Taube, Emil Heinrich - Psalm 130.

Dieses Lied, das man wegen seines grundevangelischen Inhaltes einen neutestamentlichen, oder, wie Luther sagt, Paulinischen Psalmen nennen könnte, beschreibt den königlichen Weg aus der Tiefe in die Höhe, aus der Tiefe des Sündenelends auf die Höhe des Erlösungstrostes. Dieser Weg skizziert sich näher so: aus der Tiefe kommt die flehentliche Bitte (V. 1 u. 2); zur Höhe trägt allein die Vergebungsgnade Gottes (V. 3 u. 4); auf der Höhe lernt man stilles Harren auf den Herrn und Sein Wort (V. 5 u. 6), und freudiges Hoffen auf die reiche und völlige Erlösung Seines Volks. (V. 7 u. 8.) Formell teilt sich der Psalm in zwei vierzeilige und zwei fünfzeilige Strophen; in Betreff der Abfassungszeit weisen verschiedene Ausdrücke auf eine späte Zeit hin.

V. 1. Ein Wallfahrtslied. Aus der Tiefe rufe ich Dich, Herr. V. 2. Herr, höre auf meine Stimme, lass Deine Ohren merken auf die Stimme meines Flehens. V. 3. So Du willst, Herr, Sünde behalten Herr, wer wird bestehen? V. 4. Denn bei Dir ist die Vergebung, auf dass Du gefürchtet werdest. „Aus der Tiefe“ ruft hier ein Herz den Herrn - was ist das für eine Tiefe? Luther legt's in seinem aus diesem Psalm gezeugten Liede sofort trefflich aus, wenn er anhebt zu singen: „Aus tiefer Not schrei ich zu Dir.“ Wenn in der Schrift der Zustand tiefer, bitterer Not geschildert wird, so geschieht es zumeist unter dem Gleichnis großer Wassertiefen, in denen der Elende zu versinken droht. So im 69. Psalm: „Das Wasser geht mir bis an die Seele, ich versinke im Schlamm, da kein Grund ist und die Flut will mich ersäufen.“ Es kann schon irdische, leibliche Not tief, recht tief sein, aber die tiefste ist es nicht, weil der legte, eigentliche Grund der Not wo anders, nämlich in der menschlichen Sünde ruht; sie ist das Elend im Elend, sie ist die tiefste Not. Sehr wahr sagt darum ein neuerer Zeuge des Worts: „Das andere Wehe bleibt mehr in den Gliedern hängen; sie dagegen drängt sich in den tiefsten Sitz des Lebens, in das Herz; das andre Wehe rauscht, wenngleich noch so gewaltig, doch nur in den Zweigen, sie dagegen frisst sich in die tiefste Wurzel des Lebens, in den Glauben; das andre Wehe, sei es das langwierigste, verrinnt in dem Sande der Zeit, sie dagegen ergießt sich in tiefste Ferne des Lebens, in die Ewigkeit.“ (Dräseke.) Je tiefer aber die Not, desto brünstiger das Rufen, wie die flehentlichen und gehäuften Seufzer kundtun. Zum Rufen und Schreien treibt alle Not; es kommt aber darauf an, wen wir rufen. Menschen rufen, das heißt zur Ohnmacht und zur Hartherzigkeit gehen, den Herrn rufen, das heißt zur Allmacht und zur Barmherzigkeit gehen. Das weiß der Psalmist sehr wohl, darum ruft er den ewigen Gott bei den beiden Namen, die Seine Allmacht (Adonai) und Seine Barmherzigkeit (Jehovah) im Brustschilde tragen. Dieser Gott sieht nicht nur alles Weh der Menschenkinder, sondern steigt zu ihrer Tiefe herab, um es mit ihnen zu fühlen, Er hört nicht nur alle ihre Seufzer, sondern Er erhört sie auch, wo sie Ihn mit bußfertigem Glauben darum bitten. Da liegt der Schwerpunkt und zugleich der Grund, warum so viele Gebete erfolglos bleiben. Man bittet wohl, aber ohne Bußbezeugung wie will man denn im Glauben bitten und die Bitte haben, die man von Ihm gebeten hat? Das böse Ding: „Da ich es wollte verschweigen“, das selbst einem David so viel zu schaffen machte, ist trotz der herben Zucht der Not, trotz des vom Gewissen vorgehaltenen Schuldbriefs der verborgene Bann, der eiserne Riegel, der das Herz immer wieder verschließt. Hier öffnet sich ein Herz klar und wahr aus dem Grunde heraus vor seinem Gott und bekennt: So Du willst, Herr, Sünde behalten Herr, wer wird bestehen?