wie sie in Zion zu Hause ist und an den hohen Festtagen zum wonnereichen Ausdrucke kam. Frisch und ursprünglich, zart und weich, wie der Duft des Balsams und die Perlen des Taues bewegt sich das Lied in einer achtzeiligen Strophe dahin.

V. 1. Ein Wallfahrtslied Davids. Siehe, wie fein und lieblich ist es, dass Brüder auch zusammenwohnen! V. 2. Wie das feine Öl auf dem Haupte, herabfließend auf den Bart, den Bart Aarons, der herabwallt auf den Saum seines Kleides; V. 3. Wie Hermonstau, der herabfließt auf die Berge Zions; denn dort hat entboten der Herr den Segen, Leben in Ewigkeit.

Hier ist von „Brüdern“ die Rede und darauf liegt ein besonderer Akzent. Israel stand schon nationalerseits in Blutsverwandtschaft, aber das tiefste und innigste Band hatte es in der göttlichen Erwählung, in der gemeinsamen Berufung zum auserwählten Volk des Herrn. Und weil nun alle und jede Gemeinschaft zu ihrer Betätigung und praktischen Erweisung einen Vereinigungspunkt bedarf, so hatte der Herr Jerusalem mit dem Berge Zion, wo Er für die Herrlichkeit Seiner Gnadenoffenbarung Feuer und Herd hatte, zum Sammelpunkte Seines Volkes ausersehen. Mit welch' einem wonnereichen Jauchzen mag Israel unter dem Gesange seiner Wallfahrtslieder den heiligen Berg hinangezogen sein; da hat es, wie dieses Lied bezeugt, etwas geschmeckt von der „Gemeinschaft der Heiligen“! Und doch wandelte es nur erst noch unter den Vorbildern, wir aber wandeln unter den aufgedeckten Heiligtümern, wir stehen im Genuss Seines vollen Opfersegens, der den Grund zur Sammlung aller zerstreuten Gotteskinder gelegt (Joh. 11, 52) und die große Lebensschuld der Lieblosigkeit in die Tiefe des Meeres versenkt hat (Jes. 53, 6); wir können heil werden von dem bösen Grundschaden der Sünde, von der Selbstsucht, die das Ihre sucht, und neu werden durch den h. Geist, der die Liebe Gottes ausgießt in unsre Herzen (Röm. 5, 5), also dass die aus Gott Geborenen nicht nur den lieben, der sie geboren hat, sondern auch den, der von Ihm geboren ist (1. Joh. 5, 1) wie sollten wir zur Seligkeit des Liebeslebens Berufene nicht mit Paulo den hehren Lobgesang der Liebe (1. Kor. 13) anstimmen können? Israels Liedlein kann uns aber in beschämender Weise noch heute lehren. Es hebt an mit dem Wörtlein: „Siehe“, jenem bekannten Herzwecker des h. Geistes, der überall da in der Schrift steht, wo es etwas recht Wichtiges und Exemplarisches gilt, das nicht übersehen werden darf. Nun, hier gilt es das Höchste und Wichtigste, ohne welches unser ganzes Christentum nur ein tönend Erz und eine klingende Schelle ist (1. Kor. 13, 1), das Herzblatt in Gottes eigenstem Wesen; denn Gott ist die Liebe und die Liebe ist von Gott. (1. Joh. 4, 7. 8.) Sehr bezeichnend setzt David das Feine und Liebliche der brüderlichen Liebe darein, dass Brüder auch bei einander wohnen. Da liegt der Prüfstein der wahren Liebe; denn das momentane Sehen, Sprechen, Herbergen, wobei die beiderseitigen Schwächen und Gebrechen sich noch verbergen oder verdeckt werden, macht es nicht, sondern das längere Beisammensein, das tägliche Gemeinschaftsleben, wo über lang oder kurz der eigentliche und ganze Mensch, wie er ist, mit all' seinen Runzeln und Flecken zu Tage kommt, offenbart erst die nimmer aufhörende, weil Alles vertragende, Alles glaubende, Alles hoffende, Alles duldende Liebe. (1. Kor. 13, 7. 8.) Zur Veranschaulichung des feinen und lieblichen Wesens im brüderlichen Zusammensein braucht der D. zwei Gleichnisse, das erste nimmt er von der h. Salbung des Hohepriesters Aaron, das andre vom Tau her. Beide sind zunächst darin eins, dass sie von Oben her kommen, also göttlichen Ursprungs sind. Der Tau ist eine Gabe Gottes (1. Mos. 27, 28; Hiob 38, 28) und das heilige Salböl, womit der Hohepriester Aaron, und nur dieser, am Tage seiner hohepriesterlichen Weihe gesalbt wurde, war sowohl nach seiner Zubereitung wie nach seiner spezifischen Verwendung ausdrücklich von Gott verordnet. (2. Mos. 30, 