“ Das heißt voll ausbeichten, nicht die oder jene Sünde, sondern alle Sünde mit dem Einen, mit dem vor Gottes Richteraugen durch und durch verdammlichen Sündergemächt bekennen. Und nicht nur das, die Worte schließen zugleich den durchbrennenden Schmerz der Sündenschuld und einer so ahndungsschweren Strafwürdigkeit vor Gott in sich, dass ein Bestehen und Bleiben vor Seiner unwandelbaren Heiligkeit nicht zu denken ist, sondern dass Sein Urteil nur auf ewige Verwerfung lauten kann. In diese Tiefen der göttlichen Gerechtigkeit und der eignen Verlorenheit reicht kein Senkblei menschlicher Vernunft, wohl aber die tief durchbohrende Schwertesspitze eines zerbrochenen Herzens. Und doch hebt hier schon mitten in der Tiefe der Weg zur Höhe an; die schmerzensreiche Frage des Psalmisten in V. 3 trägt schon eine gar tröstliche Antwort in sich, auf welche sich dann V. 4 bezieht und näher einlässt. Die Namen Jehovah und Adonai sind hierbei wieder von großem Gewicht und zwar leuchtet der Jehovahname als die helle Sonne einer andern, als der nackten Gerechtigkeit voran, so dass der tiefste Sinn der Frage der heiligst-ernste und doch so trostreiche ist: Jehovah, wenn Du Sünde behältst d. h. nach Deinem uns geoffenbarten, gnadenreichen Herzen behalten kannst wer wird dann, Adonai, bestehen, wer kann dann Deinem Zorn entfliehen, Du majestätischer Gott?! Hinter diesem konditionalen1): „Wenn Du behalten willst“ verbirgt sich auf dem Grunde des Jehovahnamens die selige Erkenntnis des Glaubens: Du kannst es nicht wollen, das verbürgt die Herrlichkeit Deines Namens. Und daran schließen sich als die Auslegung dieses Namens, als das Herzblatt seiner geoffenbarten Herrlichkeit die Worte der Begründung: „Denn bei Dir ist die Vergebung, auf dass Du gefürchtet werdest.“ Man sieht also, wie in einem aufrichtig bekennenden Herzen neben der tiefsten Beugung unter die heilige Majestät Gottes ein Vertrauen auf die Barmherzigkeit Gottes aufkommt, das nicht zu Schanden werden lässt, wie das bittere, selbst den Hauch von eigner Gerechtigkeit wegätzende Salz der Buße vom Öl des Glaubens temperiert wird, dass es nicht zum Verzagen kommt. Das ist der geheimnisvolle Punkt, wo sich der warme Tränenquell eines Petrus von den eisigen Tränen eines Judas scheidet, wo das Bekenntnis der freien Gnade Gottes lauter und rein ausgeboren wird und das große Wort, das sie verkündet, das Wort „Vergebung der Sünden“ in das rechte Licht und Gewicht fällt. Der Beisatz aber: „auf dass Du gefürchtet werdest“ will in seiner Zweckbeziehung zur Vergebungsgnade die tiefe, echt evangelische Wahrheit zum Ausdruck bringen, dass die rechte Furcht Gottes nicht die knechtische, peinvolle vor dem gestrengen Gott, sondern die kindliche, die dankbar selige ist, die frei und treu aus einem von der erbarmenden Liebe Gottes, von dem Gotte der Erlösung besiegten Herzen quillt. (Röm. 8,15; Gal. 4,4-7.) Diese Furcht Gottes begreift den gesamten Schrankenlauf in Gottes Geboten und Zeugnissen, Sitten und Rechten in sich als eine Verherrlichung Seines großen Namens (Ps. 86,5.11), und will dasselbige sagen, was Paulus Röm. 8,1 bezeugt: „So ist nun nichts Verdammliches an denen, die in Christo Jesu sind, die nicht nach dem Fleisch wandeln, sondern nach dem Geist.“

V. 5. Ich harre des Herrn, meine Seele harrt, und ich hoffe auf Sein Wort. V. 6. Meine Seele (ist gerichtet) auf den Herrn, mehr denn Wachende auf den Morgen, Wachende auf den Morgen. V. 7. Hoffe, Israel, auf den Herrn, denn bei dem Herrn ist die Gnade und viel Erlösung bei Ihm. V. 8. Und Er wird Israel erlösen aus allen seinen Sünden. Mit dem Glauben an die göttliche Vergebungsgnade tritt nicht zugleich auch das Gefühl und die Erfahrung derselben ein, namentlich wenn die Wasser der Trübsal hoch gehen. Zwar ist es der Glaube, der uns die Gnade Gottes aneignet, aber die Versicherung und Vergewisserung derselben will in der Not, die so viel Abtreibendes und Entzweiendes mit sich bringt, nicht recht anwurzeln. Zu dem hat Gott auch Seine Stunden, und Gottes Zeit ist gemeiniglich so weit entfernt von unsrer Zeit, wie Gottes Gedanken und Wege von unsern Gedanken und Wegen. (Jes. 55,8.9.) Wir begehren darum gern ein Zeichen und Siegel der Gnade in der Hilfe Gottes, doch Gott verziehet oft mit Beiden. Warum? Der Glaube soll nach der göttlichen Erziehungsweisheit das Warten lernen, und kann es auch nach dem Maße der empfangenen Gnade, wie hier