31-33.) So ist auch die hier verstandene und gepriesene Liebe nicht von Unten, von der Welt her oder aus Fleisch und Blut, sondern Gnadengabe von Oben, wie auch der Begriff des „Herabfließens“ veranschaulichen will. Sodann aber hat jedes der beiden Gleichnisse seine besonderen markanten Rüge. Die göttliche Vorschrift in Bezug auf das Salböl sonderte einerseits dasselbe als eine „heilige“ Salbe aus, welche nur für diesen Zweck und sonst nimmer weder gemacht noch auf einen Menschenleib gegossen werden durfte, und befahl andrerseits die Zumischung von vier kostbaren Aromen zu diesem feinen Olivenöl. Es fragt sich: worin ruht die tiefe Symbolik dieser Ingredienzien in Bezug auf den Gegenstand unsres Liedes? Wenn das Salböl durch die ganze Schrift hindurch in seiner Ausgießung das Symbol der Mitteilung des Heiligen Geistes ist, und diese Ausgießung hier an Aaron in so reicher Fülle hervorgehoben wird, dass es vom Haupte herabfließt über den ganzen, den oberen Saum des Gewandes noch bedeckenden ehrwürdigen Bart; wenn ferner gerade bei dieser Salbung Aarons, die hier zum Gleichnis gebraucht wird, zum Öl noch vier der feinsten Wohlgerüche traten, und das Ganze in seiner harmonischen Verschmelzung den lieblichsten Geruch durch das Heiligtum verbreitete, so liegen für die Anwendung die Grundgedanken nahe: das wahrhafte Liebesleben ist ein göttlich gewirktes, heiliges Gemeinschaftsleben, seine Grundsubstanz ist Geist vom heiligen Geist, der die Liebe Gottes in die Menschenherzen ausgießt und von der Selbstsucht erlöst, das Aroma ist die Blume der Individualität in ihrer Eigenart, das vierfache Aroma (Vier ist die Zahl der Fülle, wie des Weltganzen) ist in der Vereinigung mit jener Grundsubstanz das harmonische Zusammentreten und Ineinanderfließen der nunmehr verklärten und geheiligten persönlichen Gaben und Eigentümlichkeiten, so dass das Ganze eine kostbare, in sich reiche Spezerei voll des lieblichsten Wohlgeruches ist. So lange jenes Salböl des heiligen Geistes dem Menschen fehlt, ist kein wahres Gemeinschafts- und Liebesleben möglich, die Individualitäten haben zwar ihren eigentümlichen Duft, aber sie fixieren sich in ihrer Einseitigkeit und stoßen sich darum gegenseitig ab; erst die Liebe des Geistes bringt Einigkeit, welche nicht Einförmigkeit, sondern Einheit mitten in der Mannigfaltigkeit ist durch die holdselige Eintracht aller Glieder. Das ist V. 2 im Lichte des Alten und des Neuen Testamentes betrachtet. (Eph. K. 4, 1-7.) Das zweite Gleichnis zielt schon mehr auf den Segenseindruck hin, den das brüderliche Zusammenwohnen auf die Beteiligten macht und der als ein göttlich geschenkter Zionssegen erkannt und bekannt wird. Der Tau, dies wonnige Kind aus dem Schoße der Morgenröte (Ps. 110, 3), der sich auf Hermons waldige Höhen in besonders reichem Maße niederlässt, dient zum Bilde der lebensvollen Erfrischung und himmlischen Erquickung, welche Gottes Volk über dem festlichen Gemeinschaftssegen in Zion empfängt. Wiewohl irdisch vermittelt, erscheint die urfrische Lebensspende in den zahllosen Tautropfen als ein Geheimnis göttlichen Gnadensegens, das die dürre Flur mit sehnlicher Begierde einsaugt, und gleich also ist es mit dem Segen der belebenden Liebe in Zion. Wie wenig bringt der Einzelne herzu, ein demütig und lechzend Herz, wie die Blume des Feldes, und sie Alle mit einander sind eine einmütig harrende Gemeinde, aber das geheimnisvolle Etwas, das Faktotum dabei ist die Licht, Leben und Liebe von sich aussprießende und herniederträufelnde Gnadengegenwart des Zionsgottes, ist der Herr, der der Geist ist, der hier in Zion es mit der Erstlingsgabe bezeugte: „Ich will Israel ein Tau sein“ (Hos. 14, 6), und dort zu Jerusalem sich in der Fülle auf die einmütige Brüderschaar herniederließ. (Apstg. 2, 1-4.) Seine gnadenreiche Nähe ist die volle Segensentbietung (Matth. 18, 20) und diese wieder nach ihrem innersten Kerne Gottes eignes und ewiges Leben in der Liebe. (Joh. 17, 23. 26.)