dieser Evangelist unter den Sängern so treu und ernstlich bezeugt. (V. 5 u. 6.) Glaube und Geduld der Heiligen wollen zusammenstehen, und die Letztere ist die Bewährung des Ersteren. Hierüber schreibt Luther die goldenen Worte: „Er spricht: ich habe Gottes gewartet, d. i. in diesem Geschrei und Kreuze bin ich nicht zurückgelaufen oder gezweifelt, sondern Gottes Gnade, die ich begehrt habe, deren harre und warte ich, wenn es meinem Gott gefällt, mir zu helfen. Nun sind etliche, die wollen Gott das Ziel, Weise, Zeit und Maß legen, und Ihm selbst gleich vorschlagen, wie sie sich wollen geholfen haben, und wenn sie ihnen nicht so widerfährt, verzagen sie, oder, so sie mögen, suchen sie anderweit Hilfe: diese harren nicht, sie warten Gottes nicht; Gott soll ihrer warten und alsbald bereit sein, wie sie es abgemacht haben und nicht anders. Die aber Gottes warten, die bitten Gnade, aber stellen es frei zu Gottes gutem Willen, wann, wie, wo und durch was Er ihnen helfen will; an der Hilfe zweifeln sie nicht, geben ihr auch den Namen nicht, sie lassen sie Gott taufen und nennen, und sollte es auch lange ohne Maß verzogen werden. Wer aber der Hilfe einen Namen gibt, dem wird sie nicht, denn er wartet und leidet Gottes Rat, Willen und Verziehen nicht.“ So will denn also gewartet sein, andauernd, brünstig gewartet sein, mehr denn die Nachtwachenden auf den Morgen doch wie geschieht das? Wer da weiß, wie leicht uns über dem Warten gerade das eigne Herz durch den Reiz zur Ungeduld oder durch allerhand Träume und Einbildungen dazwischen fährt und irre macht; wer da weiß, wie bald wir beim Ausgehen der Naturkraft, beim Wegfall oder Eintritt bestimmter Erscheinungen das Vertrauen wegwerfen, dem möchte dieses Harren als ein Ding der Unmöglichkeit erscheinen. Doch der Psalmist kennt und nennt den Kompass, der den Schiffer, auch wenn er den Polarstern nicht sieht, sicher durch die brandenden Wogen zum rechten Ziele führt es ist das Wort des Herrn: „ich hoffe auf Sein Wort“. Wider des Augenscheines drohendes Nein, wider des Feindes lügenhaftes Einsprechen, wider des eigenen Herzens Gedanken und Empfindungen, als wäre keine Gnade zur Vergebung und keine Hilfe da, soll mir dein Wort gewisser sein. Ohne Wort hoffen und glauben, heißt Gott versuchen“, spricht Luther sehr wahr, aber trotz des Wortes nicht hoffen und glauben, heißt Gott verachten; denn es sind alle Gottesverheißungen Ja und Amen in Ihm. Darum ruft der Psalmist am Schlusse des Liedes das seinem Volke zu, was er selbst von Gottes Gnade durch Gottes Gnade erfahren hat, dies, dass es nur getrost auf den Herrn hoffen möge; denn es sei ein Reichtum von Gnade und Erlösung bei Ihm. Dass Gnade da ist, dass es nicht nach Recht und Verdruss und Vergeltung geht bei Gott, das ist der Kern und Stern des Hoffens für ein armes Sünderherz, es ist das blinkende Sternlein am Himmel, zu dem es aus seiner tiefen Nacht emporschaut; dass aber Erlösung für dasselbe bei Ihm vorhanden ist, innerliche Befreiung vom Druck der Schuld und des bösen Gewissens, sowie von der Herrschaft der Sünde, und zwar viel Erlösung, Erlösung für Viele und von Vielem in einem Jeden, das war der alten Väter Schar höchster Wunsch und Sehnen, das war das feste, prophetische Wort, das da schien an einem dunklen Ort bis zum Anbruch des Tages und Aufgang des Morgensterns in ihren Herzen. Was Wunder, dass wir hier in diesem Psalm, der gesungen ist, als die Rüstzeit des Alten Bundes schon sich neigte, das königliche Lied in die große Hoffnung ausklingen hören: „Er wird Israel erlösen aus allen seinen Sünden“! Es ist die Hoffnung, die wir mit ihm teilen, die Hoffnung auf die letzte, völlige Erlösung, die Aushilfe zu Seinem ewigen, himmlischen Reich, davon die letzten Blätter der Schrift so glorios zu reden wissen: Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen; und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid, noch Geschrei, noch Schmerzen wird mehr sein; denn das erste ist vergangen. (Offenb. 21,4.) Eia, wären wir da!

1)
eine Bedingung kennzeichnend; bedingend